Aus den Ländern

Arzneimittel und das Meer

Biennale der DGGP in Bremen

BREMEN (cae) | Die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (DGGP) veranstaltete ihren zweijährlichen Hauptkongress, die Biennale, vom 11. bis 13. April in Bremen. Die traditionsreiche Hafenstadt bot die Kulisse für Vorträge über Arzneimittel aus Übersee, die Arzneiversorgung auf See und die Gewinnung von Arzneien aus dem Meer.

Die europäische Expansion nach Übersee

Das Meer setzt dem Menschen Grenzen, die er jedoch überwinden kann. Einen Antrieb dafür bildete seit jeher der Erwerb von Waren, die es an Ort und Stelle nicht gab und die auf dem Landweg schlecht oder gar nicht zu beschaffen waren. Die Erschließung des Seeweges nach Indien und – als zufälliges Nebenprodukt, das aber schnell mindestens ebenso bedeutsam wurde – die Entdeckung Amerikas führten erstmals in der Geschichte der Menschheit zu einer Globalisierung. Prof. Dr. Sabine Anagnostou, Marburg, Präsidentin der DGGP, legte dar, wie sich die europäische Expansion über den gesamten Erdball auf die Pharmazie ausgewirkt hat.

Foto: DAZ/cae
Etwa 200 Personen nahmen an der Biennale 2014 teil. Vorn die Altpräsidenten der DGGP Dr. Gerald Schröder und Dr. Klaus Meyer (1. Reihe, 1. und 4. v.l.) sowie Prof. Dr. Frank Leimkugel und Prof. Dr. Christoph Friedrich (2. Reihe, 1. und 2. v.r.).

Erstaunlicherweise haben sich die Europäer den Arzneischatz der indigenen Völker nur sehr bruchstückhaft angeeignet. Tabak, Chinarinde, Jaborandi oder Ipecacuanha sind bekannte Beispiele dafür, doch die große Masse der traditionellen Heilpflanzen – die heutige Volksmedizin Mexikos kennt etwa 30.000 – haben sie ignoriert. Zum Teil waren aber auch die Erwartungen der Europäer überzogen: So wurde das Guajakholz euphorisch als Antisyphilitikum empfohlen, erwies sich dann aber als wirkungslos. Anagnostou hält es für möglich, in der Gegenwart manches, was in der frühen Neuzeit versäumt wurde, nachzuholen: Das Studium alter Schriften über Arzneipflanzen und Heilweisen indigener Völker, die seit dem 16. Jahrhundert verfasst wurden, könnten zu neuen Entwicklungen in der modernen Phytotherapie führen.

Die wissenschaftliche Eroberung der Meere

Foto: DAZ/cae
Wahrzeichen von Bremen: Der steinerne Roland vor dem Rathaus (rechts) und der Raths-Apotheke.

Die Seefahrt hatte immer etwas Abenteuerliches an sich, denn für den Durchschnittsmenschen war das Meer ein Ort des Schreckens, ein „locus horribilis“, dessen Naturgewalten er sich hilflos ausgeliefert sah. Mit dem Fortschritt der Naturerkenntnis und im Geiste der Aufklärung wandelte sich auch die Sicht auf das Meer: Es wurde zu einem „erhabenen“ Ort, vor dem man zwar Respekt hatte, den man aber zu erforschen begann wie andere Naturphänomene auch; damit nahm man ihm zugleich den irrationalen Schrecken, es war eine Art Entzauberung im positiven Sinne. Eine Pioniertat für diese Bestrebungen war der Reisebericht von Georg Forster (1754–1794), der an der zweiten Weltumseglung von James Cook teilgenommen hatte. Wie der Vizepräsident der DGGP, Dr. Dr. Thomas Richter, Würzburg, ausführte, stellt Forsters Bericht einen Paradigmenwandel in der Reiseliteratur dar: Nicht mehr das Abenteuer oder das Kuriose stand im Vordergrund, sondern die Vermittlung neuer Erkenntnisse im Rahmen der bestehenden Wissenschaften wie Physik, Chemie und Biologie. Von Forster angeregt, plante Alexander von Humboldt (1769–1859) seine Forschungsreise nach Lateinamerika, die keine politischen Hintergründe hatte, sondern ausschließlich dem Erkenntnisgewinn dienen sollte und auch für die Pharmazie fruchtbar wurde. So hat von Humboldt die Gewinnung und Anwendung des Pfeilgiftes Curare geschildert.

