Arzneimittel und Therapie

Vom Wurstgift zum Multitalent

Neue Indikationen und weiterentwickelte Formulierungen für Botulinum-Toxin

Von Claudia Bruhn | Botulinum-Toxine zählen heute zu den vielseitigsten Wirkstoffen in der Medizin. Dank eines zunehmenden Verständnisses ihrer molekularen und pharmakologischen Eigenschaften werden immer mehr Anwendungsgebiete erschlossen und in Studien geprüft. Dabei begnügt man sich nicht mehr mit der Applikation des stark verdünnten Toxins. Mithilfe moderner biotechnischer Verfahren haben Forscher beispielsweise Formulierungen entwickelt, bei denen es als Konjugat mit anderen Wirkstoffen vorliegt.
Foto: Science Photo Library / EYE OF SCIENCE
Clostridium botulinum ist ein grampositives, anaerobes, sporenbildendes Bakterium mit einer Länge zwischen 2 und 10 µm. Namensgebend war seine Isolierung aus Wurst (lat. botulus). Neueren Erkenntnissen zufolge scheint es nicht der einzige Mikro­organismus zu sein, der Botulinum-Neurotoxine produziert. Auch das Bakterium Weissella oryzaae, das aus fermentiertem japanischem Reis isoliert wurde und nicht zu den Clostridien, sondern zur Familie der Leuconostocaceae gehört, ist dazu in der Lage [14]. (Raster-Elektronenmikroskopiche Aufnahme, Vergrößerung 12.000 : 1)

Die Botulinum-Neurotoxine (BoNT) umfassen derzeit eine Gruppe von mindestens sieben Serotypen (A bis G) und mehr als 40 Subtypen. Die genaue Zuordnung neu isolierter Toxine bereitet mitunter Schwierigkeiten. So wird beispielsweise der 2013 erstmalig beschriebene achte Serotyp H sowohl als BoNT/H, als BoNT/FA oder auch als BoNT/HA klassifiziert. Ein weiterer Serotyp, BoNT/X, wurde erstmalig 2016 beschrieben [1]. Man fand auch heraus, dass einige Clostridium-botulinum-Stämme Neurotoxine mit Mosaik-Struktur wie BoNT/CD oder BoNT/DC produzieren können. Kürzlich hat eine internationale Arbeitsgruppe, darunter auch Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts Berlin und des Instituts für Toxikologie der Medizinischen Hochschule Hannover, Richtlinien für eine Botulinum-Neurotoxin-Nomenklatur erarbeitet, die zur Vereinheit­lichung beitragen sollen [2].

Antikörper unter Botulinum-Toxin

Wird Botulinum-Toxin über einen längeren Zeitraum intramuskulär injiziert, um z. B. bei fokalen Dystonien Krämpfe zu lösen, entwickeln einige Patienten neutralisierende Antikörper. Wie oft das auftritt und unter welchem Botulinum-Toxin, untersuchten Neurologen der Universität Düsseldorf. Sie beobachteten 596 Patienten mit verschiedenen Dystonie-Indikationen, die innerhalb eines Jahres mindestens vier Botulinumtoxin-Injektionen erhalten hatten und noch auf die Behandlung ansprachen. Nach zehn Jahren Behandlungsdauer konnten bei 83 Patienten (14%) Antikörper nachgewiesen werden. Die Auswertung ergab, dass die Wahrscheinlichkeit der Antikörperbildung sich mit der Häufigkeit der Injektion, der Einzeldosis und mit der kumulierten Dosis erhöhte und dass auch die Formulierung des Botulinumtoxin-Typ-A-Präparats einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Antikörper-Bildung hatte: Unter Incobotulinumtoxin A (Xeomin®) traten keine Antikörper auf, unter Abobotulinumtoxin A (Dysport®) entwickelten 6% der Patienten Antikörper und unter Onabotulinumtoxin A (Botox®) 7%. Bei welcher Indikation und wie lange das Toxin eingesetzt wurde, spielte keine Rolle. Die Autoren empfehlen, möglichst lange Behandlungsintervalle zu wählen sowie möglichst geringe Dosierungen einzusetzen.

Quelle
Albrecht P, Jansen A, Lee JI, Moll M. High prevalence of neutralizing antibodies after long-term botulinum neurotoxin therapy. Neurology 2019;92:1-7

