Aut-idem-Liste

Plädoyer gegen eine vorschnell verabschiedete Liste

Interview von Klaus G. Brauer | Der Deutsche Bundestag hat die Selbstverwaltung aufgefordert, sich auf eine Liste von Arzneimitteln zu verständigen, die nicht im Sinne der Aut-idem-Regelung austauschbar sind. Seit Monaten verhandeln der Deutsche Apothekerverband DAV und der GKV-Spitzenverband hierüber ohne konkretes Ergebnis. Die Politik macht inzwischen Druck und fordert eine Einigung bis August diesen Jahres. Dem Vernehmen nach wird derzeit eine Liste mit Antiepileptika, Lithium, Methotrexat, Phenprocoumon und Schilddrüsenhormonpräparaten diskutiert. Wie weit diese Liste zwischen den Vertragsparteien konsensfähig ist, ist unklar. Die DAZ befragte dazu Professor Dr. Dr. Ernst Mutschler, Mainz, und Professor Dr. Henning Blume, Oberursel.

DAZ: Herr Mutschler, Herr Blume: Uns interessiert Ihre Meinung. Wäre die Liste so, wie sie derzeit diskutiert wird, sachgerecht zusammengestellt und vollständig?

Mutschler: Nein, sachgerecht zusammengestellt ist sie nicht, denn in dieser Liste werden keineswegs alle in diesem Zusammenhang wesentlichen Aspekte berücksichtigt.

Blume: Und sie ist aus meiner Sicht auch nicht vollständig. Vor allem aber wird der Umstand nicht adäquat adressiert, dass es hier nicht primär um den Austausch von Wirkstoffen, sondern auch um die Substitution von Fertigarzneimitteln geht. Und da spielen sowohl die Stoff- als auch die Produkteigenschaften eine Rolle.


DAZ: Können Sie das konkretisieren und etwas näher erläutern?

Professor Dr. Dr. Ernst Mutschler

Mutschler: Zunächst einmal ist der Ansatz, Arzneistoffe mit enger therapeutischer Breite im Hinblick auf ihre Austauschbarkeit kritisch zu betrachten, grundsätzlich nachvollziehbar. Ist doch bei einer engen therapeutischen Breite der Abstand zwischen der für das Erreichen des gewünschten therapeutischen Effektes erforderlichen Dosis und den höheren Dosen, bei deren Verabreichung mit dem verstärkten Auftreten von zum Teil erheblichen unerwünschten Wirkungen gerechnet werden muss, klein. Dementsprechend muss mit dem jeweils eingenommenen Arzneimittel gewährleistet sein, dass der therapeutisch erwünschte Konzentrationsbereich im Organismus möglichst sicher erreicht wird. Denn bereits kleinere Abweichungen können hier zu erheblichen therapeutischen Unterschieden und damit zu Problemen für den Patienten führen. Das gilt tatsächlich für die in der genannten Liste aufgeführten Wirkstoffe Lithium, Phenprocoumon oder Schilddrüsenhormone.

Doch können die Wirkstoffe als solche nicht das alleinige Entscheidungskriterium sein. Vielmehr müssen auch die Eigenschaften der Darreichungsformen beachtet werden. Und schließlich ist auch die Situation des jeweiligen Patienten in die Betrachtung einzubeziehen.

Professor Dr. Henning Blume

Blume: Das sind in der Tat sehr wichtige Aspekte. In diesem Zusammenhang spielt die Qualität des jeweiligen Arzneimittels und seine galenische Form eine zentrale Rolle. Schließlich ist der Austausch von Arzneimitteln während einer laufenden Dauertherapie dann besonders kritisch, wenn es dabei zu Veränderungen der Arzneistoff-Konzentrationen im Organismus kommt. Und dieses Risiko ist bei wirkstoffgleichen Präparaten mit stark variablen Plasmaspiegeln besonders groß.

