Gesundheitspolitik

K. G. BrauerEtikettenschwindel (Stellungnahme zur An

Am 25. Juni 2003 fand in Berlin vor dem Bundestagsausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung eine Anhörung zu dem von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf zum Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG) sowie zu Gegenanträgen der CDU/ CSU- und FPD-Fraktionen statt. DAZ-Mitherausgeber Dr. Klaus G. Brauer war als Einzelsachverständiger zu der Anhörung geladen. Wir geben die vorher eingereichte schriftliche Stellungnahme in leicht veränderter Form wieder.

Der Fraktionsentwurf zum Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG) deklamiert die Ziele des GMG: man wolle eine "umfassende Modernisierung der Strukturen", "mehr Qualität und Effizienz", das "Aufbrechen starrer, verkrusteter Strukturen", die "Stärkung von Qualität, Wirtschaftlichkeit, solidarischem Wettbewerb und Transparenz", die "Liberalisierung des Arzneimittelmarktes und Modernisierung der Vertriebsstrukturen" – und nicht zuletzt die "Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswesen".

Im Grundsatz hat man gegen diese Ziele – so sie denn aus den Schlagworten hinreichend klar erkennbar sind – wenig einzuwenden haben. Allerdings stellt sich die Frage: Ist im GMG wirklich drin, was draufsteht? Werden diese Ziele mit den vorgesehenen Maßnahmen erreicht? Oder werden sie in wesentlichen Teilen sogar konterkariert?

Kurz gesagt: Zu Ende gedacht und nach sauberer Aufarbeitung der Tatbestände wird insbesondere durch die Maßnahmen, die den Arzneimittelsektor und die ambulante fachärztliche Versorgung betreffen, in wesentlichen Bereichen das Gegenteil der anvisierten Ziele als Ergebnis herauskommen: statt Modernisierung bringt das GMG mehr Bürokratisierung, statt "solidarischem (?) Wettbewerb" Abbau von Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten.

Die flächendeckende Arzneiversorgung wird schon mittelfristig radikal in Frage gestellt durch

1. die Art und Weise, wie über privilegierende Verträge "Kassen"-Apotheken und Versandapotheken bevorzugt werden (→ 1); 2. Abschaffung des Mehr- (und im Gefolge auch) Fremdbesitzverbotes – ohne dass (wie in anderen Ländern) durch eine Niederlassungsbegrenzung (Konzessionssystem) die Versorgung in der Fläche gesichert werden kann (→ 2); 3. eine Umstellung der Arzneimittelpreisverordnung auf ein Kombimodell aus Fixaufschlag und geringem preisabhängigem Aufschlag, wenn nicht gleichzeitig elementare Kriterien für eine solche Umstellung sichergestellt werden (→ 3). Bei der Einschätzung der Höhe der bundesdeutschen Distributionskosten gehen Berater der Bundesregierung offensichtlich von falschen Zahlen aus (→ 3.1). 4. die nicht zu Ende gedachte Öffnung von Krankenhausapotheken für die Versorgung ambulanter Patienten, die mehr Probleme schafft als löst (→ 4).

All diese Vorhaben machen neben der freiberuflichen fachärztlichen Versorgung auch die flächendeckende Versorgung durch – neudeutsch – "Präsenzapotheken" zum Auslaufmodell. Dies führt nicht zu mehr Qualität und Effizienz – im Gegenteil.

Zusammen mit dem geplanten Zentrum für Qualität in der Medizin folgt das Gesundheitssystem-Modernierungsgesetz der Devise "mehr Bürokratie wagen". Erfahrung sollte uns jedoch lehren: Bürokratie – das ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und meist das Schlechte schafft. Dies zeigt ein etwas genauerer Blick auf die vorgesehenen Maßnahmen schon nach kurzem Hinsehen.

1. Die Maßnahmen für den Arzneimittelbereich führen – anders als angestrebt – unter dem Strich zu einem massiven Abbau von Wettbewerb. Sie provozieren eine Vermachtung der Arzneimittelversorgung zugunsten der Krankenkassen und zugunsten von Versand- und "Kassen"-Apotheken.

