Pädiatrie

Nährstofftherapie bei AD(H)S

Sie sitzen nicht still, stören stetig den Unterricht, platzen in jedes Gespräch und verursachen häufiger Unfälle als andere Schüler im gleichen Alter. Die Rede ist von den Zappelphilipp-Kindern, die an dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) leiden. Die Zahl der diagnostizierten Fälle ist innerhalb von 15 Jahren um den Faktor 40 angestiegen [1]. Da bei den Patienten die Plasmaspiegel bestimmter Fettsäuren und Spurenelemente erniedrigt sind, erscheint die Supplementation dieser Nährstoffe als interessante therapeutische Option.

 

Prävalenz

ADHS ist die häufigste kinderpsychiatrische Erkrankung. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 2% für schwere und 19% für leichtere, subklinische Formen [2]. Es handelt sich aber nicht, wie früher angenommen, ausschließlich um eine Kinderkrankheit. Bei ca. 70% der Betroffenen persistiert ADHS auch im Erwachsenenalter, was jedoch oft mit einer Symptomverschiebung einhergeht [3].

Die Symptome

Drei Kernsymptome kennzeichnen das Krankheitsbild ADHS:

  • das Aufmerksamkeitsdefizit, die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit willentlich gezielt zu lenken, sich zu konzentrieren,
  • die Hyperaktivität, eine exzessive körperliche Unruhe,
  • eine ausgeprägte Impulsivität, plötzliches, unüberlegtes Handeln.

Die Kernsymptome müssen nach den gültigen Diagnosekriterien (ICD 10, DSM IV) [4] mindestens sechs Monate lang in ausgeprägter Form bestehen, wobei deren Intensität von Patient zu Patient erheblich variiert.

Drei ADHS-Grundtypen werden unterschieden (Abb. 1), wobei die Übergänge fließend sind:

  • der Mischtypus mit Problemen im Bereich der Aufmerksamkeit und der Hyperaktivität in etwa gleicher Ausprägung,
  • der vorwiegend unaufmerksame Typus (Tagträumer) und
  • der vorwiegend hyperaktiv-impulsive-Typus, bei dem die Hyperaktivität das dominierende Symptom ist.

ADHS imponiert zumeist schon durch Besonderheiten in der Schwangerschaft und Säuglingsphase (Schreibabys). Oft lernen die Betroffenen frühzeitig laufen und sind von da an ständig in Bewegung. Während im Kindesalter die Hyperaktivität dominiert, vermindert sich dieses Symptom bei Erwachsenen, wobei das Aufmerksamkeitsdefizit stärker in den Vordergrund tritt.

Häufige Begleiterkrankungen

Die häufigsten Begleiterkrankungen sind die Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) oder das Gegenstück, die Rechenschwäche (Dyskalkulie; bei jedem 3. Fall), Angst, Depressionen, Störungen des Sozialverhaltens und Tic-Störungen (unkontrollierte Muskelzuckungen vorwiegend im Gesichtsbereich und/oder unkontrollierte Lautäußerungen).

Die Diagnose von ADHS

Da eindeutige und leicht messbare biologische Marker fehlen, basiert die Diagnose auf dem Verhalten und der Krankengeschichte der Patienten. Neben standardisierten Eltern- und Lehrerfragebögen werden Teilleistungstests (z. B. der Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder, HAWIK-R) oder auch modernere EDV-gestützte Diagnosesysteme zur Messung der Aufmerksamkeit (Qb-Test) eingesetzt. Noch wenig gebräuchlich, aber sehr aussagekräftig ist die Videodiagnostik, bei der bestimmte Übungen aufgezeichnet und Verhaltensmuster ausgewertet werden können.

Imbalance der Neurotransmitter

ADHS ist erblich, wie Zwillings-, Adoptions- und Familienstudien belegen [6]. Hinweise auf ADHS finden sich daher oftmals in den Zeugnissen der Eltern und Großeltern [7]. Das Krankheitsbild kann bei fehlender genetischer Disposition nicht durch soziale oder erzieherische Fehler ausgelöst werden, wohl aber können diese ein bestehendes ADHS-Krankheitsbild günstig oder ungünstig beeinflussen.