Vielzahl von Indikationen

Bislang werden nur die Serotypen A und B therapeutisch genutzt. Sie kommen bei verschiedenen, überwiegend neurologischen Indikationen (s. Tabelle) sowie in der ästhetischen Medizin (ausschließlich Botulinum-Neurotoxin Typ A) zum Einsatz. Botulinum-Neurotoxine bestehen aus einer C-terminalen schweren, nichttoxischen Protein­kette (ca. 100 kDa), dem Hüllprotein, und einer N-terminalen leichten Kette, dem eigentlichen Neurotoxin (ca. 50 kDa). Sie sind über eine Disulfidbrücke miteinander verbunden. Das Hüllprotein, das außerdem als Schutz vor dem proteolytischen Abbau im Magen dient, bindet an Serotyp-spezifische Rezeptoren an der präsynaptischen Nervenzellmembran. Über Endozytose wird das Botulinum-Neurotoxin in die Nervenzelle aufgenommen, wo sich beide Ketten trennen. Im Zytosol spaltet die leichte Kette, eine Zink-abhängige Endopep­tidase, synaptische Proteine wie beispielsweise SNAP-25 (synaptosome-associated protein-25), die für die Freisetzung von Acetylcholin aus den Vesikeln der Nervenzellendigung in den synaptischen Spalt verantwortlich sind. Wenn Acetylcholin nicht in den synaptischen Spalt gelangen kann, wird die Impulsübertragung vom Nerv auf den Muskel unterbrochen, es kommt zu einer fortschreitenden Paralyse der Muskulatur. Innerhalb von etwa zwölf Wochen nach einer Behandlung mit Botulinum-Neurotoxin haben sich die Nervenzellen soweit regeneriert, dass die Impulsübertragung wiederhergestellt ist.

Tab.: Indikationen von Botulinum-Toxin (außer Faltenbehandlung)
Indikation
Erläuterung
Botulinum-Neurotoxin-Typ
Präparate
Blasenfunktionsstörung
idiopathische überaktive Blase
neurogene Detrusorüberaktivität wegen Rückenmarksverletzung oder multipler Sklerose
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
Blepharospasmus
außerdem hemifazialer Spasmus und koexistierende fokale Dystonien (außer Xeomin®)
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
Abobotulinumtoxin A (Dysport®)
Incobotulinumtoxin A (Xeomin®)
Hyperhidrosis axillaris
starke, fortbestehende, primäre Form
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
Torticollis spasmodicus
Schiefhals wegen zervikaler Dystonie
A/B
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
Abobotulinumtoxin A (Dysport®)
Incobotulinumtoxin A (Xeomin®)
Rimabotulinumtoxin B (NeuroBloc®)
Migräne
chronische Migräne bei Erwachsenen, wenn medizinische Prophylaxe nicht infrage kommt
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
fokale Spastizitäten
obere Extremitäten
Hand und Handgelenk bei erwachsenen Schlaganfall-Patienten
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
fokale Spastik der oberen Extremitäten
A
Abobotulinumtoxin A (Dysport®)
Incobotulinumtoxin A (Xeomin®)
untere Extremitäten
Spitzfuß bei infantiler Zerebralparese (> zwei Jahre)
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
Abobotulinumtoxin A (Dysport®)
Spastik des Fußgelenks nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma
A
Onabotulinumtoxin A (Botox®)
Abobotulinumtoxin A (Dysport®)
Zeitlicher Verlauf der Entdeckung der Botulinum-Neurotoxine und der Erteilung der Zulassungen für die verschiedenen Indikationen.

Botox bald auch für Sportler?

Seit einigen Jahren werden Botulinum-Neurotoxine auch bei verschiedenen Schmerzarten getestet. Dazu zählen Kopfschmerzen, Gelenk-, Kreuz- und Beckenschmerzen ebenso wie Schmerzen im Urogenitaltrakt, im ano­rektalen Bereich sowie gemischte Schmerzsyndrome [3]. Die analgetischen Eigenschaften der Wirkstoffe könnten auf einer Hemmung der Freisetzung von Glutamat, Substanz P und Calcitonin-gene-related Peptide (GCRP) beruhen. Bereits zugelassen ist das Typ-A-Toxin Onabotulinum­toxin A (Botox®) zur Linderung der Symptome einer chronischen Migräne bei Erwachsenen, sofern bestimmte Kriterien erfüllt sind. Diese umfassen Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Monat (davon mindestens acht Tage mit Migräne), gegen die eine prophylaktische Migräne-Medikation unzureichend wirksam war oder nicht vertragen wurde. Das Medikament wird als 0,1-ml-Injektion etwa alle zwölf Wochen intramuskulär in verschiedene Muskeln des Kopf- und Nackenbereichs gespritzt [4]. Einige aktuelle Studien hatten gezeigt, dass Botulinum-Neurotoxin A auch gegen aktivitätsbedingte und chronische Beschwerden im Knie und im Oberschenkel erfolgreich wirksam ist [5, 6, 7].

Zum Weiterlesen

Kaum ein anderes mikrobiologisches bzw. toxikologisches Thema hat so viele Facetten wie Clostridium botulinum bzw. die Exotoxine, die dieses anaerobe Bakterium produziert. Die Lähmung der Muskulatur durch Botulinum-Toxin wird seit den 1980-er Jahren zur Behandlung diverser neurologischer und anderer Erkrankungen ausgenutzt, seit etwa 20 Jahren wird es zu kosmetischen Zwecken angewendet. Aber sowohl der Mikroorganismus als auch seine Toxine können auch als „Biowaffe“ eingesetzt werden.