Doch bleiben wir zunächst bei den Stoffen mit einer engen therapeutischen Breite. Bei solchen ist interessanterweise die Gefahr individueller Schwankungen eher gering. Zu dieser Thematik hat es bereits in den 1990er Jahren eine intensive internationale Diskussion gegeben. In deren Rahmen wurde klar herausgestellt, dass es sich bei den Stoffen mit enger therapeutischer Breite grundsätzlich um Arzneimittel mit geringer Variabilität handelt und dass diese Schlussfolgerung allgemeine Gültigkeit hat. Sonst könnte man ja mit solchen Substanzen überhaupt keine therapeutisch sicher einsetzbaren Fertigarzneimittel entwickeln.

Mutschler: Das ist natürlich richtig und sicherlich auch einleuchtend. Wie sollte man denn einen Patienten mit einem solchen Arzneimittel vernünftig therapieren, wenn die erreichten Arzneistoffkonzentrationen im Organismus täglich erheblichen Schwankungen unterworfen sind? Bei Substanzen mit enger therapeutischer Breite könnte das verheerende Auswirkungen haben. Am Tag X wäre dann z. B. ein zu schwacher Behandlungseffekt festzustellen, am nächsten Tag, dem Tag Y, könnte es dagegen zum Auftreten beachtlicher Nebenwirkungen kommen. Ein solches Arzneimittel wäre somit für die Therapie, weil zu gefährlich, ungeeignet.

Daraus kann man schließen, dass es sich gerade bei Arzneistoffen mit enger therapeutischer Breite in der Regel um sichere Wirksubstanzen handelt, deren Substitution daher für den Patienten ein eher geringes therapeutisches Risiko darstellen sollte.

Blume: Zumindest wenn diese Präparate eine ordnungsgemäße und vor allem auch vergleichbare pharmazeutische Qualität aufweisen. In diesem Zusammenhang scheint mir ein Blick auf die analoge Debatte in den USA sinnvoll. Auch dort war aufgrund von vehementen Forderungen der betreffenden Fachgesellschaften die Austauschbarkeit von u. a. Schilddrüsenhormon-Präparaten intensiv diskutiert worden. Vonseiten der American Thyroid Association wurde ähnlich wie in Europa ein Ausschluss dieser Präparate von der generischen Substitutionen verlangt.

Es mag im ersten Moment überraschend erscheinen, dass die FDA sich nach eingehender Diskussion entschlossen hat, dieser Forderung nicht nachzukommen. Stattdessen hat man die Spezifikationen für den Wirkstoffgehalt bei der Chargenfreigabe enger gefasst und außerdem die Akzeptanzkriterien für die Bioäquivalenzentscheidung restriktiver definiert. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass Gehaltsunterschiede zwischen den jeweiligen Produkten weitestgehend ausgeschlossen werden.

Bei nüchterner Betrachtung ist dies in der Tat eine adäquate Entscheidung. Wird doch durch diese Maßnahme gewährleistet, dass die einzelnen Tabletten dieser Produkte sich in ihrem Gehalt nicht oder nur minimal unterscheiden. Da es sich außerdem in allen Fällen um schnell freisetzende Präparate handelt, wird konstant eine jeweils vergleichbare Arzneistoffmenge dem Patienten zugeführt. Durch die gleichzeitige Einführung von restriktiveren Kriterien für den Bioäquivalenznachweis als Zulassungsvoraussetzung wird diese Maßnahme sinnvoll unterstützt.

Dennoch: solange die restriktiveren Qualitätskriterien und Bioäquivalenzanforderungen noch nicht konsequent und flächendeckend umgesetzt sind – und die vor einiger Zeit diskutierten Fallberichte (DAZ 2007; 147: 4582) zeigen, dass dies zumindest seinerzeit noch nicht der Fall war – besteht bei diesen Präparaten doch das Risiko inadäquater Therapieschwankungen.

Im Übrigen spielt in solchen Fällen die Wirkstofffreisetzung für das Erreichen gleichmäßiger Plasmaprofile eher eine geringere Rolle. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass in solchen Fällen ein Substitutionsausschluss nur die Ultima Ratio darstellen würde, wenn alle anderen Maßnahmen ohne Erfolg blieben. Wichtiger wäre gewiss die Forderung nach Sicherstellung einer gleichen pharmazeutischen Qualität von Produkt zu Produkt – und diese könnte durch begleitende unabhängige Kontrollen z. B. im ZL transparent gemacht werden.