ADHS steht im Zusammenhang mit mindestens 15 Gendefekten, die eine Störung im Gleichgewicht der Neurotransmitter Dopamin (Antrieb), Noradrenalin (Aufmerksamkeit) und Serotonin (Impulsivität, Stimmung) verursachen (Abb. 2). Neben Rezeptordefekten spielen Enzymdefekte eine Rolle.

Medikamentöse Therapien zielen darauf ab, die Imbalance der Neurotransmitter auszugleichen. Stimulanzien (Methylphenidat: Ritalin®, Medikinet®, Equasym®, Concerta®) beeinflussen weitgehend den Dopamin-Stoffwechsel und verbessern die damit assoziierten Beschwerden. Das kürzlich auch in Deutschland für die ADHS-Therapie zugelassene Atomoxetin (Strattera®) ist hingegen ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. In England vereinzelt aufgetretene Leberschäden (1 : 50.000) nach Gabe von Atomoxetin haben die britische Arzneibehörde (MHRA) jedoch zu einer Warnung der Verordner veranlasst.

Spezifische Nährstoffdefizite von AD(H)S-Patienten

ADHS-Patienten haben relativ häufig einen Mangel der ω-3-Fettsäure Docosahexaensäure (DHA), der ω-6-Fettsäuren Arachidonsäure (AA) und γ-Linolensäure (GLA) sowie der Mineralstoffe Magnesium und Zink, die u. a. im Stoffwechsel der Fettsäuren als Co-Faktoren eine Rolle spielen. Die Defizite können auch bei einer Blutuntersuchung ermittelt und beziffert werden. Ein Zusammenhang besteht insbesondere zwischen dem DHA-Plasmaspiegel und den Konzentrationen der Serotonin-, Noradrenalin- und Dopamin-Metaboliten im Liquor cerebrospinalis. Auch Korrelationen zwischen dem Ausmaß des Nährstoffmangels und der ADHS-Symptomatik wurden beschrieben [9, 10, 11, 12].

Der Zusammenhang zwischen dem Nährstoffmangel im Blutplasma und den Störungen im Neurotransmitterstoffwechsel kommt vermutlich über die aus den Fettsäuren gebildeten Prostaglandine zustande [13]. Darüber hinaus ändert ein Mangel an DHA und AA die Struktur der Nervenzellmembran, die diese Fettsäuren zu gleichen Teilen enthält, und beeinträchtigt daher möglicherweise die Signalübertragung.

Verbesserung der Nährstoffversorgung

Im Rahmen verschiedener klinischer Studien mit ADHS-Patienten haben sich bilanzierte Diäten mit einer Tagesdosis von ca. 500 mg DHA, ca. 100 mg GLA, ca. 40 mg AA sowie 200 mg Magnesium und 10 mg Zink als effektiv erwiesen [14, 15, 16]. Geeignete Präparate sind z. B. Addy plus, Omefa oder Focus IQ.

Es ist zwar grundsätzlich möglich, aber wenig praktikabel, die betreffenden Nährstoffe durch die Wahl bestimmter Lebensmittel (Tab. 1 und 2) in ausreichender Menge zuzuführen.

Nebenwirkungen von Methylphenidat

Von ADHS betroffene Kinder zeigen wegen der auch nach innen gerichteten Aufmerksamkeitsschwäche oftmals eine extrem einseitige Nahrungsmittelauswahl, und es bereitet Schwierigkeiten, die Ernährung auch nur annähernd ausgewogen zu gestalten. Wird eine Behandlung mit Methylphenidat durchgeführt, verschlechtert sich dieses Problem zumeist weiter [17]: Die Substanz wurde lange vor der Zulassung für die Therapie des ADHS als Appetitzügler zur Gewichtsreduktion eingesetzt, und diese nun unerwünschte Wirkung tritt bei den behandelten Kindern häufig und intensiv auf. Die unter Methylphenidat-Therapie teilweise beobachteten Wachstumsverzögerungen stehen hiermit möglicherweise in einem Zusammenhang. Umgekehrt verbessert sich die ADHS-Symptomatik nach Supplementierung der genannten Fettsäuren und Mineralstoffe.

