Feuilleton

Kallawaya – Heilkunst in den Anden

Die "Kallawaya" genannten traditionellen Heiler in den bolivianischen Anden sind das Thema einer Sonderausstellung im Grassi Museum für Völkerkunde in Leipzig, die bis zum 14. August zu sehen ist. Gezeigt werden Fotos und Objekte, die das Museum von der Kulturanthropologin Prof. Dr. Dr. h.c. Ina Rösing, Ulm, erworben hat. Rösing hat jahrelang bei Kallawaya gelebt und ihre Heilmethoden aus sozialwissenschaftlicher und psychotherapeutischer Sicht erforscht. Präkolumbische Keramiken mit Krankheitsdarstellungen ergänzen die Ausstellung.
Foto: I. Rösing
Die Heilerin Manuela Mamani in Bolivien.

Kallawaya bedeutet "Kräutermedizin tragen" und stammt vermutlich aus dem Aymara, einer Sprache, die von 30 bis 40 Prozent der indigenen Bolivianer gesprochen wird. Heute bezieht sich diese Bezeichnung allerdings nicht mehr allein auf die Wanderheiler, sondern im weiteren Sinne auch auf die an der Grenze zu Peru lebende Ethnie, der sie angehören. Ihre Sprache ist Quechua, das mit Aymara nicht verwandt ist. Aber aufgrund jahrtausendelanger Kontakte sind viele Vokabeln in beiden Sprachen identisch.


Erst die Berufung, dann die Ausbildung

José Encarnación Mamani lebt in Urpihuaya, einem bolivianischen Dorf nordöstlich des Titicacasees. Er kam "mit den Füßen nach vorn" zur Welt und hat ein schwarzes Mal am Kopf. Seine Mutter war ein Zwilling. Als Mamani auf dem Feld eine Muschel fand, war dies für ihn ein weiteres Zeichen, dass er zum Kallawaya, zum Heilkundigen, bestimmt ist. Doch wusste er, dass seine Gebete erst erhört und seine Opfergaben angenommen werden, wenn er durch die "Orte der Kraft" berufen worden ist.

Eines Tage, als Mamani gerade auf einem Berg Schafe hütete, kam eine Gewitterwolke. Vom Blitz getroffen, stürzte er bewusstlos zu Boden. Nachdem man ihn gefunden hatte und er wieder erwacht war, deutete ein Kallawaya das Geschehen durch "Cocablätter-Lesen": Die Lage der Blätter deutete darauf hin, dass die "Orte der Kraft" Mamani berufen hatten und er sich auf seine künftige Aufgabe, Kranke zu heilen, vorbereiten sollte.

Foto: E. Winkler
Kopf mit Lippen-Kiefer--Spalte. Moche-Keramik. Privatsammlung Dr. Ernst J. Fischer.

Nach der Berufung begleitete Mamani einen erfahrenen Kallawaya, um bei ihm die Heilkunst mit allem, was dazu gehört, zu erlernen. Die mehrjährige Ausbildung endete mit der Initiation oder "Übertragung der weißen Hand". Dabei wurde, begleitet von speziellen Gesten und Gebeten, Mamanis bisheriger Lebenslauf erzählt und dargelegt, durch welche charakterlichen Eigenschaften und Fähigkeiten sich ein guter Heiler auszeichnet.

Mitunter beginnen junge Männer ihre Lehrzeit schon, bevor die "Orte der Kraft" sie berufen haben. Andererseits schließt nicht jeder berufene Schüler seine Ausbildung ab. Frauen finden auf anderen Wegen zum Heilberuf und werden nicht Kallawaya, sondern Hexen genannt.

Keine Krankheit ohne eigene Schuld

Das Krankheitsverständnis der Kallawaya hängt mit ihrem Weltbild zusammen. In allen sozialen Beziehungen herrscht eine ausgewogene Gegenseitigkeit beim Geben und Empfangen. Dieses Prinzip gilt auch für die Beziehungen der Menschen zu den Gottheiten.