1.1. Versandapotheken werden krass privilegiert.

  • Erstens dürfen sie Sondervereinbarungen treffen und von der Arzneimittelpreisverordnung abweichende Sonderpreise mit Krankenkassen vereinbaren, um so profitable Teile des Arzneisortimentes an sich zu ziehen und sich darauf zu beschränken.[1]

  • Zweitens werden Versandapotheken vom Kontrahierungszwang freigestellt und dürfen sich bis zu zwei Tage Zeit lassen, bis sie bestellte Arzneimittel versenden (!), also auf den Weg bringen.

  • Drittens müssen sie ohnehin nur Bestellungen über Arzneimittel ausführen, die sie in dieser Zeit zur Verfügung haben. Inklusive der Zeit für das Einsenden der Rezepte (zwei Tage) gilt es also bei der Versorgung durch Versandapotheken als akzeptabel, wenn die Patienten bis zu sechs Tage auf ihre Arzneimittel warten (falls sie überhaupt beliefert werden).
Normale "Präsenzapotheken" werden gegenüber Versandapotheken krass benachteiligt.

  • Nach § 17 ApBetrO müssen Apotheken im Gegensatz zu Versandapotheken cito et iucunde – also unverzüglich – beliefern.

  • Sie unterliegen dem Kontrahierungszwang, haben also kein Recht, die Auslieferung eines Arzneimittels abzulehnen, sofern nicht Gründe der Arzneimittelsicherheit dagegen sprechen und es überhaupt lieferbar ist. Der Kontrahierungszwang gilt auch für Arzneimittel, die keinen oder einen zu geringen Deckungsbeiträge liefern.

  • Sie müssen sich an die Arzneimittelpreisverordnung halten, dürfen sich also z. B. ihre Schnelligkeit und uneingeschränkte Lieferbereitschaft nicht gesondert honorieren lassen.

1.2. Analog zu Versandapotheken werden auch "Apotheken für die Abgabe von Arzneimitteln in besonderen Versorgungsformen" (hier "Kassen"-Apotheken genannt) gegenüber normalen "Präsenzapotheken" krass privilegiert. Diese Kassen-Apotheken sollen für die Versorgung all jener Patienten zuständig werden, die über die vorgesehen Anreize (geringere Rezeptgebühr) dazu gebracht wurden, bei einer jener "besonderen Versorgungsformen" mitzumachen, die zukünftig die Regelversorgung werden sollen.

Die Krankenkassen können sich einzelne Apotheken (auch Versandapotheken) heraussuchen, denen sie über Einzelverträge[1] die Versorgung dieser in jeder Hinsicht interessanten Patienten zuschanzen können.[2]

1.3. Besonders eklatant wird die wettbewerbsbeschränkende Privilegierung der "Kassen"- und Versandapotheken dadurch, dass exklusiv zu ihren Gunsten sogar das (für normale Apotheken strikt weiter geltende) Verbot fallen soll, Absprachen zu treffen, sich Patienten zuführen und Verschreibungen zuweisen zu lassen.[3]

Diese Privilegien sind völlig unvereinbar mit den mehrfach wiederholten Aussagen aus dem BMGS und auch von Frau Ministerin Schmidt persönlich, man werde für gleiche Wettbewerbsbedingungen ("gleich lange Spieße") zwischen Versand- und Präsenzapotheken sorgen.[4]

1.4. Die Möglichkeiten, Sondervereinbarungen zugunsten von Versand- und "Kassen"-Apotheken abzuschließen, schränkt die Zahl von Apotheken, die faktisch in Wettbewerb zu einander treten können, drastisch ein. Durch solche Sondervereinbarungen, deren Ausgestaltung für die Nicht-Vertragsunterzeichner intransparent ist, werden zusätzlich Strukturen geschaffen, die außerordentlich korruptionsfördernd sind.

Dies kollidiert mit der Zielsetzung des GMG-Entwurfes, die Korruptionsmöglichkeiten im Gesundheitswesen zu bekämpfen. Dieser Kampf ist mit Korruptionsbeauftragten und mit "Missbrauchs- und Korruptionsstellen" (§ 197a) – insbesondere wenn sie bei den gefährdeten Krankenkassen selbst angesiedelt werden – nicht zu gewinnen. Sinnvolle und nachhaltige Korruptionsbekämpfung setzt bei der Vermeidung von Ursachen an.