Interessanterweise erzielte ein Derivat der ω-3-Fettsäure Eicosapentaensäure (EPA) in einer Phase-II-Studie positive Ergebnisse bei der Behandlung von Patienten mit schweren Depressionen [18]. Weitere interessante Zusammenhänge mit dem neuronalen Fettsäurenstoffwechsel bestehen bei den Krankheitsbildern Epilepsie und Schizophrenie [19].

Bilanzierte Diäten als Ergänzung zur Arzneitherapie

Eine Ergänzung der Methylphenidat-Therapie mit bilanzierten Diäten ist möglich und erscheint sinnvoll. Hierzu liegen zahlreiche, teilweise auch doppelblind randomisierte Studien vor, doch waren die Patientenzahlen stets klein. Erste positive Effekte zeigten sich zumeist bereits nach zwei bis drei Wochen. Es resultierte eine bessere Verträglichkeit des Medikaments (weniger psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Angst, Einschlafstörungen, Appetitlosigkeit, eingeschränkte Lebensmittelauswahl). Die besten Effekte wurden im Bereich Stimmung, Aggression, oppositionelles Verhalten erzielt. Die Hyperaktivität nahm ab, wohingegen sich die Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit nicht wesentlich verlängerten.

Supplemente in der Praxis

Für leichtere Fälle von ADHS ist eine Supplementierung der genannten Nährstoffe gemeinsam mit einer adäquaten Verhaltenstherapie oft schon ausreichend. Bei Patienten, die in ärztlicher Behandlung sind, ist die Supplementierung mit dem Arzt abzusprechen. Wenn bei medikamentös behandelten Patienten die Therapie gut anschlägt, kann der Arzt gegebenenfalls die Dosierung des Medikaments reduzieren.

Anschrift für die Verfasser: 
Dr. Georg Keller 
Apothekerkammer Nordrhein 
Poststr. 4, 40213 Düsseldorf

Literatur
[1]  Fegert, Glaeske, Janhsen, Ludolph, Ronge: Untersuchung zur Arzneimittel-Versorgung von Kindern mit hyperkinetischen Störungen anhand von Leistungsdaten der GKV. Projektbe- richt, Universität Bremen und Universitätsklinikum Ulm, Dezember 2002.

[2]  Döpfner, M: Hyperkinetische Störungen. In F. Petermann (Hrsg.): Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie, 4. Auflage, S. 153 – 189. Göttingen, 2000.

[3]  Wenwei, Y.: An Investigation of adult outcome of hyperactive Children in Shanghai. Chin. Med. J. 109, 877 – 880 (1996).

[4]  ICD 10 = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision, WHO; DSM IV = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Edi- tion, American Psychiatric Association.

[5] Skrodzki, K.: Das Hyperkinetische Syndrom, zitiert in Schulz, J.: ADHS, das „Zappelphilipp-Syndrom“ – Ursachen und the- rapeutische Möglichkeiten. Naturheilpraxis 55, 1572 (2002).

[6]  Bennett, H.: Gene targets related to phospholipid and fatty acid metabolism in schizophrenia and other psychiatric disor- ders: an update. Prostaglandins Leukot. Essent. Fatty Acids 63, 47– 59 (2000).

[7]  Krause, J., Krause, K.-H.: ADHS im Erwachsenenalter. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bei Erwachsenen. Stuttgart 2003.

[8]  Holsboer-Trachsler, Vanoni: Depression und Schlafstörung in der Praxis. Binningen, 1998.

[9]  Hibbeln, J.R., et al.: Essential Fatty Acids Predict Metabolites of Serotonin and Dopamin in Cerebrospinal Fluid among Healthy Control Subjects, and Early- and Late-Onset Alcoholics. Biol. Psychiatry 44, 235–  242 (1998).

[10]  Burgess, Stevens, Zhang, Peck: Long-chain polyunsaturated fatty acids in children with attentiondeficite hyperactivity dis- order. Am. J. Clin. Nutr. 71, 327– 330 (2000).