Nach den Vorstellungen der Andenbewohner sind Berge, Gewässer und andere Topoi transzendente Wesen oder sie beherbergen solche. An erster Stelle der Gottheiten steht Pachamama, die allgegenwärtige Mutter Erde, die alles Leben hervorbringt. Alle anderen göttlichen Wesenheiten sind jeweils an einen Ort gebunden und Ansprechpartner für sehr unterschiedliche menschliche Anliegen.

Werden die einen in der Hoffnung um eine gute Ernte angerufen, so bitten die Andenbewohner andere "Orte der Kraft" um Regen. Weitere bewahren das Vieh vor Krankheiten oder schützen die Hütte. Die Menschen danken ihnen durch Nahrungsopfer und die gebührende Ehrerbietung.

Foto: E. Schwerin
"Weißes" Amulett aus Alabaster.

Stehen jedoch Geben und Nehmen zwischen einem Mensch und seinem sozialen und natürlichen Umfeld mitsamt den Gottheiten in einem Missverhältnis, wird er krank und muss Leiden unterschiedlichster Art ertragen: Schmerzen, organische Dysfunktionen, Stimmungstiefs, eine schlechte Ernte, Verlust von Angehörigen oder Vieh.



Heilungszeremonie

Um einen "Patienten" von seinen Leiden zu befreien, stellt der Kallawaya nach gründlicher "Anamnese" eine "Diagnose", die in irgendeiner "Opferschuld" besteht, und begleicht diese dann durch ein Ritual, das zugleich die Heilungszeremonie ist. Er behandelt also keine Symptome, sondern versucht, die aus dem Gleichgewicht geratenen Lebensumstände des Kranken wieder ins Lot zu bringen, wobei sowohl der Kranke selbst als auch seine Angehörigen mitwirken müssen.

Der Kallawaya bestimmt einen günstigen Zeitpunkt für die Heilungszeremonie und bereitet Opfergaben für Gottheiten, Geistwesen und die Ahnen des Kranken vor. Dessen Angehörige richten die Hütte her und nehmen am Ritual, das mehrere Stunden und zuweilen sogar eine ganze Nacht dauern kann, teil.

Neben solchen "weißen" Zeremonien, die an der "Opferschuld" des Kranken ansetzen, gibt es "schwarze" Rituale gegen Widersacher des Kranken, die sein Leiden verursacht haben, und Mischformen mit Elementen beider Verfahren.

Ein wichtiger Bestandteil der Rituale ist die "Mesa" (span. Tisch im Sinne von Esstisch): Der Kallawaya bastelt kleine Wollnester und füllt sie mit verschiedenen Opfergaben, wobei er Gebete, magische Formeln und Heilungswünsche spricht. Schließlich bringt er die Opfergaben auf den Weg zu den angerufenen transzendenten Wesen, indem er sie verbrennt, vergräbt oder ins Wasser wirft. 

Foto: E. Winkler
"Arznei"-Fläschchen zur Abwehr von Unheil.

Pflanzlicher Arzneischatz

Neben solchen sympathetischen Methoden spielen auch Phytotherapeutika eine wichtige Rolle in der andinen Heilkunde. Die Kallawaya und die Heilerinnen kennen über 300 "Arzneipflanzen", die sich nicht auf die Flora der kargen bolivianischen Hochebene beschränken, sondern teilweise im östlichen Tiefland Boliviens, in den Trockenwäldern und Dornbusch-savannen des Gran Chaco, der argentinischen Pampa oder den peruanischen und chilenischen Küstenstrichen wachsen. Als "Wanderheiler" sammeln die Kallawaya viele "Arzneidrogen" selbst.

Die wichtigste aller Drogen ist das Blatt des Cocastrauchs (Erythroxylum coca), der bereits seit einigen Jahrtausenden in den Anden angebaut wird. Es wird den Gottheiten geopfert, in der "Diagnostik" eingesetzt ("Cocablätter-Lesen") und bei der Höhenkrankheit gekaut, weil es die Sauerstoffaufnahme verbessert. Insbesondere bei "weißen" Ritualen wird wohlriechendes Harz von Nadelgehölzen aus der Tiefebene verbrannt. Zuweilen nutzen die Kallawaya auch in die Neue Welt eingeschleppte Spezies wie den Roten Fingerhut (Digitalis purpurea) als Arzneipflanze.