DAZ: Soll das heißen, dass die Galenik nicht in allen Fällen eine gleichermaßen bedeutsame Rolle spielt?

Blume: Das könnte man so sehen. Allerdings würde eine so weitgehende Aussage, wenn überhaupt, nur schnell freisetzende Arzneimittel betreffen – unter der Maßgabe, dass diese alle eine gleiche ordnungsgemäße pharmazeutische Qualität aufweisen – und könnte aber keinesfalls für Retardpräparate gelten, die mit Hinblick auf eine generische Substitution offenbar ein sehr viel gravierenderes Problem darstellen.

Mutschler: Wie bereits dargelegt, spielen für die Frage der Austauschbarkeit die potenziellen Schwankungen der Plasmaprofile eine entscheidende Rolle und diese sind vor allem bei Retardpräparaten evident. Bei diesen steuert nämlich die Freisetzung des Wirkstoffs aus der Darreichungsform im Magen-Darm-Trakt das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Resorption des Wirkstoffs in den Organismus, d. h. dessen Bioverfügbarkeit. Und diese kann von Produkt zu Produkt durchaus relevant unterschiedlich ausfallen. Dadurch wiederum können sich therapeutisch relevante Abweichungen ergeben, die bei einer generischen Substitution ausgeschlossen werden müssen.


DAZ: Bedeutet dies, dass besonders Retardpräparate im Hinblick auf die Substitution als schwierig einzustufen sind?

Blume: Ja, das kann man sicherlich so bestätigen. Bei Retardpräparaten kommt es offenbar viel eher als bei schnell freisetzenden Produkten zu therapeutischen Problemen bei einer Substitution während einer laufenden Dauermedikation.

Mutschler: In diesem Zusammenhang kommt noch ein weiterer wesentlicher Aspekt aus pharmakologischer Sicht hinzu. Man muss nämlich berücksichtigen, bei welchen Indikationen das Erreichen gleichmäßiger Plasmaprofile besonders wichtig ist. Aus meiner Sicht sind hier insbesondere die Antihypertensiva, die Antiepileptika sowie die Produkte zur Therapie chronischer Schmerzzustände zu nennen, also z. B. die Opioid-Arzneimittel. In allen diesen Fällen muss es das vornehmliche therapeutische Ziel sein, die Konzentration-Zeit-Verläufe im Blut so konstant wie möglich zu halten.


DAZ: Und in dieser Hinsicht gibt es relevante Unterschiede zwischen den Handelspräparaten?

Blume: Ja, das ist nach allem, was wir wissen, tatsächlich der Fall. Angesichts unterschiedlicher galenischer Konzepte können – auch bei Bioäquivalenznachweis nach den bis heute gültigen Kriterien – Abweichungen in den Plasmaprofilverläufen nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Und diese können, wie auch die Fallberichte zu Antiepileptika oder zu Opioid-Präparaten zeigen, bei einem Präparateaustausch relevante therapeutische Veränderungen bedingen. Solche Abweichungen müssen im Interesse einer zuverlässigen Therapie des Patienten natürlich ausgeschlossen werden. Daher gilt es, eine Substitution vor allem bei solchen Arzneimitteln zu vermeiden, bei denen bereits eine relativ geringfügige Veränderung im Verlauf der Plasmakonzentrationen zu therapeutischen Problemen führen könnte.


DAZ: Und bei welchen ist dies Ihrer Meinung nach der Fall?

Mutschler: Eine sachgerechte Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach. Wir sind bekanntlich derzeit dabei, die Leitlinie "Gute Substitutionspraxis" der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft zu überarbeiten. In diesem Zuge kommt der Liste von Arzneimitteln mit "kritischen" Indikationen natürlich eine zentrale Bedeutung zu. Meiner Meinung nach sollten hier Spezialisten aus den einzelnen klinischen Fachbereichen hinzugezogen werden. Nur so ist eine adäquate Entscheidung erreichbar. Diese könnte selbst jemand mit einem breiten pharmakologischen Fachwissen allein nicht leisten.