Zitronensaft – ein lange verkanntes Antiskorbutikum

Wegen der riesigen Entfernungen und ungünstiger Windverhältnisse waren die Segelschiffe meistens monatelang auf den Ozeanen unterwegs, bevor sie wieder in einen Hafen einlaufen konnten. Entsprechend mussten die Schiffe mit Proviant, Trinkwasser und auch mit Arzneimitteln versorgt werden. Wie Prof. Dr. Irmgard Müller, Bochum, berichtete, hat John Woodall (1570–1643), Oberchirurg der englischen East India Company, bereits 1617 ein Handbuch für Schiffschirurgen verfasst und drucken lassen; es war das erste seiner Art und entwickelte sich mit vielen Auflagen zu einem Standardwerk. Woodall beschrieb neben den erforderlichen chirurgischen Instrumenten eine Schiffsarzneikiste mit etwa 160 Präparaten. Gegen Obstipation, ein typisches Leiden von Seeleuten, empfahl er das Tabakrauchklistier. Auf etwa 20 Seiten hat er die Anwendung von Zitronensaft gegen Skorbut beschrieben. Dessen Wirkprinzip blieb allerdings ihm selbst wie auch seinen Kollegen und Nachfolgern fremd. So wurden Patienten mit Skorbut bis ins frühe 19. Jahrhundert u.a. mit Zubereitungen der Zitrone, die kein Vitamin C enthielten, mit isolierter Citronensäure und verschiedenen anderen Säuren und bekanntermaßen auch mit Sauerkraut therapiert. Dabei war der Skorbut nicht unbedingt eine Folge der einseitigen Ernährung auf hoher See; denn viele Seeleute waren aufgrund ihrer Armut schon fehlernährt und entkräftet, bevor sie an Bord gingen.

Pharmazie auf deutschen Kriegsschiffen

Einen Einblick in die jüngere Geschichte der Schiffspharmazie gab Frederik Vongehr, Marburg, indem er über die Arzneiversorgung auf den Großkampfschiffen der deutschen Marine von 1871 bis 1945 berichtete. Im Prinzip war auch an Bord das Deutsche Arzneibuch maßgeblich, doch setzten sich neue Arzneistoffe und Hilfsstoffe dort besonders schnell durch. Beispiele sind das Antipyrin und Cocain oder auch das Vaselin, das schon zur Ausstattung der Bordapotheke gehörte, als zu Lande noch die traditionelle Wachssalbe üblich war. Auch die Galenik auf den Kriegsschiffen hatte die Nase vorn: So machten Oblatenkapseln schon früh das Pillendrehen auf hoher See überflüssig.

Selbst auf den größten Schlachtschiffen wurde die Apotheke von einem Arzt geleitet, um Personal zu sparen; Marineapotheker waren nur in den Kriegshäfen tätig, sie sicherten die Arzneiversorgung der Schiffe und brachten den Marineärzten die pharmazeutischen Kenntnisse bei, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben an Bord benötigten.

Terra sigillata – die erste Arzneispezialität

Foto: DAZ/cae
Das Haus der Wissenschaft in Bremen, Tagungsgebäude der Biennale. Der Fassadenschmuck vereinigt Symbole für Fleiß (Bienenkorb), Weisheit (Eule), Ingenieurwissenschaften (Zirkel und Dreiecke) sowie das Wappen von Bremen (Schlüssel).