Das aus praktischen Erfahrungen gewonnene und von Generation zu Generation mündlich überlieferte Wissen um die Arzneipflanzen umfasst neben der "Pharmakologie" und den entsprechenden Indikationen auch die Botanik und die Ökologie. Es gibt sogar (in Quechua) eine botanische Taxonomie, die sich unabhängig vom Linnéschen System entwickelt hat, diesem aber hinsichtlich der binären Nomenklatur ähnelt: Die Heilkundigen kennen Bezeichnungen für Gattungen und stellen ihnen Adjektive zur Unterscheidung der Arten voran. Allerdings fassen sie die Gattungen nicht in Familien und Klassen zusammen.

Die Heilkunde klassifizieren die Phytotherapeutika – teilweise ähnlich der altweltlichen Humoralpathologie – nach Grundeigenschaften (z. B. heiß, warm, belebend, kühl, giftig) sowie ihren besonderen therapeutischen Eigenschaften. So wirken einige regulierend auf die Körperflüssigkeiten, reinigen die Gefäße, andere wiederum sind bei Störungen bestimmter Organfunktionen wie Verdauungsstörungen indiziert, wirken analgetisch oder fördern den Heilprozess von Haut-, Muskel- oder Knochenverletzungen. Meistens wird aus den Heilkräutern ein Tee zubereitet. Zuweilen werden sie aber auch geröstet, als Suppositorien, Massageöle oder Badezusätze appliziert.

In den 1980er Jahren begann die europäische und die US-amerikanische Pharmaindustrie sich für die Heilpflanzen der Kallawaya zu interessieren und 50 von ihnen – laut Berichten der Kallawaya – für die eigene Produktion zu nutzen. Verlässliche aktuelle Zahlen dazu gibt es nicht.

Gut bekannt ist hingegen, wie und wann einige klassische Arzneipflanzen aus der Neuen Welt in europäische Pharmakopöen Eingang gefunden haben, so schon sehr früh die Früchte des Cayennepfeffers (Capsicum frutescens), den die Ureinwohner Lateinamerikas u. a. bei Zahnschmerzen und Arthrose anwenden. Aus seinem Hauptwirkstoff Capsaicin wurde zusammen mit Belladonna und Arnika 1928 das ABC-Pflaster entwickelt.


Foto: E. Winkler
Allerlei Gegenstände, die ein Kallawaya für einen Heilritus benötigt. Foto: E. Winkler

Adaptierter Katholizismus

Nachdem die UNESCO im Jahr 2003 die Kallawaya-Kultur als "Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Weltkulturerbes" anerkannt hat, fand auch ihre Heilkunde international mehr Beachtung. Deren sympathetische Komponente wird aber meistens nicht ernst genommen, sondern eher als Aberglaube beurteilt. Dies sind die Kallawaya allerdings schon seit Jahrhunderten gewohnt. Nach der Eroberung und Missionierung Lateinamerikas durch die Europäer wurden sie wegen ihrer Religion und ihrer Rituale verfolgt, einige sogar auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Noch im 19. Jahrhundert drohten ihnen harte Strafen wie Stockschläge und Zwangsarbeit.

Die Kallawaya sind zwar katholisch, doch im Grunde haben sie nur einige Elemente wie den Glauben an Gott, Maria, Jesus und einige Heiligen in ihre eigene Religion und Weltanschauung integriert. So identifizieren sie St. Jakob den Älteren (Santiago), den Schutzpatron Spaniens und der Pilger, aber auch der Apotheker und Drogisten, mit Illapa, ihrem Blitz- und Donnergott. Jeder Kallawaya trägt auf seinen Reisen ein Amulett des Heiligen mit sich, das ihn vor Gefahren schützen und seine Kräfte wahren soll. Statuetten des Santiago dienen auch als wirkungsverstärkende Requisiten für Heilzeremonien.