1.5. Wettbewerbseinschränkend ist auch die faktische Einschränkung der Patientensouveränität. Selbst wenn sie sich den im Hinblick auf Versand- und Kassenapotheken nunmehr erlaubten Zuweisungen ihrer Rezepte verweigern wollten (siehe 3.1.3) – es wird ihnen extrem schwer gemacht, da sie mit drastischen Vergünstigungen im Hinblick auf die von ihnen zu leistenden Zuzahlungen belohnt werden, wenn sie sich den besonderen Versorgungsformen zuweisen lassen.

Fazit: Wettbewerb in der Arzneimitteldistribution nur an Preiswettbewerb auf der Verbraucherstufe festmachen zu wollen, ist eine verkürzte, eine eindimensionale Betrachtung.

Der vom GMG beabsichtigte Preiswettbewerb über das Nebeneinander von Arzneimittelpreisverordnung (für normale Präsenzapotheken) und Sondervereinbarungen (für Versandapotheken, "Kassen"-Apotheken und Krankenhausapotheken [siehe 4.]) baut im Ergebnis Wettbewerb ab und führt zur Oligopolisierung.

Damit entfernt sich die bundesdeutsche Arzneimittelversorgung[5] vom wirtschaftswissenschaftlichen Leitbild einer idealen Wettbewerbsordnung nach dem "Modell der vollständigen Konkurrenz" mit

  • niedrigen Barrieren für Markeintritt und Marktaustritt von Wettbewerber (wer wagt noch, gegen Oligopole anzutreten?);

  • mit möglichst großer Souveränität und breiten Wahlmöglichkeiten der Marktteilnehmer (die Wahlmöglichkeiten der Patienten werden nach den Spielregeln des GMG sowohl bei der Arzt- wie bei der Apothekenwahl deutlich abnehmen!);

  • mit möglichst niedrigen Transaktionskosten (heute sind die Kosten bei freier Wahl der Apotheke wegen der Abrechnung mit allen Kassen über die Rechenzentren sehr niedrig; bei vielen Einzelvereinbarungen wird die Abrechnung unübersichtlich und teuer).
Präsenzapotheken, die die Oligopolisierung zunächst überleben, werden in ihrer Funktion weitgehend auf die Akutversorgung reduziert, ferner auf die Versorgung mit Problemarzneimittel, für die sich ein Versand verbietet (Betäubungsmittel) oder die für den Versand nicht lukrativ sind. Dies ist betriebwirtschaftlich nicht durchzustehen.

Bei Umsetzung der Spielregeln des GMG ist absehbar, dass die Zahl der Präsenzapotheken drastisch zurückgehen wird (mit dem für Personenunternehmen üblichen time-lag; ein sanierender Konkurs wie bei einer GmbH, der die persönliche Sphäre unberührt ließe, ist nicht möglich).

2. Das GMG verlangt den Wegfall des Mehrbesitzverbotes (im Gefolge wäre nach Einschätzung von juristischen Fachleuten auch das Fremdbesitzverbot nicht mehr haltbar). Schon die Streichung des Mehrbesitzverbotes würde in Deutschland zu einem radikalen Paradigmenwechsel führen.

Er wäre nicht vergleichbar mit den wenigen Ländern in Europa, die Fremd- und/oder Mehrbesitz an Apotheken erlaubt haben, die aber (anders als Deutschland) diesen Weg bei einem bestehenden Konzessionssystem antraten, um so eine flächendeckende Versorgung sicher zu stellen.

2.1. Die gegenwärtigen Apotheken sind geprägt und geleitet von ApothekerInnen, die sich als Freiberufler verstehen und als freier Heilberuf ihrer Profession nachgehen. Daraus resultieren Apotheken prinzipiell gleicher oder zumindest ähnlicher Stärke, die zueinander im lokalen Umfeld in umfassender Konkurrenz stehen, die persönlich geleitet werden und voll von ihrem jeweiligen lokalen Wettbewerbsumfeld abhängig sind.

Aus dem Wettbewerb resultiert eine hohe Leistungsbereitschaft und Kundenorientierung der Mitarbeiter und der Apothekerin bzw. des Apothekers, die/der den Betrieb verantwortlich führt. Deren berufliche und ökonomische Existenz ist eng mit der Apotheke verbunden.

