Botulinumtoxin

Botulinumtoxin –ein sicheres Therapeutikum

Die muskelrelaxierende und anticholinerge Wirkung von Botulinumtoxin wird heute in vielen Bereichen der Medizin von Neurologen, Dermatologen, Orthopäden, HNO-Ärzten, Urologen und Kieferorthopäden ausgenutzt. Es gilt als ein sicheres Medikament, dessen erwünschte und unerwünschte Wirkungen sehr gut voraussehbar sind. Dem ging ein langer Entwicklungsprozess voraus, an dessen Anfang schwere Lebensmittelvergiftungen mit dem Toxin standen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben den Weg für die therapeutische Nutzung geebnet.

Die durch Botulinumtoxin hervorgerufenen muskelrelaxierenden und anticholinergen Wirkungen wurden zunächst nach Verzehr von verdorbenen Lebensmittelkonserven beobachtet. Als erster befasste sich der später auch als Dichter bekannt gewordene Justinus Kerner 1817 intensiver mit dem Krankheitsbild. Er beschrieb und analysierte sieben Krankheitsfälle, bei denen es im Anschluss an den Genuss von Wurstkonserven zu Mundtrockenheit, Pupillenverengung (Mydriasis), Doppelbildern und schließlich auch zu Lähmungen (Paresen) kam. Schon Kerner machte ein in den verdorbenen Lebensmitteln vorhandenes Gift für die Symptome verantwortlich. Er nannte es, bezugnehmend auf den lateinischen Begriff "botulus" für Wurst, Botulinustoxin. Im heutigen Sprachgebrauch hat sich Botulinumtoxin durchgesetzt.

Ende des 18. Jahrhunderts identifizierte der Belgier Pierre van Ermengen das Bakterium Clostridium botulinum als toxinbildenden Erreger. Als Teilnehmer einer Hochzeitsgesellschaft wurde er Zeuge einer akuten Vergiftung bei mehreren Gästen und konnte in einem kontaminierten Schinken etwa 10 bis 20 µm große, anaerobe sporenbildende Bakterien nachweisen.

Heute kennt man sieben verschiedene Typen vonBotulinumneurotoxinen (BoNT): Botulinumtoxin A, B, C, D, E, F und G. Es handelt sich dabei um hochmolekulare Proteine, die von Clostridium botulinum unter anaeroben Bedingungen produziert werden. Sie unterscheiden sich sowohl immunologisch als auch in ihrer klinischen Wirkung.

Botulinumtoxin A gilt mit einer mittleren letalen Dosis (LD50) von 2,6 x 10-4 µg/kg als das stärkste bekannte Gift überhaupt. Die Substanz war daher lange in den Militärarsenalen verborgen und diente als biologische Abschreckungswaffe.

Auch wenn schon Kerner einen möglichen therapeutischen Nutzen diskutierte, wurde erst Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts die pharmakologische Wirkung untersucht. Alan Scott am Smith-Kettlewell-Institut in San Francisco zeigte zunächst tierexperimentell und später an Patienten, dass sich eine Schielfehlstellung eines Auges durch komplementäre Lähmung des überaktiven antagonistischen Muskels mit Botulinumtoxin vorübergehend korrigieren ließ. Als sich zeigte, dass die Wirkung nur lokal war und keine der befürchteten generalisierten Wirkungen auftraten, folgten Anwendungen bei Patienten mit umschriebener muskulärer Überfunktion in der Neurologie.

