Gesundheitswesen

Krankenkassen als Patientenschützer?

Ein Meinungsbeitrag von Harald G. Schweim

Einen interessanten Umgang bei Krankenkassen mit (vorgeblichen) Arzneimittelrisiken im Verhältnis zu ökonomischen Fragen gibt es zu diskutieren. Dabei geht es nicht darum, wie mit dem "Krebsrisiko" für den Lantus® -Anwender umgegangen wird (ich halte es für falsch), sondern darum, dass, wenn der Preis stimmt, dieses Risiko plötzlich hinfällig ist.

Zur Chronologie

Das Arzneitelegramm titelte im Jahr 2000 (Nr. 12, S. 108) "Insulin Glargin (Lantus): Keine metabolischen Vorteile, aber potenziell krebsfördernd" und berichtete: "Schon fünf Monate nach der Markteinführung hat das von Aventis angebotene Insulinanalog Glargin nach firmeninternen Angaben 20% des Verzögerungsinsulinmarktes erobert. […] Insulin Glargin verursacht gegenüber NPH-Insulin Mehrkosten von 35% (279 DM vs. 206 DM für 30 ml U100)."

Neun Jahre später legte das Arzneitelegramm (2009, Nr. 7, S. 67) noch eins drauf: "Krebs unter Glargin (Lantus) – Marktrücknahme logische Konsequenz". In dieser Meldung hieß es: "Die Mitarbeiter des IQWiG und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hatten Daten von rund 130.000 Diabetikern analysiert, die zwischen 2001 und 2005 mit Humaninsulin oder den Analoginsulinen Lispro (Humalog®), Aspart (Novorapid®) oder Glargin (Lantus®) behandelt wurden. Das Ergebnis: Mit Glargin behandelte Patienten erkrankten häufiger an Krebs als diejenigen, denen eine vergleichbare Dosis Humaninsulin verordnet wurde. Für die kurzwirksamen Insulinanaloga Lispro und Aspart fand sich dagegen kein Unterschied zu Humaninsulin. ‚Unsere Auswertung ist zwar kein eindeutiger Beweis, dass Glargin Krebs fördert‘, sagt Professor Dr. Peter T. Sawicki, Leiter des IQWiG und Mitautor der Studie, ‚allerdings weckt unsere Studie einen dringenden Verdacht, der Folgen für die Behandlung der Patienten haben sollte.‘"

Die Laienmedien stiegen ein und machten aus der Äußerung Sawickis eine Tatsache, z. B. der "Spiegel" in seiner Ausgabe vom 29. Juni 2009: "Von Ärzten millionenfach verordnet stellt sich nun heraus, dass das Analoginsulin Lantus® das Krebswachstum befördern kann. Daten von fast 130.000 deutschen Diabetikern wurden ausgewertet. Der Befund: "Knapp 3500 Krebsfälle pro Jahr könnten auf Lantus® zurückzuführen sein". Die ARD-Ta-gesthemen brachten damals einen Beitrag von Ursel Sieber (RBB) mit dem Titel "Kunstinsulin Lantus® fördert vermutlich das Wachstum von Krebszellen".

Die europäische Agentur EMA, das BfArM sowie Fachgesellschaften relativierten und mahnten zur Gelassenheit [1]; der Hersteller wies die Kritik – m. E. völlig zu Recht – zurück.

Die Ärzte-Zeitung behauptete am 6. Juli 2009 in dem Beitrag Verunsicherung zu Lantus® – "der Sündenfall des IQWiG": "Die IQWiG-Veröffentlichung ist eine statistisch nicht beweiskräftige Registerstudie, bei der zunächst unter Glargin weniger Krebsfälle festgestellt wurden. Erst durch nachträgliche Anpassungen ließ sich ein geringer angeblich karzinogener Effekt feststellen. Wieso das nur bei allein mit Glargin Behandelten – aber nicht bei kombiniert mit Glargin Therapierten – beobachtet wurde, bleibt unerfindlich. Daten aus einer, dem IQWiG bekannten, im Juni 2009 veröffentlichten Fünf-Jahres-Sicherheitsstudie zu Insulin Glargin belegen, dass bei dem Wirkstoff bösartige Zellveränderungen sogar seltener waren als bei Humaninsulin.