Zu den ältesten Arzneidrogen, die über das Mittelmeer in die Zentren Europas verschifft wurden, gehören Heilerden der griechischen Inseln Lemnos, Samos, Chios, Euböa usw. sowie später von Malta. Es handelt sich um Ton, der größtenteils aus Tonmineralien (Schichtsilicaten) besteht, die wiederum aus den in vulkanischen Gesteinen enthaltenen Feldspäten entstanden sind. Da die Erde nach dem Abbau und der Modellierung mit einem Stempel geprägt, also „gesiegelt“ wurde, erhielt sie den Namen Siegelerde. Laut Dr. Ursula Lang, Marburg, könnte man sie als die weltweit erste Arzneispezialität bezeichnen. Siegelerden galten als unspezifische Antidote und waren deshalb auch eine unentbehrliche Zutat des Theriaks. Nach der Eroberung Griechenlands durch die Osmanen ersetzten Siegelerden aus Schlesien (Striegau u.a.) teilweise die klassischen Vorbilder. Heute gilt der Bentonit als das therapeutisch wertvollste Tonmineral für dermale Anwendungen. Aufgrund des Ionenaustauschs (Alkalimetalle gegen OH) kann er extrem hohe oder niedrige pH-Werte unter 4 bzw. über 10 aufweisen. Darauf beruht seine bakterizide Wirkung.

Kreide – das weiße Gold Rügens

Über die recht junge Geschichte der Heilkreide bis in die Gegenwart informierte Prof. Dr. Ulrich Meyer, Greifswald. Kreide bildet z.B. auf Rügen die imposanten weißen Felsen und lässt sich leicht mit Wasser aufbereiten („aufschlämmen“) und von unerwünschten Bestandteilen, insbesondere Feuerstein oder Flint, trennen. Diese Heilkreide besteht zu etwa 98% aus Calciumcarbonat mit Korngrößen bis 2 µm und einem pH-Wert von 7 bis 7,5. Wegen ihrer großen Wärmekapazität gibt sie, auch wenn sie nur um wenige Grad aufgeheizt wurde, die Wärme über einen langen Zeitraum ab. Für die äußerliche Anwendung als Packung oder Kompresse ist Kreide theoretisch eine Alternative zu Moor, Schlamm oder Fango, praktisch spielt sie jedoch nur eine geringe Rolle, und zwar noch eher im Bereich Wellness als in der Therapie. Heilkreide wird seit 1995 (wieder) in Rügen hergestellt, wo Saßnitz bereits 1935 zum ersten und einzigen Kreideheilbad der Welt erklärt worden war.

Mitgliederversammlung und Auszeichnung

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Dr. Gerhard Gensthaler

In der Mitgliederversammlung der DGGP hielt Präsidentin Anagnostou Rückschau auf die Aktivitäten der DGGP, berichtete über Kongresse, Vortragsveranstaltungen, Publikationen und Projekte. Bewährt hat sich in den Regionalgruppen die Zusammenarbeit mit den Apothekerkammern und mit der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, in der es auch eine Fachgruppe „Geschichte der Pharmazie“ gibt. Über das Vortragsprogramm informiert die Website www.dggp.de. Die nächste Biennale findet 2016 in Meißen statt.Um alle Aktivitäten uneingeschränkt fortführen zu können, beschlossen die anwesenden Mitglieder einstimmig eine Erhöhung des Mitgliedbeitrags auf nunmehr 40 Euro pro Jahr.

Die DGGP ehrte Dr. Gerhard Gensthaler, München, für sein langjähriges Wirken als Vorsitzender der Regionalgruppe Bayern wie auch für viele weitere Verdienste um die Förderung der Pharmaziegeschichte mit der Verleihung der Johannes-Valentin-Medaille in Silber. In seiner Dankesrede betonte Gensthaler, Pharmaziegeschichte sei für ihn immer eine schöne Freizeitgestaltung gewesen, „etwas wie Luft holen“.