Klinische Anwendung findet heute fast ausschließlich Botulinumneurotoxin Typ A (BoNTA). Es besteht aus zwei durch Schwefelbrücken verbundenen Ketten, einer leichten und einer schweren Kette, die in einem Protein-Hämagglutininkomplex eingelagert sind. Die schwere Kette ist hierbei für die spezifische Bindung und die Aufnahme mittels Endocytose in das terminale Axon der neuromuskulären Endplatte verantwortlich. Nach Aufnahme ins Axon wird aus dem Molekül die leichte Kette abgespalten, sie ist für die eigentliche toxische Wirkung als Metalloprotease verantwortlich (siehe Grafik). Diese Metalloendopeptidase ist nun in der Lage, Proteine wie Synaptobrevin zu spalten, die für die Fusion der Acetylcholin-Vesikel mit der präsynaptischen Membran verantwortlich sind. Es kommt zu einer Proteolyse von spezifischen Proteinen, die für die Exozytose der Acetylcholinvesikel aus dem Axon notwendig sind. Im Speziellen führt BoNTA zur Hydrolyse des synaptosomalen SNAP-25-Proteins, so dass die Freisetzung von Acetylcholin aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt unterbrochen wird. Die nachgeschalteten Muskelfasern können sich nicht mehr kontrahieren und sind gelähmt. Erst mit der Neubildung von Nervenzellen können die Muskeln wieder kontrahiert werden. Der klinische Effekt der Muskelrelaxation durch Botulinumtoxin A hält im Mittel etwa drei Monate an, etwas länger für den Hemispasmus facialis, gelegentlich kürzer beim Blepharospasmus. Der Effekt an den cholinergen Schweißdrüsen kann bis zu neun bis zwölf Monate anhalten. Eine Steigerung der Dosis bewirkt in erster Linie eine stärker ausgeprägte Parese und hat nur unwesentlichen Einfluss auf die Wirkdauer.

Über den Metabolismus von BoNT gibt es nur unzureichende Daten. Die lange biologische Wirksamkeit beruht zum einen auf der Notwendigkeit einer aktiven Reparatur des irreversibel geschädigten Exozytoseapparates in der Zelle, andererseits geht man auch von lange persistierenden Toxinmengen in der neuromuskulären Endplatte aus.

Viele Anwendungsmöglichkeiten – häufig Off label

Durch den Wirkmechanismus und die Anwendungssicherheit ergeben sich eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten, bei denen eine Hemmung einer somato- oder viszeromotorischen oder cholinerg-autonomen Funktion erwünscht ist. Für sehr viele diese Bereiche wurde auch ein klinischer Effekt gezeigt und Botulinumtoxin routinemäßig eingesetzt. Für die meisten besteht allerdings keine Zulassung, so dass die Anwendung off label ist.

In Deutschland ist Botulinumtoxin nur zur Behandlung von einigen fokalen Dystonien (des idiopathischen rotatorischen Torticollis spasmodicus, des Blepharospasmus mit koexistierenden fokalen Dystonien und des hemifazialen Spasmus) sowie bei verschiedenen Formen der Spastik (bei Spitzfußstellung bei Patienten mit infantiler Zerebralparese bzw. mit fokaler Spastizität des Handgelenks und der Hand nach Schlaganfall) zugelassen. Für ein Präparat (Botox®) besteht zusätzlich die Zulassung für die Indikation einer starken fortbestehende axillären Hyperhidrosis.

Anwendung bei Schiefhals ...

Der Hauptanwendungsbereich in der Neurologie lag lange Zeit im Bereich der fokalen Dystonien. Dies sind Krankheitsbilder, die durch eine ungleichmäßige Aktivierung von vorwiegend tonischen Muskeln charakterisiert sind und mit Halteanomalien einhergehen. Klassisches Beispiel ist die zervikale Dystonie, auch als Schiefhals bezeichnet. Hier führt ein funktionelles Übergewicht des ipsilateralen M. splenius und des kontralateralen M. sternocleidomastoideus zu einer unwillkürlichen Drehung oder abnormen Haltung des Kopfes. Der Patient kann den Kopf nur mit Mühe und Anstrengung, oft nur vorübergehend in der Mitte halten oder zur Gegenseite drehen. Typisch ist aber, dass der Kopf durch eine leichte Berührung des Kinns, der sogenannten Geste antagoniste, vorübergehend gerade gehalten werden kann. Bei anderen Formen steht eine Neigung des Kopfes zur Seite (Laterocollis) nach hinten (Retrocollis) oder nach vorne (Anterocollis) im Vordergrund. Sekundär entstehen Schmerzen und Veränderungen der knöchernen und bindegewebigen Strukturen.