Der Focus schrieb im Jahre 2009 [2]: "Der Streit um Lantus® findet zu just der Zeit statt, in der der Gemeinsame Bundesausschuss Ärzte Krankenkassen (G-BA) darüber entscheidet, ob Lantus® für Typ-2-Diabetiker künftig von den Krankenkassen bezahlt wird oder nicht. Ein vorläufiges Gutachten zu Typ-1-Diabetikern liegt ebenfalls seit ein paar Tagen vor. Auch diese Patientengruppe hat laut IQWiG von Lantus® keinen zusätzlichen Nutzen. Auf gut Deutsch: Sie sollen künftig die Arznei aus der eigenen Tasche zahlen. Ein Krebsverdacht könnte also das Zünglein an der Waage sein, welches den Ausschuss dazu bringen könnte, Lantus® aus der Kassenmedizin auszuschließen. Warum sollten die ohnehin gebeutelten Versicherungen eine Arznei bezahlen, die unter Krebsverdacht steht?"

Eine aus meiner Sicht unrühmliche Rolle übernimmt die AOK: In einer Pressemitteilung des AOK-Bundesverbandes vom 15. Juli 2009 wird Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabes Medizin im AOK-Bundesverband, zitiert: "Die Patienten haben einen Anspruch auf höchstmögliche Sicherheit." Bei den mit hohen Dosen Glargin behandelten Diabetespatienten seien "häufiger erstmalig Krebserkrankungen aufgetreten". Die "Häufung von Krebserkrankungen war dosisabhängig".

Doch schon drei Tage vorher kam die verblüffende Wendung. Ohne weiter auf die angebliche krebserzeugende Wirkung von Lantus® einzugehen, berichtete die AOK Baden-Württemberg in einer Pressemitteilung vom 12. Juli: "AOK sichert Insulintherapie für Diabetiker in Baden-Württemberg. Jetzt Vertrag mit Sanofi-Aventis über Insulinpräparat Lantus® geschlossen. AOK-versicherte Diabetiker im Südwesten können ihre gewohnte Therapie mit dem sogenannten langwirksamen Insulinanalogon Lantus® beibehalten." Laut AOK werde zwar in Kürze der Einsatz langwirksamer Insulinanaloga zunächst nur noch eingeschränkt auf Krankenkassenkosten zulässig sein, aber durch den jetzt geschlossenen Vertrag mit dem Pharmaunternehmen Sanofi-Aventis garantiere die AOK Baden-Württemberg den betreffenden Diabetikern die Therapiemöglichkeit mit dem gewohnten Präparat, ohne die Versichertengemeinschaft mit höheren Kosten zu belasten.

Der Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, Dr. Rolf Hoberg, sagte am 9. Juli 2010 in Stuttgart: "Wir haben die sich bietenden Möglichkeiten für einen solchen Selektivvertrag auf regionaler Ebene genutzt. Auch weil uns die konstante Versorgung unserer AOK-versicherten Diabetiker im Land ein wichtiges Anliegen ist. Außerdem ist der Einsatz dieses Insulins bei unseren Versicherten nun in jedem Fall wirtschaftlich." [3] Rund 12.000 Diabetiker würden die Therapie mit dem langwirksamen Insulin nutzen und jetzt von dem Vertrag profitieren, da eine Umstellung auf ein anderes Insulin entfallen kann.

Und dem folgten etliche Krankenkassen. Nach der offiziellen Auflistung in der Datenbank von Sanofi-Aventis vom 15. September 2011 sind mit 150 Kassen Rabattverträge abgeschlossen worden. Damit könnten nach dem deutschen Ärzteportal 59.444.040 Menschen im Rahmen von Rabattverträgen mit Lantus® therapiert werden [4].