Für manche Kallawaya sind auch Kreuze und Kruzifixe wertvolle Ritualgegenstände, die sie für die Weihe der Mesa und das Segnen von Kranken und Angehörigen benutzen. Andere christliche Symbole werden als Amulette getragen, die vor Unglück und vor Feinden schützen sollen.

Um 1900 gehörten Silberkreuze und -kruzifixe zur Reiseausrüstung jedes Kallawaya und waren zugleich Erkennungsmerkmale für den Berufsstand. Einer der letzten Kallawaya, die noch ein solches Kreuz trugen und bei ihren Ritualen verwendeten, war Federico Llaves aus Telinhuaya. Er erzählte Ina Rösing (1987), dass er auch mit diesem Kreuz begraben werden möchte.

Lieber ein Opfer zu viel als eins zu wenig

Wie andere Menschen auch, sorgen sich die Andenbewohner um ihre persönliche Zukunft. Sie wissen, dass sie trotz größter Aufmerksamkeit gegenüber den transzendenten Wesen ein Opfer schuldig bleiben können. Denn deren Anzahl ist zu groß, um sie alle regelmäßig mit Gaben und der gebührenden Achtung bedenken zu können. Deshalb bringen die Menschen im Haus, an Wegkreuzungen, Bergpässen und anderen "Orten der Kraft" vorsorglich kleine Opfer dar.

Viele Menschen tragen Amulette: Weiße Amulette sollen gute Einflüsse auf ihren Träger lenken, graue sollen böse Kräfte abwehren und schwarze den Widersachern Schaden zufügen. Sie alle werden aber erst durch Rituale wirksam. Zur Einweihung einer neuen Hütte, vor Antritt einer längeren Reise oder zu anderen Gelegenheiten sollen "weiße" Zeremonien gute Zustände herbeiführen.

Darüber hinaus veranstalten die Dorfgemeinschaften mehrere alljährliche wiederkehrende Kollektivrituale zur Sicherung ihrer Existenz: für ein gutes Gedeihen der Aussaat, für Regen, Gesundheit von Mensch und Vieh und die Erfüllung vieler anderer Bedürfnisse im bäuerlichen Alltag.

Nach jahrhundertelangen Verfolgungen durch Eroberer und Missionare geriet das kulturelle Erbe der Kallawaya Mitte des 20. Jahrhunderts abermals in Bedrängnis: Mit der Agrarreform von 1952 hob die bolivianische Regierung nicht nur den Großgrundbesitz und die Leibeigenschaft auf, sondern sie verbot auch die Kollektivrituale als "Ausdruck magischen Denkens" und wegen der mit den Feiern verbundenen "Exzesse".

Doch prompt revanchierten sich die Gottheiten und verweigerten nach dem Ausbleiben von Ritualen und Opfern ihre Gaben an die Menschen: "Wir hatten inzwischen einen Notstand. Weniger und weniger wuchs und gedieh. Und so haben wir uns wieder unserer Traditionen erinnert. Seit Anbeginn der Welt ist dies so gefügt; die Erde ist es gewohnt, mit Opfergaben versorgt zu werden", heißt es in einem zeitgenössischen Bericht von Zenon Blanco aus Saganacón.


Reinhard Wylegalla


Ausstellung


Grassi Museum für Völkerkunde

Johannisplatz 5 – 11, 04103 Leipzig

Tel. (03 41) 97 31-9 00, Fax 97 31-9 09

www.mvl-grassimuseum.de

Geöffnet: dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr

Katalog "Kallawaya – Heilkunst in den Anden": 158 S., 13,80 Euro (im Museum)

Parallel zur Ausstellung werden im Universitätsklinikum Leipzig Fotos von Ina Rösing gezeigt.

Website von Ina Rösing:

www.ina-roesing.de



DAZ 2011, Nr. 13, S. 130

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