Die Erkrankung tritt häufig subakut auf und bleibt dauerhaft. Es kommt nur selten zu einer bleibenden Spontanremission. Die Ursache und der genaue Pathomechanismus sind unklar. Da sich solche Bilder durch elektrische Reizung bestimmter Strukturen in den Basalganglien (z. B. des Nervus subthalamicus) erzeugen lassen und ischämische Läsionen dieser Strukturen vorhanden sein können, gilt eine Funktionsstörung der Basalganglien als belegt. Da sich in den meisten Fällen jedoch keine Läsionen finden, geht man von einem idiopathischen Krankheitsbild aus, für das weder der exakte Auslöser noch der Schädigungsmechanismus bekannt ist.

Diese zervikale Dystonie und auch der im folgenden beschriebene Lidkrampf (Blepharospasmus), wurden deswegen lange als psychogen angesehen. Teilweise wurden für den ein- oder beidseitigen Lidkrampf, der vom heftigen Blinzeln bis zum vollständigen Verschluss der Augen für mehrere Stunden reichten kann, bizarre tiefenpsychologische Erklärungsmodelle entwickelt. Problematisch war insbesondere eine fehlende medikamentöse Behandlungsmöglichkeit. Die meisten Therapieansätze basierten auf einer zentralen anticholinergen oder antidopaminergen Therapie. Hiermit waren die Beschwerden in den meisten Fällen nur geringfügig zu bessern, ausgeprägte Nebenwirkungen waren dagegen häufig.

Mit Botulinumtoxin lässt sich dieses funktionelle muskuläre Ungleichgewicht noninvasiv korrigieren. Injiziert wird in die betroffenen überaktiven Muskeln, die aus dem Halte- und Bewegungsmuster ableitbar sind. Tiefer gelegene Muskeln werden hierbei leicht durch begleitende elektromyographische Ableitungen identifiziert, die bei dystonen Muskeln ein dichtes Aktivierungsbild zeigen. Bei sehr komplexen Bildern kann eine Bildgebung (CT oder MRT) nützlich sein, um die relevanten Muskeln an Hand ihrer Hypertrophie zu erkennen.

Unerwünschte Wirkungen sind durch Diffusion zu benachbarten Muskeln bedingt. Zu beachten ist, dass vorne am Hals gelegene Muskeln wie der M. sternocleidomastoideus sehr weit kranial behandelt werden, um eine Diffusion zu den Muskeln des Schluckapparates zu vermeiden. Leichte passagere Schluckstörungen können in etwa 5% der Fälle auftreten und sind zumeist harmlos. Schwere funktionell bedeutende Schluckstörungen sind sehr selten. Eine Überdosierung im Nackenbereich kann zu einer vorübergehenden Kopfhebeschwäche führen.

... und Lidkrampf

Der Lidkrampf weist bei vorwiegend etwas älteren Patienten (im Mittel 55 Jahre) ein Spektrum auf, das von vermehrtem Lidschlag bis hin zur festen Verkrampfung der periorbitalen Muskulatur reicht. Die Patienten haben oft ein Fremdkörpergefühl, die Augen wirken gereizt und blendungsempfindlich. In Perioden eines ausgeprägten Lidkrampfs besteht sogar funktionelle Blindheit.

Die Dystonie bleibt oft nicht auf die Augen beschränkt, sondern breitet sich auf die gesamte mimische und oromandibuläre Muskulatur aus. Man spricht von koexistenten oromandibulären Dyskinesien oder dem Meige-Syndrom.

Hilfe bei Hemispasmus facialis

Beim Hemispasmus facialis kommt es zu unwillkürlichen synchronen Myoklonien der fazialen Muskulatur einer Gesichtshälfte, die in hoher Frequenz fast tonisch wirken kann. Er äußert sich zuerst periorbital, wobei es zu einem Zusammenkneifen des Auges kommt. Die Ausdehnung auf die Wangenmuskulatur führt zu Zuckungen und einem Verziehen des Mundes, was von den Patienten als sehr unangenehm empfunden wird.

Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Störungen ist der Hemispasmus facialis keine fokale Dystonie. Er wird in über 90% der Fälle vielmehr durch Druck der Arteria cerebelli inferior anterior im Kleinhirnbrückenwinkel auf den Nervus facialis ausgelöst. Eine kausale Therapie ist durch die so genannte Janetta-Operation, einer Dekompression des Nerven mit Interponat eines Vliesstreifens zwischen Nerv und Gefäß möglich. Die Operation ist allerdings nicht ohne Risiko und sollte nur von einem sehr erfahrenen Operateur durchgeführt werden. Alternativ ist die symptomatische Behandlung mit Botulinumtoxin eine relativ risikolose Alternative vor allem für ältere Patienten, die das Risiko einer solchen Operation scheuen.

Die Injektionen erfolgen an verschiedenen Stellen des palpebralen und orbitalen Anteils des M. orbicularis oculi. Zu beachten ist ein ausreichender Sicherheitsabstand zur Mittellinie, wo der M. levator palpebrae liegt. Es kommt dennoch gelegentlich zu einer Diffusion von Botulinumtoxin zu diesem Muskel, was zu einem Herabhängen des Oberlids, also einer Ptose führen kann. Sie bildet sich aber in den meisten Fällen innerhalb von zehn bis vierzehn Tagen wieder zurück.

Schreibkrampf lässt sich lösen

Im Gegensatz zu den beschriebenen konstanten Dystonien stellt der Schreibkrampf eine so genannte beschäftigungsinduzierte Dystonie dar. Dabei kommt es beim Schreiben zu einer Verkrampfung der Hand und der Finger. Der Stift kann nicht mehr gezielt geführt werden, das Schriftbild ist unleserlich. Nach wenigen Minuten kommt es zu einer schmerzhaften Fehlstellung, ein automatisiertes Schreiben ist nicht mehr möglich. Die Behandlung dieser komplexen Störung sollte einem erfahrenen Behandler überlassen werden. Er kann durch Injektion von Botulinumtoxin in wenige Muskeln oft eine deutliche Besserung der Schreibfähigkeit erreichen.

Individuelle Therapieziele bei Spastik

Im Gegensatz zu den Dystonien liegt bei der Spastik keine einfache Überaktivierung von Muskeln vor, sondern das komplexe Bild eines Nebeneinander von Plussymptomen. Dazu zählen gesteigerte Dehnungsreflexe und assoziierte Reaktionen neben Defiziten wie Kraftminderung und eine gestörte Feinmotorik. Sehr viel stärker noch als bei den Dystonien kommt es zu sekundären Problemen wie Gelenkfehlstellungen, vegetativen Störungen und Schmerzen.

Steht bei der Dystonie die Korrektur hin zur Normalsituation im Vordergrund, müssen bei der Spastik individuelle Therapieziele definiert werden. Sie sind sehr abhängig von der spezifischen Ausprägung. So kann etwa bei einer leichten Hemiparese, bei der die Feinmotorik durch assoziierte Reaktionen beeinträchtigt ist, durch gezielte Abschwächung weniger Muskeln beispielsweise die Fähigkeit zum Pinzettengriff ermöglicht werden.

Häufiger ist die Situation einer schwereren Spastik mit dem typischen Muster einer Schulteradduktion, Beugung im Ellenbogengelenk und Beugung der Hand- und Fingergelenke. An den unteren Extremitäten findet man meist eine Streckspastik mit Spitzfußstellung, die zu dem typischen zircumduzierenden Gangbild führt.

Auch bei diesen Mustern kann in einigen Fällen ein gewisser funktioneller Benefit erreicht werden. Oft kann die Möglichkeit, wieder grob zupacken zu können, die Mobilität und das Gleichgewicht verbessern. Vielfach steht jedoch eine Linderung von Schmerzen und insbesondere eine Erleichterung der Pflege im Vordergrund. Die Hand oder Finger sind oft so stark gebeugt, dass alleine die Reinigung und Nagelpflege ohne eine Lockerung der Muskulatur nicht möglich ist.