Aus regelmäßigen Spitzenpositionen in großen, repräsentativen Studien (Deutsches Kundenbarometer, Readers-Digest etc.) mit zigtausenden Befragten ist immer wieder deutlich geworden, dass sich dieser Apothekentyp in der Bevölkerung außerordentlicher Wertschätzung erfreut – was Kompetenz und Servicebereitschaft, aber auch was Freundlichkeit angeht.

Dieses System – im Zusammenspiel mit einem leistungsfähigem Großhandel – ist weder verkrustet noch verstaubt; es ist modern, flexibel, anpassungsfähig. Die Versorgung funktioniert praktisch reibungslos. In den deutschen Apotheken sind Arzneimittel im Apothekenverkaufwert (AVK) von über 4 Mrd. Euro sofort verfügbar.

Sehr selten benötigte Arzneimittel können – soweit überhaupt lieferbar – fast ausnahmslos innerhalb weniger Stunden an jedem Ort in Deutschland bereit gestellt werden. Das gilt nicht nur für die oft lebenswichtigen chemischen oder pflanzlichen "schulmedizinisch" anerkannten Arzneimittel; es gilt auch für die in Deutschland politisch gewollten, vielen Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen.

Im logistischen Rückraum der Apotheken stehen pharmazeutische Großhandlungen, die insgesamt noch einmal Arzneimittel im Verkaufwerts (AVK) von um 3,3 Mrd. Euro abrufbereit halten.

2.2. Dieses Erfolgsmodell würde durch Zulassen des Mehr- und nachfolgend Fremdbesitzes wahrscheinlich innerhalb weniger Jahre in ein System mit deutlich reduziertem Wettbewerb unter wenigen dominanten und privilegierten Großanbietern und einem abnehmenden Rest von einzelnen Präsenzapotheken überführt, die systematisch und gewollt an den Rand gedrückt werden.

Kommerz-Dominanz unter Vorgaben, die aus Sharholder-Value-Denken von fernen Konzernzentralen resultieren, lösen nützliche lokale Abhängigkeiten und die lokale soziale Kontrolle ab, über die gerade chronisch-kranke Patienten ihre Apotheke auf einem patientenfreundlichen Kurs halten.[6]

3. Die vorgesehene Umstellung der Arzneimittelpreisverordnung auf ein Kombimodell mit einem Fixaufschlag je abgegebene Packung, der durch einen kleinen prozentualen (also preisabhängigen) Aufschlag ergänzt wird, ist durchaus ambivalent.

3.1. Das Ministerium stützt sich in seiner Grundüberzeugung, die gegenwärtigen Distributionskosten in Deutschland seien im internationalen Vergleich zu hoch, auf offensichtlich fehlerhafte Angaben.[7] Internationale Vergleiche sind in der Tat voller Tücken – für jedermann. Man muss das komplexe Zusammenspiel verschiedener Faktoren berücksichtigen.

  • Nach der erwähnten Informationsquelle der Bundesregierung, die offensichtlich ernst genommen wird[7], liegen die Distributionskosten (Großhandel und Apotheken) in Deutschland nach Luxemburg an zweiter Stelle. Dabei sind jedoch die Rabatte/Boni/Skonti, die der Großhandel den Apotheken in Deutschland gewährt, einerseits in die Apothekenspannen eingerechnet; sie sind aber andererseits auf der Großhandelsseite fälschlich nicht rohertragsmindernd berücksichtigt worden.[8]

    Durch diesen Rechenfehler sind die Distributionskosten für Deutschland (Großhandel und Apotheken zusammen) um 1,3 Mrd. Euro, also viel zu hoch ausgewiesen.

  • Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass bei der Bewertung der deutschen Distributionskosten sicher in Betracht gezogen werden müsste, dass – politisch so gewollt – in Deutschland durch einen dicht besetzten Generikamarkt und eine Vielzahl von Präparaten der besonderen Therapierichtungen (Phytotherapie, Homöopathie, Anthroposophie) die Distributionsleistung sehr viel höher ist, als in Ländern mit weniger Arzneimitteln.

