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Opioide und Magenmotilität

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Motilitätshemmung ist mehr als nur ein Darmproblem

DAZ-Interview mit Henning Blume |Die Behandlung mit Opioiden ist durch eine besonders belastende Nebenwirkung gekennzeichnet, die Obstipation. Doch nicht nur die Darmmotilität wird unter der Therapie beeinträchtigt, sondern auch die des Magens. Diese Nebenwirkung ist viel zu wenig bekannt ist und findet daher meist keine Beachtung. Werden Schmerztherapeuten darauf hingewiesen, ruft das immer wieder einen Aha-Effekt hervor. Prof. Dr. Henning Blume, Oberursel, war maßgeblich an der Erforschung der Interaktionen zwischen Magenmotilität und Arzneimittelwirkungen beteiligt und hat jetzt für seine Aufklärung den Ehrenpreis des Deutschen Schmerzpreises 2012 erhalten (s. a. DAZ 2012; Nr. 12, S. 158).
Prof. Dr. Henning Blume Foto: Christoph Kappus

Im Gespräch mit der DAZ erläutert er die Problematik der Magenmotilitätshemmung durch Opioide auf ihre eigene Wirksamkeit – aber auch die von Retardformen mit anderen Wirkstoffen – wobei diese Effekte durch Einnahme nach dem Essen noch verstärkt werden.


DAZ: Herr Professor Blume, das Obstipations-Problem der Opioide ist seit langem bekannt und wird mit einer Blockade der intestinalen μ-Opioid-Rezeptoren erklärt. Wie beeinflussen Opioide die Magenmotilität?

Blume: Die durch solche Opioid-Rezeptoren vermittelten Effekte sind nicht nur auf den Darm beschränkt, sondern erfassen den gesamten Magen-Darm-Trakt. Hier gibt es bekanntlich mannigfaltige Wechselwirkungen und Rückkopplungsmechanismen. Daher werden die Effekte sogar eher seltener nur auf bestimmte, konkret umschriebene Bereiche beschränkt bleiben, sondern sich vielmehr auch auf andere auswirken.

µ-Rezeptoren sind zwar gehäuft vor allem im myenterischen Auerbach- bzw. Meissner-Plexus anzutreffen, sie kommen aber grundsätzlich im gesamten Magen-Darm-Trakt vor und sind im Übrigen für die Opioide von der luminalen Seite, d. h. vom Inneren des Darms aus erreichbar. Das bedeutet, dass Opioide die Rezeptoren blockieren und dadurch ihre Wirkungen im Magen und Darm entwickeln können, ohne vorher ins Blut resorbiert werden zu müssen.


DAZ: Wie wirkt sich das auf eine Schmerztherapie mit Opioiden aus?

Blume: Im Zentrum einer medikamentösen Therapie chronischer Schmerzzustände steht zunächst einmal eine optimale Basisversorgung, für die möglichst gleichbleibende Wirkspiegel der Analgetika im Organismus angestrebt werden. Einem z. B. bei Durchbruchschmerzepisoden zwischenzeitlich auftretenden erhöhten Schmerzmittelbedarf kann dann durch Anwendung sehr schnell anflutender Arzneimittel Rechnung getragen werden.

Das primäre Ziel gleichmäßiger Wirkspiegel sollte sich unter anderem mit Hilfe von galenisch gut konzipierten oralen Retardpräparaten realisieren lassen. Eine wesentliche Voraussetzung wäre jedoch, dass der aus den Produkten mit konstanter Geschwindigkeit freigesetzte Wirkstoff auch sofort aus dem Gastrointestinaltrakt ins Blut resorbiert wird. Dies ist allerdings nicht möglich, solange sich die Retardpräparate im Magen befinden und dort den Wirkstoff in Lösung bringen. Vom Magen aus werden nämlich – wenn überhaupt – nur vernachlässigbar geringe Mengen eines Arzneistoffs in den Organismus aufgenommen.

Wenn nun durch die Wirkung der Opioide selbst die Entleerung gehemmt und so die Verweildauer im Magen deutlich verlängert wird, sind therapeutische Probleme vorprogrammiert. Dann wird nämlich der freigesetzte Wirkstoff portionsweise in den Darm transportiert und zwar in gelöstem Zustand, aus dem er sogleich rasch resorbiert werden kann. Als Folge lassen sich die gewünschten konstanten Plasmaprofile nicht erreichen, es resultieren vielmehr stark fluktuierende Blutspiegelverläufe mit häufigeren Konzentrationsspitzen, die zu verstärkten Nebenwirkungen führen können, oder auch weiter sinkende Konzentrationen mit der möglichen Folge des Auftretens von Durchbruchschmerzen. Insgesamt kann es also zu einer therapeutisch sehr ungünstigen Situation kommen.