An den unteren Extremitäten ist der Einsatz von Botulinumtoxin nur beim spastischen Spitzfuß in Folge einer infantilen Zerebralparese zugelassen. Allerdings wird im klinischen Alltag auch der Spitzfuß bei Hemiparese mitzubehandeln sein. Injektionen in die Wadenmuskulatur sind wirksam, wobei durch den erfahrenen Anwender zu beurteilen ist, welche Einzelmuskeln mit welcher Dosis behandelt werden müssen, um zum Beispiel eine ausreichende Stabilität im Knie oder Sprunggelenk zu erhalten.

Anders als bei den Dystonien stellt die Behandlung mit Botulinumtoxin bei der Spastik nur einen Baustein einer Therapiekaskade dar, die effektiv nur in einem Teamsetting möglich ist. Eine Verbesserung der Körperfunktionen kann nur erreicht werden, wenn die durch Botulinumtoxin induzierte Tonusreduktion durch mechanische Verfahren wie Redression unterstützt und durch funktionelle physio- und ergotherapeutische Maßnahmen ergänzt wird. Während Dystonien fortlaufend behandelt werden, gibt es hinsichtlich der Spastik keine klaren Richtlinien über die Dauer der Therapie. Auch aus diesem Grund sollten klare Therapieziele definiert werden.

Botulinumtoxin bei übermäßiger Schweißproduktion ...

Eine axilläre Hyperhidrose ist häufig sehr unangenehm und durch die verbundenen Gerüche sozial stigmatisierend. Da konservative Behandlungsversuche (Deodoranzien) häufig nicht ausreichend sind, ist Botulinumtoxin oft das Mittel der Wahl. Die Injektion in beide Axeln, verteilt auf etwa 20 subkutane Injektionsstellen, führt zu einer deutlichen Reduktion der Schweißneigung. Sie kann bis zu sechs Monate anhalten.

.. und Stimmbildungsstörungen

Eine Sonderform einer Dystonie stellt die spasmodische Dysphonie dar. Bei der Stimmbildung kommt es zu einem Aneinanderpressen von Stimmlippen und Taschenfalten des Kehlkopfs, was dazu führt, dass die Stimme angestrengt gepresst, scheppernd und heiser klingt. Eine funktionelle Parese des M. vocalis durch BoNT verbessert die Stimmqualität erheblich. Bei einer laryngoskopisch durchgeführten Injektion werden oft nur sehr kleine Dosen benötigt, so dass eventuelle Nebenwirkungen wie Schluckstörungen oder ein Engegefühl nur selten und gering ausgeprägt auftreten. Alternativ kann auch transkutan, elektromyographisch gesteuert, injiziert werden. Der Effekt hält etwas vier bis fünf Monate an.

Neue Indikation Blasenstörungen

Eine relativ neue Indikation ist die Behandlung von Blasenstörungen. Bei einer Störung der Blasenfunktion führen insbesondere eine Überaktivität des Detrusors oder eine Dyssynergie zwischen Detrusor und Sphinkter zu teils schmerzhaftem häufigem Harndrang. Häufig betroffen sind Patienten mit einem Parkinson-Syndrom, die unter zumeist therapieresistenter nächtlicher Pollakisurie leiden. Große Probleme haben auch Querschnittspatienten mit spastischer Blase, sofern keine Dauerurinableitung indiziert ist. Die Injektionen erfolgen zystoskopisch zumeist in Narkose. Hierbei sind vergleichsweise hohe Dosen erforderlich.

Sehr gute Behandlungsergebnisse liefert die perianale Injektion von Botulinumtoxin bei Analfissuren. Durch Relaxation des externen Sphinkters können diese meist problemlos abheilen. Eine dabei auftretende leichte Inkontinenz ist in der Regel unproblematisch.

Hinweise auf analgetischen Effekt

In der Schmerztherapie ist Botulinumtoxin mit großen Erwartungen getestet worden. Neben der muskelrelaxierenden Wirkung gibt es auch Hinweise auf einen direkten analgetischen Effekt. Die Ergebnisse sind allerdings widersprüchlich. So ist die Studienlage für die Migräne und den Spannungskopfschmerz uneinheitlich, obwohl einzelne Patienten sehr gut ansprechen. Bei medikamentös austherapierten Patienten kann daher ein Behandlungsversuch lohnen. Relativ gute Ergebnisse zeigt die Anwendung von Botulinumtoxin bei der Myarthropathie, dem Bruxismus und anderen funktionellen muskulären Hyperaktivitäten im Kieferbereich. Kontrollierte Studien hierüber existieren bislang allerdings nur in unzureichendem Maße.