    3.2. Die 1978 eingeführte Arzneimittelpreisverordnung, über die auf der Basis frei kalkulierter Herstellerabgabepreise degressive Aufschläge für Großhandel und Apotheken in Verbindung mit einheitlichen Verbraucherabgabepreisen (analog zu Büchern) festgeschrieben wurden, war offensichtlich gut überlegt. Sie hat sich im Kern bis in unsere Tage bewährt.

    Bisher wurden nur Anpassungen im Bereich höchstpreisiger Arzneimittel (die es in den siebziger Jahre so noch nicht gab) für notwendig erachtet. Die durch die Degression deutlich abgesunkenen prozentualen Handelspannen der Apotheken (ca. – 8%-Punkte) wurden – wie von den Vätern der AMPreisV aus dem Wirtschaftsministerium vorhergesehen und auch intendiert (!) – teilweise kompensiert durch gestiegene Rationalisierungsrabatte des Großhandels; dieser konnte diese Rabatte gewähren, weil er seine Möglichkeiten zur Technisierung und Automatisierung unter dem Druck des Wettbewerbs konsequent nutzte (Möglichkeiten, die auf der Apothekenstufe so nicht vorhanden sind).

    Die Arzneimittelpreisverordnung von 1978 erfüllt (wenn man von den seit 2002 aus dem Ruder laufenden Rabatten zugunsten der GKV absieht) bis heute die Anforderungen des Arzneimittelgesetzes9: die Preise und Preisspannen tragen den berechtigten Interessen der Arzneimittelverbraucher, der Tierärzte, der Apotheken und des Großhandels Rechnung.

    3.3. Die Umstellung der Arzneimittelpreisverordnung auf ein Kombimodell ist vor diesem Hintergrund nur zu rechtfertigen, wenn einige elementare Kriterien erfüllt sind:

    • Die Umstellung muss so gerechnet sein, dass sie realistisch aufsetzt – also den Kriterien von § 78 Abs. 2 AMG genügt. Der Fixzuschlag von 7,30 Euro erfüllte dieses Kriterium nicht. Basis einer "neutralen" Umstellung kann nicht die Ertragssituation der Apotheken sein, wie sie sich unter den Bedingungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes im bisherigen Verlauf des Jahres 2003 darstellt – zumal derzeit den Apotheken eine Belastung aufgebürdet wird, die rund dreimal so hoch ist wie das, was die Koalition den Apotheken (angeblich) eigentlich zumuten wollte (350 Mio. Euro/Jahr inkl. MWSt.).
    • Die Dynamisierung – Anpassung an die Entwicklung im Arzneimittelsektor – muss gewährleistet sein. Es muss also insbesondere für den Fixzuschlag ein geeigneter und verbindlicher Mechanismus der Anpassung gefunden werden, um jährliche Nachverhandlungen zu vermeiden.
    • Veränderungen an dem System müssen auch in Zukunft der Zustimmung der Länderkammer bedürfen, da dauerhaft zweifellos auch Länderinteressen berührt sind.
    • Unter Einbeziehung des Großhandels muss gewährleistet sein, dass dem Großhandel ein Spielraum für die Rabattgewährung erhalten bleibt, um wirtschaftliches Bestellverhalten zu belohnen und damit den Prozess der Rationalisierung der Betriebsabläufe – wie schon in der Vergangenheit – auch auf der Apothekenstufe weiter zu stimulieren.
    • Die Arzneimittelpreisverordnung darf nicht – wie bislang vorgesehen – in ihrer Gültigkeit auf einen unerheblichen Restmarkt reduziert werden. Nach den derzeitigen Vorstellungen käme sie weder für Versandapotheken noch für die Arzneimittelversorgung in besonderen Versorgungsformen1 noch für die nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel zur Anwendung. So verstümmelt wäre die AMPreisV nur noch ein Torso – und zugleich eine Waffe gegen die normalen Präsenzapotheken.
    • Für den Bereich der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel sollte die derzeitige Arzneimittelpreisverordnung weiter gelten. Preiswettbewerb auf der Herstellerabgabestufe sollte mit einem einheitlichen Verbraucherabgabepreis kombiniert bleiben – so wie in § 78 AMG vorgeschrieben.