Fotos: Science Photo Library /A. Pasieka; Konstantin Yuganov – stock.aobe.com

Stahlmann R.
Botulinum­-Toxine: Von der Wurst­vergiftung zur ästhetischen Medizin
DAZ 2012, Nr. 34, S. 46

Botulinum-Neurotoxine gegen neuropathische Schmerzen

Auch zur Anwendung gegen neuropathische Schmerzen gibt es vielversprechende Ergebnisse [8, 9]. Einen inte­ressanten Ansatz hat kürzlich eine britische Arbeitsgruppe im Mausmodell getestet. Dessen Prinzip besteht darin, die neurotoxischen Eigenschaften von Botulinum-Toxin zu nutzen, um spezielle schmerzleitende Neuronen im Rückenmark von Mäusen auszuschalten. Die Forscher hatten zwei Konjugate entwickelt, die aus Botulinum-Toxin und einer weiteren Komponente – Substanz P (SP-BOT) bzw. Dermorphin (Derm-BOT) – bestehen. Der Neurotransmitter Substanz P und der µ-Opioid-Rezeptoragonist Dermorphin dienen dabei jeweils als Vehikel. Nach intrathekaler Applikation binden die Konjugate an die Nervenzellrezeptoren und werden anschließend durch Internalisierung in die Zellen aufgenommen. Dort erfolgt die Freisetzung des Botulinum-Toxins, das anschließend verhindert, dass die Nervenzelle weitere Schmerzsignale an das Gehirn senden kann. Eine Zerstörung der Neuronen erfolgt dabei nicht, auch die normale Schmerzwahrnehmung funktioniert noch. Die Hemmung von Entzündungs- und neuropathischen Schmerzen hielt in diesen Experimenten etwa vier Monate an, ohne dass toxische Nebenwirkungen auftraten. Nach Ansicht der Forscher könnte dieser Ansatz zur Linderung chronischer neuropathischer Schmerzen zukünftig vielleicht besser geeignet sein als die Gabe von starken Analgetika mit den bekannten Nebenwirkungen [10, 11].

Hochreine Toxine in der Entwicklung

In der klinischen Prüfung für verschiedene Indikationen befinden sich derzeit Botulinum-Neurotoxine vom Typ A wie beispielsweise Daxibotulinumtoxin A. Charakteristisch für diese potenziellen Arzneimittel ist, dass sie hochgereinigt und damit frei von Begleitproteinen sind, wovon man sich eine geringere Immunogenität erhofft [12, 13]. |

Literatur

[1] Zhang S et al. Identification and characterization of a novel botulinum neurotoxin. Natur Comm 2017;8:14130, DOI: 10.1038/ncomms14130

[2] Peck MW et al. Historical perspectives and guidelines for botulinum neurotoxin subtype nomenclature. Toxins 2017;9:38, DOI: 10.3390/toxins9010038

[3] Wheeler AH et al. Therapeutic injections for pain management. http://emedicine.medscape.com/article/1143675-overview, Update am 19. Juni 2018

[4] Fachinformation Botox®, Stand Januar 2017

[5] Stephen JM et al. The use of sonographically guided botulinum toxin type A (Dysport) injections into the tensor fasciae latae for the treatment of lateral patellofemoral overload syndrome. Am J Sports Med 2016;44(5):1195-202, DOI: 10.1177/0363546516629432

[6] Singer BJ. Treatment of refractory anterior knee pain using botulinum toxin type A (Dysport) injection to the distal vastus lateralis muscle: a randomised placebo controlled crossover trial. Br J Sports Med 2011;45(8):640-645, DOI: 10.1136/bjsm.2009.069781

[7] Singer BJ. The role of botulinum toxin type A in the clinical management of refractory anterior knee pain. Toxins (Basel) 2015;7(9):3388-3404, DOI: 10.3390/toxins7093388

[8] Attal N et al. Safety and efficacy of repeated injections of botulinum toxin A in peripheral neuropathic pain (BOTNEP): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2016;15:555–565

[9] Bruhn C. Faltenkiller gegen Schmerzen. Dtsch Apoth Ztg 2017;4:36-40

[10] Maiarù M et al. Selective neuronal silen­cing using synthetic botulinum molecules alleviates chronic pain in mice. Sci Translat Med 2018;10:450 (eaar7384), DOI: 10.1126/scitranslmed.aar7384

[11] Neuartige Botox-Wirkstoffe könnten neuropathische Schmerzen lindern. Ärzteblatt online, Meldung vom 23. Juli 2018, www.aerzteblatt.de/treffer?mode=s&wo=17&typ=1&nid=96659&s=botox, Abruf am 5. Oktober 2018

[12] Jankovic J. Botulinum Toxin: State of the Art. Mov Disord 2017;32(8)1131-1138, DOI: 10.1002/mds.27072

[13] www.clinicaltrials.gov/NCT03004248, Abruf am 26. November 2018

[14] Mansfield MJ et al. Botulinum neurotoxin homologs in non-clostridium species. FEBS Lett 2015;589:342–348

Autorin

Dr. Claudia Bruhn ist Apothekerin und arbeitet als freie Medizinjournalistin. Sie schreibt seit 2001 regelmäßig Beiträge für die DAZ.

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