Mehrere Präparate sind auf dem Markt

Auch wenn mittlerweile hochreine rekombinante Toxine zur Verfügung stehen, werden klinisch ausnahmslos Substanzen verwendet, die aus Kulturüberständen von Clostridium-botulinum -Stämmen aufbereitet werden.

Anfang der neunziger Jahre wurden zwei Präparationen, eine amerikanische Charge unter der Bezeichnung Botox® und ein englisches Produkt unter dem Namen Dysport® zur Behandlung des rotatorischen Torticollis, des Blepharospasmus und des Hemispasmus facialis zugelassen. Botox® wird in einer Dosierung von 100 Mouse Units (MU) pro Vial, Dysport® in einer Dosierung von 500 MU pro Vial angeboten. Die biologische Potenz ist trotz der gleichen Maßeinheit pro Mouse Unit unterschiedlich und war Gegenstand vieler Diskussionen und Untersuchungen. Ein Verhältniss von vier Dysport® -Einheiten zu einer Botox® -Einheit gilt heute allgemein als akzeptiert.

Die Zulassung wurde mittlerweile für beide Präparate um die Armspastik nach Schlaganfall erweitert. Botox® hat ferner eine Zulassung für die axilläre Hyperhidrose und (in einer niedrigeren Dosis von 50 MU/Vial) für kosmetische Anwendungen. Für kosmetische Anwendungen ist in Deutschland auch das Botulinumtoxin-A-Präparat Vistabel® zugelassen.

Im Jahre 2000 wurde ein Botulinumneurotoxin Typ B unter dem Namen Neurobloc® auf den Markt gebracht. Trotz Zulassung für die primäre Behandlung von fokalen Dystonien gelangte es zumeist nur als Ersatzpräparat für solche Patienten zur Anwendung, die durch Antikörper gegen Botulinumtoxin Typ A nicht mehr auf die Therapie ansprachen. Viele dieser Patienten entwickelten dann aber rasch auch Antikörper gegen Typ B, so dass die Bedeutung von Neurobloc® nur gering ist.

2005 gelangte mit dem in Deutschland hergestellten Xeomin® ein weiteres Botulinumtoxin A auf den Markt, welches sich durch einen geringeren Anteil von unspezifischem Hämagglutinin und Komplexprotein von den anderen beiden unterscheidet. Hintergrund ist die Annahme, dass die Komplexproteine an der Antikörperinduktion beteiligt sind. Auch wenn größere Studien fehlen, die eine geringere Antikörperbildung zeigen, gibt es erste Beobachtungen, dass Patienten, die bereits eine Behandlungsresistenz aufgrund von Antikörpern gegen Botulinumtoxin A entwickelt hatten, nach einer Pause mit gutem Effekt und ohne offensichtlich neue Antikörperbildung mit Xeomin® zu behandeln waren.

Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr. med. T. Vogt

Botulinumtoxin-Ambulanz

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Langenbeckstr.