Im März 2011 hatte ich das arznei-telegramm (a-t) angeschrieben: "Im a-t 2009; Jg. 40, Nr. 7 war der Krebsverdacht für eine Therapie mit Glargin dargestellt mit "Vom-Markt-nehmen" Konsequenz. Zwischenzeitlich haben ca. 130 Kassen Rabattverträge für Lantus® abgeschlossen. Mir fehlt jeder Kommentar (oder habe ich etwas überlesen?) des a-t dazu. Oder gilt, "wenn‘s billiger ist, entfällt der Krebsverdacht?" Darauf erhielt ich diese Antwort:

"Im arznei-telegramm haben wir zuletzt in der Ausgabe 8/10 über Insulin Glargin berichtet, in dieser Ausgabe ging es um den Beschluss des G-BA zur Verordnungsfähigkeit lang wirkender Insulinanaloga bei Typ-2-Diabetes. Über den Krebsverdacht haben wir seit 2009 nicht mehr im a-t berichtet, zumal ein hinreichender Anlass hierfür fehlte."

In dem vom a-t beigelegten Datenbankauszug steht:

"Aus Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes sind jetzt Hersteller und Zulassungsbehörden in der Pflicht, die Unbedenklichkeit von Glargin zu belegen. Wir erachten das Ruhen der Zulassung für Glargin für erforderlich, solange dessen Unbedenklichkeit nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist."

Das a-t bleibt hier wenigstens konsequent.

Ist jetzt derjenige ein Schelm, der sich denkt, dass mithilfe von aufgebauschten, überinterpretierten Daten hier der Hersteller für die Rabattverträge "weichgekocht" wurde?

Und ist, wenn der Preis stimmt, das Risiko für den Patienten (Dr. Gerhard Schillinger, AOK: "Die Patienten haben einen Anspruch auf höchstmögliche Sicherheit") für die Krankenkassen nicht mehr vorhanden?

Aber nein, vermutlich haben die Kassen beim Blick in ihre Wahrsagekugeln, die sie ja offensichtlich ständig als Ersatz für Sachverstand benutzen, schon 2010 gewusst, wie das "Safety Announcement" der FDA von 2011 lauten würde (Auszug) [5]:

"The U.S. Food and Drug Administration (FDA) is updating the public about its ongoing safety review of Lantus (insulin glargine) and a possible increased risk of cancer. In July 2009, FDA issued an Early Communication about Safety of Lantus (insulin glargine) to inform the public that it was reviewing four published observational studies, three of which suggested an increased risk of cancer associated with the use of Lantus. FDA has also reviewed results from a five-year randomized clinical trial, Evaluation of Diabetic Retinopathy Progression in Subjects with Type 2 Diabetes Mellitus Treated with Oral Agents Plus Insulin , which compared Lantus to Neutral Protamine Hagedorn (NPH) insulin in individuals with Type 2 diabetes. The results did not show an increased risk of cancer in subjects treated with Lantus compared to those treated with NPH insulin; however, this study was not specifically designed to evaluate cancer outcomes. FDA is continuing to work with the manufacturer of Lantus and the U.S. Department of Veterans Affairs (VA) to further evaluate the long-term risk, if any, for cancer associated with the use of Lantus. At this time, FDA has not concluded that Lantus increases the risk of cancer.”

Fazit

Nochmals, in der Sache stimme ich der FDA voll zu und halte Lantus® für ein sicheres Produkt und die Sicherstellung der Versorgung der betroffenen Patienten zu Lasten der GKV für richtig. Nicht für richtig halte ich die gezeigte Scheinheiligkeit der Kassen.


Quellen

[1] www.aerztezeitung.de/extras/extras_specials/apothekerplus/article/555575/information-verunsicherung.html

[2] www.focus.de/gesundheit/ratgeber/diabetes/news/tid-14955/langzeitinsulin-es-geht-um-viel-geld_aid_419132.html

[3] www.aok.de/news/rss/baden-wuerttemberg/baden-wuerttemberg/presse/aok-sichert-insulintherapie-fuer-diabetiker-in-baden-wuerttemberg-148287.php

[4] www.deutschesarztportal.de/arzt1_originale.html?status=1&ampid=3532803

[5] www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm239376.htm


Autor

Prof. Dr. Harald G. Schweim, Universität Bonn, Drug Regulatory Affairs, Gerhard-Domagk-Str. 3, 53121 Bonn



DAZ 2011, Nr. 45, S. 88

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