Asphalt als Rohstoff für Dermatika

Dem Namen nach ein Meer, tatsächlich aber ein Binnensee ist das Tote Meer. Schon antike Schriftsteller beschrieben, dass ab und zu große Asphaltbrocken aus dessen Tiefe emporsteigen, auf der Oberfläche schwimmen und endlich ans Ufer treiben, wo die Einheimischen sie sich zunutze machen. Dieser Asphalt, auch Bitumen Palestinum und Judenpech genannt, ist reich an organisch gebundenem Schwefel (wie auch das Abbauprodukt H2S auf unangenehme Weise zeigt) und wurde schon von den alten Ägyptern als Ingredienz für den Balsam verwendet, mit dem sie ihre Toten mumifizierten. Wie Prof. Dr. Frank Leimkugel, Düsseldorf, ausführte, verarbeitete der Apotheker Günther Friedländer (1902–1975) den Asphalt des Toten Meeres zu der Spezialität Bitupal®, die bei Hauterkrankungen Anwendung fand. Der Vergleich mit Ichthyol liegt nahe, ist aber heute nicht mehr aktuell, weil das Tote Meer schon seit etwa einem halben Jahrhundert kein Bitumen mehr produziert. Möglicherweise hängt das mit der gestiegenen Salzkonzentration zusammen.

Marine Arzneistoffe heute

Das Meer steht als Lebensraum in seiner Vielfältigkeit dem Festland kaum nach. Hier wie dort gibt es Unterschiede der Temperatur- und Lichtverhältnisse; eine Besonderheit des Lebens im Meer ist die Anpassung an den mit zunehmender Tiefe kontinuierlich steigenden Druck. Heute sind etwa 9000 Wirkstoffe marinen Ursprungs bekannt; knapp zehn sind als Arzneimittel zugelassen, elf weitere befinden sich in der klinischen Prüfung. Die Referentin Prof. Dr. Ulrike Lindequist, Greifswald, nannte u.a. das extrem giftige und zugleich anästhesierende Conotoxin der Kegelschnecken, von denen ein synthetisches Analogon, das Ziconotid, als Analgetikum auf dem Markt ist. Trabectedin aus der Seescheide Ecteinascidia turbinata und Eribulin aus dem Schwamm Halichondria okadai sind innovative Krebstherapeutika.

Die meisten marinen Wirkstoffe stammen aus Schwämmen und Nesseltieren (Korallen u.a.), wobei oftmals unklar ist, ob diese Organismen auch die Produzenten sind oder ob sie die Stoffe nur akkumulieren. Nachdem ein mariner Wirkstoff erfolgreich getestet worden ist, stellt sich meistens das Problem, ihn in ausreichender Menge zu gewinnen. Die in der Fischzucht übliche Aquakultur bietet sich dafür eher selten an. Auf weitere Sicht am aussichtsreichsten erscheint es, die genetische Information aus dem produzierenden Organismus zu isolieren und in Hefezellen oder E. coli zu übertragen, um sie mit den etablierten biotechnologischen Anlagen herzustellen. So spielt das Meer für die Moderne eher die Rolle eines Ideengebers als die einer gigantischen Produktionsanlage.

Posterpräsentation

Foto: DAZ/cae
DGGP-Präsidentin Prof. Dr. Sabine Anagnostou (2. v.l.) neben den Autoren der besten Poster (v.l.): Stefanie Boman-Degen, Christian Schmidt, André Schön, Antje Räth.

Insgesamt 14 Doktoranden zeigten während der Biennale Poster zu den Themen ihrer Dissertationen und diskutierten darüber mit den Teilnehmern. Die Letzteren durften dann auf einem Fragebogen drei Poster nennen, die sie für die besten hielten. So wurden in demokratischer Wahl vier Doktoranden für ihre Poster ausgezeichnet:

1. Platz (zweimal vergeben): Christian Schmidt: Die Geschichte der Fortbildung des Apothekers seit 1945; André Schön: Heilpflanzen aus den ehemaligen deutschen Kolonien West- und Südwestafrikas.

2. Platz: Stefanie Boman-Degen: Die Nordlandreisen von Walther Zimmermann.

3. Platz: Antje Räth: Die Pharmazeutische Gesellschaft der DDR im sozialistischen Gesundheitswesen. 

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