55101 Mainz
In der Kosmetik wird Botulinumtoxin zur Faltenreduzierung eingesetzt. Das Toxin wird in die Falten injiziert mit der Folge, dass die Muskelanspannung nachlässt und die Falten zurückgehen.
Botulinumtoxin A eignet sich insbesondere für Verminderung von Stirnfalten, "Zornesfalten" und "Krähenfüßen". Falten im mittleren Gesichtsbereich lassen sich nur bedingt mit Botulinumtoxin A behandeln, da die Mimik, wie beispielsweise das Lächeln, beeinträchtigt werden kann. Ästhetische Chirurgen weisen darauf hin, dass die Injektion von Botulinumtoxin A in Falten im allgemeinen gut verträglich ist. Dennoch können Nebenwirkungen auftreten. Dazu zählen Blutergüsse an den Injektionsstellen. Verteilt sich das Toxin im Gewebe, sind Beeinträchtigungen anderer Muskeln möglich. Das kann beispielsweise zum Herabhängen des Oberlids oder der Braue führen. Bei der Behandlung von Krähenfüßen wird auf das Auftreten von vorübergehenden Sehstörungen (Doppelbilder) hingewiesen.
Eine erste Wirkung der Behandlung ist nach etwa ein bis drei Tagen sichtbar, die maximal erreichbare nach etwa ein bis zwei Wochen. Die Wirkung der Injektion hält bei den meisten Patienten etwa drei bis sechs Monate an.
Das Krankheitsbild des Botulismus wurde erstmals 1820 beschrieben und als "Wurstvergiftung" bezeichnet. Der Nachweis von Clostridium botulinum als Erreger gelang 70 Jahre später aus einem ranzigen Schinkenrest und dem Mageninhalt eines verstorbenen Patienten. Der grampositive, sporenbildende, anaerob wachsende Keim ist selbst nicht für die klinische Symptomatik verantwortlich. Diese wird durch das von ihm gebildete Neurotoxin verursacht. Es hemmt die Acetylcholinfreisetzung und blockiert so die neuromuskuläre Erregungsübertragung. Das Botulinumtoxin ist das stärkste für den Menschen bekannte Bakterientoxin: 0,01 mg sind tödlich. Von den sieben bekannten Toxinarten sind für den Menschen A, B und E (seltener auch F) gefährlich. Die Aufnahme erfolgt durch kontaminierte Lebensmittel, insbesondere durch unsachgemäß zubereitete Konserven und Räucherwaren.
Das klinische Bild der ausgelösten Lebensmittelvergiftung beginnt in der Regel zwölf Stunden bis wenige Tage nach Aufnahme des Toxins. Die Betroffenen klagen zunächst über Übelkeit, gefolgt von Obstipation und neurologischen Ausfällen wie unscharfem Sehen, Doppelbildern, Ptosis, Dysphagie und schließlich symmetrischen absteigenden Paresen und Lähmungen der Atemmuskulatur. Es muss mit einer Letalität von mindestens 10% gerechnet werden.
[Quelle: Epidemiologisches Bulletin 2003; Nr. 3 S. 19.]
Wie Botulinumtoxin Muskeln lahm legt

Botulinumtoxin besteht aus zwei Proteinketten, einer leichteren (B) und einer schwereren (A). Mit der A-Kette bindet das Toxin an den präsynaptischen Teil der neuromuskulären Endplatte an und wird durch Endocytose in die Synapse des motorischen Neurons aufgenommen. Dann spaltet sich die B-Kette, eine Metalloendopeptidase, ab und ist nun in der Lage, Proteine wie Synaptobrevin zu spalten, die für die Fusion der Acetylcholin-Vesikel mit der präsynaptischen Membran verantwortlich sind. Damit wird die Acetylcholinfreisetzung in den synaptischen Spalt unterbunden, die betroffenen Muskeln können sich nicht mehr kontrahieren. Um zum Beispiel Synaptobrevin fortlaufend zu inaktivieren, reicht ein Molekül Botulinumtoxin. Der Prozess endet erst mit dem Untergang der Nervenzelle, die nachgeschalteten Muskeln sind gelähmt. Erst mit der Neubildung von Nervenzellen können die Muskeln wieder kontrahiert werden. (Quelle: www.labor-spiez.ch)
Übermäßiges Schwitzen , auch der Hände, lässt sich erfolgreich mit Botulinumtoxin unterbinden.
Foto: Priv.-Doz. Dr. Daniela Bruch-Gerharz, Düsseldorf
Botulinumtoxin besteht aus zwei unterschiedlich langen Proteinketten. Mit ihm lassen sich nicht nur Falten glätten.
Foto: SPL/Agentur Focus
Clostridium botulinum produziert unter anaeroben Bedingungen Botulinumneurotoxine.
Foto: SPL/Agentur Focus
Der Schiefhals ist einer der Indikationen, bei denen Botulinumtoxin eingesetzt werden kann.
Foto: SPL/Agentur Focus

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