DAZ: Eine verzögerte Magenentleerung durch Opioide wirkt sich ja nicht nur auf die Opioid-Resorption selbst aus, sondern auch auf weitere eingenommene Medikamente. Was ist hier zu beachten?

Blume: Das ist richtig. Tatsächlich sollten alle weiteren in Retardform eingenommenen Arzneimittel, wie das Opioid-Präparat selbst, ebenfalls länger im Magen verweilen und zu analogen Problemen mit plötzlich auftretenden Konzentrationsspitzen führen, die dann oft als "Dose-dumping"-Phänomen interpretiert und einer angeblich ungeeigneten Galenik angelastet werden. Am Beispiel von Nifedipin hatten wir in mehreren Untersuchungen sehr gut zeigen können, welche therapeutische Relevanz einer solchen – unerwünschten – verlängerten Verweildauer im Magen zukommt (s. DAZ 2009; Nr. 27, S. 70 ff). Auch bei der antihypertensiven Dauermedikation werden nämlich möglichst konstante Plasmaprofile angestrebt, da es bei einem plötzlichen, sehr steilen Konzentrationsanstieg zur Reflextachykardie kommen kann, die eine Senkung des Blutdrucks häufig verhindert. Im Fall dieser Untersuchungen wurde die verzögerte Magenentleerung als Folge einer Einnahme der Produkte nach einer Mahlzeit festgestellt. Aber grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass das Verhalten nach gleichzeitiger Gabe von Opioiden ganz ähnlich sein wird.


DAZ: Und was geschieht mit nicht retardierten Arzneiformen?

Blume: Auch bei diesen kann sich eine signifikante Verzögerung der Magenentleerung in relevanter Weise auf den Therapieerfolg auswirken. Selbst wenn die Produkte im Magen sehr rasch zerfallen und den Wirkstoff unmittelbar in Lösung bringen, wird dieser verzögert und ggf. auch in mehreren Portionen den Dünndarm erreichen. Als Folge ist meist ein späterer Wirkungseintritt festzustellen, wobei dies auch so weit gehen kann, dass die Wirkung möglicherweise vollkommen ausbleibt.

Im Einzelfall können die Konsequenzen einer portionsweisen Entleerung aus dem Magen aber auch durchaus positiv sein, nämlich wenn z. B. ein sehr schnelles Erreichen von Spitzenkonzentrationen Probleme bereitet. Hier kommt es vor allem auf den jeweiligen Indikationsbereich an, d. h. es geht letztlich um eine Fall-zu-Fall-Entscheidung. Das Problem ist nur, dass man sich der Situation bewusst sein muss – und das ist bei der Kombination mit Opioiden meistens eher nicht der Fall. Ich bin daher überzeugt, dass hier noch eine Menge an Aufklärungsarbeit zu leisten ist, die sich aber lohnen sollte, da sie schlussendlich zur Therapieverbesserung beitragen wird.


DAZ: Wenn ich Sie richtig verstehe, muss man nicht nur die Wirkung der Opioide auf die Magenentleerung im Auge behalten, sondern auch die Einnahmebedingungen beachten ...

Blume: Das ist absolut richtig. Beide Aspekte können die gleichen Probleme hervorrufen. Und wenn beide zusammenkommen, also Opioid-Retardpräparate nach dem Essen eingenommen werden, dann kann sich die Situation noch verschärfen. Ein solches Szenario sollte daher, wenn irgend möglich, vermieden werden.

Das Problem ist allerdings, dass die Patienten oft – zumindest subjektiv – den Eindruck haben, die Verträglichkeit sei bei Einnahme mit dem Essen besser. Wie besprochen kann das jedoch fatale Folgen haben – und zwar sowohl für die Therapie mit retardierten Opioiden selbst als auch für eine bei älteren Schmerzpatienten ja nicht seltene Begleitmedikation.


DAZ: Welche Lösungsansätze bieten sich an?

Blume: Bei der Opioid-induzierten Obstipation hat man ja das Konzept entwickelt, die Opioid-Gabe mit einem gleichzeitig einzunehmenden, peripher wirkenden Opioid-Antagonisten wie Naloxon zu kombinieren, um so die Bindung an die intestinalen Opioid-Rezeptoren zu unterbinden. Mich würde es sehr wundern, wenn mit Naloxon nicht auch selektiv die Behinderung der Magenentleerung unterbunden werden könnte. Allerdings ist man dieser Frage noch nicht systematisch in klinischen Studien nachgegangen. Immerhin gibt es aber bereits Hinweise, dass dem so ist und auf diese Weise die Schmerztherapie mit Opioiden verbessert werden könnte.


DAZ: Welche Hinweise sind das?