[11]  Arnold, Pinkham, Votolato: Does zinc moderate Essential fat- ty Acid and Amphetamin Treatment of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder? J. Child Adolesc. Psychopharmacol. 10, 111 – 117 (2000).

[12]  Burgess: Attention deficit hyperactivity disorder: observatio- nal and interventional studies. NIH workshop on omega-3- es- sential fatty acids and psychiatric disorders. National Institutes of Health, Bethesda, 1998, Sep. 2 – 3.

[13]  Horrobin, C.: Interactions between Zink, essential fatty acids and prostaglandines. Med. Hypoth. 6, 277 –296 (1980).

[14]  Starobrat-Hermelin, K.: The effects of magnesium physiological supplementation on hyperactivity in children with Attenti- on Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD). Positive Response to magnesium oral loading test. Magnesium Res. 10, 149 –  156 (1997).

[15]  Akhondzadeh, et al.: Zinc sulfate as an adjunct to methylphe- nidate for the treatment of attention deficit hyperactivity dis- order in children. A double blind and randomized trial. BMC Psychiatry 4, 9 (2004).

[16]  Richardson, A.J., Puri, B.K.: A randomized double-blind, pla- cebo-controlled study of the effects of supplementation with highly unsaturated fatty acids on ADHD-related symptoms in children with specific learning difficulties. Prog. Neuropsy- chopharmacol. Biol. Psychiatry 26, 233 – 239 (2002).

[17]  Schmidt, et al.: Effect of dextroamphetamine and methyl- phenidate on calcium and magnesium concentration in hyper- active boys. Psychiatric Res. 54, 199 – 210 (1994).

[18]  (war): Hoffnung für Patienten mit schweren Depressionen? Dtsch. Apoth. Ztg. 145, 821– 822 (2005).

[19]  Baumeister, F.A.M., et al.: Die Ketogene Diät, Renaissance einer vergessenen Therapie. Kinder Jugendmed. 3, 76 – 81 und 120 –  126 (2003).

 

ADHS im Schulunterricht [5]

Bevor morgens die zweite Schulstunde beginnt, beklagen sich Mitschüler über Thomas, der ihnen die Mützen herunterreißt. 8:50 Uhr Thomas dreht sich verkehrt herum und schreit laut. 8:51 Uhr Er rutscht auf seinem und dem freien Nachbarstuhl hin und her, steht auf und schiebt die Stühle wie Kinderwagen vor sich her. 8:52 Uhr Er spannt ein Gummi zwischen die Hände und spielt damit. 8:53 Uhr Er ruft grundlos den Namen eines Mädchens. 8:55 Uhr Er legt sich auf den Tisch. 8:56 Uhr Er spielt wieder mit dem Gummi und zielt auf Kinder. Nach einer Ermahnung steckt er ihn wieder in den Ranzen. 8:58 Uhr Thomas steht auf und schlägt um sich. Er zieht Grimassen dazu. 8:59 Uhr Er durchwühlt seinen Ranzen. 9:10 Uhr Er steht auf und schlägt Charlotte. 9:15 Uhr Thomas fällt vom Stuhl. 9:22 Uhr Er schlägt Anne ohne ersichtlichen Grund, rennt im Klassenzimmer herum und wischt Tische ab. 9:27 Uhr Er schiebt seinen Tisch den vor ihm sitzenden Kindern in den Rücken, dann schiebt er seine Knie zwischen Stuhl und Tischkante hoch. 9:30 Uhr Thomas legt die Beine auf den Stuhlrücken, dreht der Tafel den Rücken zu. 9:32 Uhr Er steht auf und schreit plötzlich "Superman". 9:34 Uhr Thomas zieht Grimassen und legt sich auf seinen Tisch. 9:35 Uhr Ende der Stunde, man hört förmlich das Aufatmen der Lehrerin.

Zusammenfassung

  • ADHS-Patienten sind mit bestimmten Fettsäuren und Mineralien unterversorgt.
  • Bilanzierte Diäten können das spezifische Nährstoffdefizit gezielt beheben.
  • Eine Nährstofftherapie bei ADHS ist mit einer medikamentösen Therapie vereinbar und kann diese sogar verbessern.

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