    Analog zu den kulturpolitischen Gründen, die den Bundestag parteiübergreifend bewogen haben, die Buchpreisbindung zu bestätigen und abzusichern, gibt es überzeugende markttechnische und gesundheitspolitische Gründe, die Preisbindung der zweiten Hand auch für Arzneimittel beizubehalten.

    Ein Abrücken vom einheitlichen Verbraucherpreis für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel hätte erhebliche Nachteile:

    • Die Aufhebung der Preisbindung der zweiten Hand für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel hätte zur Folge, dass für diese Arzneimittel auch der Kontrahierungszwang nicht mehr durchsetzbar wäre: anders als derzeit könnten die Patienten nicht mehr darauf setzen, diese Arzneimittel jederzeit und an jedem Ort zu einem angemessenen Preis auch zu erhalten, wenn sie sie benötigen.
    • Die Erwartung, dass ein Wegfall der einheitlichen Abgabepreise durchgängig Preissenkungen zur Folge haben würde, ist vorschnell. Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel haben überdurchschnittlich häufig relativ niedrige Preise. Derzeit decken die Handelsspannen vieler niedrigpreisiger Arzneimittel nicht den logistischen Aufwand für ihre Beschaffung und Abgabe. Preiserhöhungen böten sich an, sobald die Preisbindung für solche Arzneimittel entfiele.
    • Zur Margensicherung würden gesundheitspolitisch unerwünschte, den Mehr- und Fehlverbrauch anheizende Mengenangebote ("heute 3 x 100 Aspirin zum Sonderpreis") im Markt Fuß fassen.
    • Tragfähige Preisvergleiche sind für den Verbraucher bei Arzneimitteln grundsätzlich sehr schwierig. Im Akutfall sind sie für den Verbraucher faktisch nicht durchführbar. Vorratskäufe von wirklichen oder vermeintlichen Sonderangeboten provozieren einen nicht indizierten Arzneiverbrauch.
    • Der Wettbewerb zwischen den Apotheken würde sich von gesundheitspolitisch erwünschten Leistungen (Aufklärung, Information, Beratung, Hinterfragen von Medikationsproblemen, Service im Zusammenhang mit Präventionsmaßnahmen) auf Preise und Absatzmengen verlagern.

    4. Die geplante Öffnung der Krankenhausapotheken für die Versorgung ambulanter Patienten ist nicht zu Ende gedacht. Sie schafft mehr neue Probleme als sie alte löst.

    4.1. Krankenhäusern soll zukünftig erlaubt werden, an der ambulanten Versorgung in weitaus stärkerem Maße teilzunehmen als bisher. Das gilt z. B. für Fälle, in denen Unterversorgung festgestellt wurde (§ 116a – neu). Es gilt auch für hochspezialisierte Leistungen (§ 116b) oder im Rahmen der Förderung der integrierten Versorgung und bei strukturierten Behandlungsprogrammen (DMP).

    In Anlehnung an diese Vorhaben sollen Krankenhausapotheken (und krankenhausversorgende Apotheken) unter bestimmten Umstände zukünftig verstärkt auch ambulante Patienten versorgen dürfen.[10] Die Vermischung der Versorgungsbereiche ist wegen der völlig unterschiedlichen Vorraussetzungen und Preisbildungssysteme für den real ambulanten Bereich der öffentlichen Apotheken und den pseudo-ambulanten Sektor am Krankenhaus sehr problematisch. Denn für die Krankenhausapotheken gelten die Regelungen der Arzneimittelpreisverordnung nicht, auch sofern sie ambulante Patienten versorgt.

    Die Problematik wird in der Begründung des GMG durchaus erkannt. Allerdings werden die praktischen Konsequenzen und ungelösten Fragen offensichtlich unterschätzt:

  • Wer soll den ambulanten Patienten im Krankenhaus die Arzneimittel übergeben, wer soll für Fragen zur Verfügung stehen, wer soll notwendige Informationen geben?

    Apotheker oder pharmazeutisches Personal können dazu in den Ambulanzen in aller Regel nicht zur Verfügung stehen. Soll der Patient die Krankenhausapotheke auf dem Klinikgelände selbst aufsuchen – kein leichtes Unterfangen bei der Weitläufigkeit der Klinken? Sicherlich ist dies wesentlich unbequemer, als auf dem Heimweg eine/seine Apotheke vor Ort aufzusuchen.