Blume: Einen entscheidenden Hinweis liefert eine nicht-interventionelle Studie, in die knapp 8000 unter chronischen Schmerzen leidende Patienten einbezogen worden sind. Sie wurden einer gezielten Subgruppenanalyse unterzogen, um den Effekt von gleichzeitig appliziertem Naloxon auf die analgetische Wirkung von retardiertem Oxycodon herauszuarbeiten. Alle untersuchten Patienten wurden zum Zeitpunkt des Einschlusses in die Studie bereits mit Schmerzmitteln der WHO-Stufen I bis III behandelt, etwas mehr als ein Drittel von ihnen mit starken Opioiden. Sie sind dann konsequent auf das retardierte Kombinationspräparat aus Oxycodon und Naloxon umgestellt worden. In den folgenden vier Wochen wurden die Veränderungen hinsichtlich der Scherzempfindung, der Obstipation und der Lebensqualität beobachtet. Die positiven Effekte auf die letzten beiden Parameter sind bereits von Schutter et al. im Jahr 2010 publiziert worden.

In die Subgruppenanalyse wurden nur solche Patienten einbezogen, die bereits vor der Umstellung mit retardiertem Oxycodon behandelt worden waren. Bei diesen insgesamt mehr als 1000 Personen sollte also der Effekt des Zusatzes des Opioid-Antagonisten direkt messbar sein, da der Opiat-Agonist Oxycodon vor und nach der Umstellung identisch war. Letztlich zeigte sich in dieser Gruppe während der vierwöchigen Beobachtungsdauer eine weitere Reduktion der Schmerzintensität um nahezu ein Viertel im Vergleich zur Behandlung mit retardiertem Oxycodon allein.

Ich meine, dass dies als starkes Signal für eine verbesserte Oxycodon-Wirkung in der Kombination mit Naloxon gesehen werden kann. Insofern erscheint es lohnenswert, dieser Frage einmal systematisch in entsprechend konzipierten klinischen Studien nachzugehen.


DAZ: Was aber kann man schon jetzt in der Praxis tun? Welche Ratschläge geben Sie?

Blume: Hier muss man die beiden Situationen getrennt betrachten. Gegen den Effekt der Opioide auf die Physiologie des Magen-Darm-Traktes gibt es grundsätzlich nur eine wirksame Maßnahme, und das ist der Einsatz von Opioid-Antagonisten. In diesem Zusammenhang stellt übrigens die Behinderung der Magenentleerung sogar noch ein schwierigeres Problem dar als die Obstipation, bei der man zur Not eine Gabe von Laxanzien in Erwägung ziehen könnte.

Ganz anders wäre die Verzögerung des Transports der Arzneiform aus dem Magen in den Darm bei Applikation zusammen mit einer Mahlzeit zu betrachten. Um diesem Problem wirksam zu begegnen, kann man nur eine Einnahme der Produkte auf nüchternen Magen empfehlen. Allerdings steht einer Realisierung dieses Vorschlags oftmals der subjektive Eindruck der Patienten entgegen, dass die Produkte nach dem Essen besser verträglich seien. Sie wird möglicherweise der Rat, die Tabletten mit den ersten Bissen einer Mahlzeit einzunehmen, überzeugen können. Die Überzeugungsarbeit wird aber auch dadurch erschwert, dass in den Beipackzetteln der meisten Opioid-Retardpräparate ein Hinweis zu finden ist, dass sie sowohl mit als auch ohne Nahrung eingenommen werden können. Dieser Hinweis stützt sich meist auf Bioverfügbarkeitsuntersuchungen, die an gesunden Probanden nüchtern oder nach Standardmahlzeit unter Comedikation mit Opioid-Antagonisten durchgeführt wurden – und eine solche Situation ist mit der bei Schmerzpatienten keinesfalls vergleichbar.

Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Die verschiedenen handelsüblichen Arzneiformen unterscheiden sich zum Teil erheblich in ihrer Fähigkeit, den Magen schnell zu verlassen. Pellets sind hier eher weniger problematisch als nicht zerfallende monolithische Formen. Bei letzteren wiederum scheinen OROS-Systeme in der Lage, den Magen rascher verlassen zu können. Warum das so ist, können wir jedoch bis heute nicht wirklich erklären. Die Beobachtung stützt sich aber auf inzwischen zahlreiche Untersuchungen.

Es gibt also durchaus schon eine Rationale für die eine oder andere Empfehlung. Allerdings würde ich mir im Hinblick auf eine Verbesserung der Therapie für den Patienten wünschen, dass die Hinweise auf eine Behandlungsoptimierung durch die Kombination mit Opioid-Antagonisten zeitnah durch klinische Studien gestützt würden.


DAZ: Herr Professor Blume, wir danken Ihnen für das Gespräch!


Prof. Dr. Henning Blume, SocraTec R&D GmbH, Im Setzling 35, D-61440 Oberursel


Interview: Dr. Doris Uhl



DAZ 2012, Nr. 15, S. 48

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