DAZ: Inwiefern wäre demnach die öffentlich gewordene Liste – vorsichtig ausgedrückt – als optimierungswürdig zu betrachten?

Blume: Ich möchte mich gar nicht gegen die Aufnahme der Stoffe mit enger therapeutischer Breite wenden, auch wenn diese grundsätzlich recht sichere Arzneimittel darstellen und erst dann kritisch werden, wenn Unterschiede in der pharmazeutischen Qualität nicht ausgeschlossen sind, die zu Abweichungen in der Höhe der Plasmaprofile führen können. Der praktisch komplette Verzicht auf die Aufnahme von Retardarzneimitteln aber ist aus meiner Sicht nicht adäquat. Hier liegen, wie die Umstellungsschwierigkeiten zeigen, die eigentlichen Probleme bei einer generischen Substitution. Diesem Umstand wird die bekannt gewordene Liste keineswegs angemessen gerecht.

Mutschler: Und hinzu kommt, dass im Sinne einer notwendigen Erweiterung der bestehenden Liste besonders solche Indikationen berücksichtigt werden müssen, bei denen möglichst konstante Wirkspiegel notwendig sind, um die gewünschten therapeutischen Effekte sicher zu erreichen. Das sind gewiss nicht nur die Antiepileptika, sondern sicherlich auch die Opioid-Retardpräparate und noch andere mehr. Schließlich, und der Aspekt ist bisher noch gar nicht berücksichtigt, gibt es auch therapeutische Situationen, bei denen jede Behandlungsumstellung ein Risiko darstellt, wie z. B. beim Depressiven mit seinem latenten Suizidrisiko.


DAZ: Was also würden Sie vorschlagen?

Blume: Das Erarbeiten einer solchen Liste, die alle im Sinne der generischen Substitution wichtigen Aspekte berücksichtigt, ist sicherlich nicht einfach. Jeder Einzelne wäre, auf sich allein gestellt, mit einer solchen Aufgabe wohl überfordert. Man sollte, Herrn Professor Mutschlers Vorschlag folgend, Spezialisten aus den einzelnen Fachdisziplinen hinzuziehen. Vielleicht wäre auch eine wissenschaftliche Diskussion in der Fachöffentlichkeit sinnvoll. Eine Beratung "im stillen Kämmerlein" hielte ich dagegen, auch im Hinblick auf die anzustrebende Akzeptanz, eher nicht für adäquat. Allen Beteiligten muss doch an einer angemessenen Lösung dieses offensichtlichen Problems im Interesse der betroffenen Patienten gelegen sein.

Mutschler: Dem kann ich nur zustimmen. Auch eine gewisse Harmonisierung mit der Indikationsliste in der DPhG-Leitlinie "Gute Substitutionspraxis" wäre sicherlich sinnvoll und wünschenswert. Relevante Unterschiede sollten im Interesse unserer gemeinsamen Verantwortung möglichst vermieden werden. Daher würde ich mir wünschen, dass es hier zu einer wie auch immer gearteten konstruktiven Zusammenarbeit kommt.


DAZ: Es bleibt also noch viel zu tun und im Sinne einer wissenschaftlich adäquaten Lösung wäre gemäß Ihrem Plädoyer zu hoffen, dass vor einer vorschnellen Einigung auf eine Liste zusätzlicher Sachverstand eingebunden würde, um zu vermeiden, dass ggf. wesentliche Aspekte unberücksichtigt bleiben. Dies erscheint adäquat, selbst wenn dann die Politik, die in dieser Frage deutlich Druck macht, noch etwas warten müsste. Im Interesse des Patienten wäre dies sicherlich zu begrüßen. Wir danken Ihnen, Professor Mutschler und Professor Blume, herzlich für das Gespräch.


Die Fragen stellte DAZ-Herausgeber Dr. Klaus G. Brauer

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