  • Wichtiger noch: Die Mehrzahl (> 3/4) der rund 2200 Kliniken verfügt überhaupt nicht über eine eigene Krankenhausapotheke auf dem eigenen Gelände. Viele werden aus Apotheken anderer Kliniken, viele auch von krankenhausversorgenden öffentlichen Apotheken versorgt – allemal also von Apotheken, die nicht auf dem Klinikgelände, die vielmehr oft viele Kilometer entfernt liegen. Das die Patienten diese Apotheken aufsuchen, ist schlechterdings unzumutbar.

  • Sollen in diesen Fällen in den Ambulanzen "Hilfsapotheken" (Arzneimittellager) aufgebaut und die von den ambulanten Patienten benötigten Arzneimitteln gehortet werden? Soll hier durch die Hintertür ein Dispensierrecht für Schwestern oder Stationsärzte etabliert werden?

    Die Öffnung der Krankenhausapotheken für die Versorgung ambulanten Patienten ist in seinen praktischen und ordnungspolitischen Konsequenzen offensichtlich unzureichend durchdacht. Die entsprechenden Passagen sollten deshalb ersatzlos aus dem GMG gestrichen werden.

    Dass die Deutsche Krankenhausgesellschaft an der Ausdehnung der Reichweite der Krankenhausapotheken interessiert sind, orientiert sich nicht an Patienteninteressen. Man möchte den Markt und Einflussbereich für die Krankenhausapotheken erweitern (die Krankenhausapotheke als "Profit-Center") und nimmt dabei offensichtlich die praktischen Probleme – insbesondere auch die für die Patienten – in Kauf.

    Fußnoten

    1 § 129 Abs. 5a (neu) 2 Hausarztsysteme (§ 67 SGB V), Strukturverträge (vernetzte Praxen; § 73a Abs. SGB V), Strukturierte Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten (§ 137 f SGB V), Integrierte Versorgung (§ 140a ff. SGB V), Versorgung durch Gesundheitszentren (§ 95 Abs.1 SGB V), Modellvorhaben (§ 64 SGB V) 3 § 11 Apothekengesetz; diese exklusive Bevorzugung war in älteren Fassungen der GMG-Entwürfe noch nicht enthalten, sie kam erst über den Fraktionsentwurf. 4 Auf der aktuellen Internetseite des BMGS sind "Informationen zum elektronischen Handel einschließlich Versandhandel mit Arzneimitteln und dazu die Empfehlung des "Runden Tisches"" verfügbar. Dort heißt es: "Generell sollen auch über die Preise gleiche Wettbewerbsbedingungen erreicht sowie der Verbraucherschutz sichergestellt und die Arzneimittelsicherheit gewährleistet werden. Die Apotheke, die apothekenpflichtige Arzneimittel versendet, muss ein Vollsortiment vorhalten, das pharmazeutische Personal muss beraten und bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die Rezepte prüfen. Dies ist fairer Wettbewerb, so dass Rosinenpickerei ausgeschlossen ist. Vor allem: Niemand darf zum Bezug von Arzneimitteln beim Versandhandel oder über Internet gezwungen werden. Es muss bei der freien Entscheidung der Patientinnen und Patienten bleiben". 5 Vgl. Thomas Müller-Bohn: Das deutsche Apothekensystem aus ökonomischer Sicht, DAZ 22.6.2003 6 Anders als in der Begründung des GMG vermutet, ist der persönliche Kontakt gerade für chronisch-kranke Patienten von Bedeutung, um Arzneimittelprobleme aufzudecken und präventiv zu verhindern (vgl. die Serie in der DAZ 18, 20, 22 (2003); wird fortgesetzt) 7 siehe die Studie im Auftrag des BMGS von Glaeske, Klauber, Lankers Selke vom 16.4.2003, in der Bezug genommen wird auf Daten aus ÖBIG – Benchmarking Arzneimittelausgaben, Wien 2001, hier S.20 ff. 8 Die Apothekengesamtspanne ist (für das Jahr 2001!) mit 31,7 % des AVP grosso modo korrekt angegeben. Dabei sind alle erhaltenen Rabatte/Boni/Skonti bereits eingerechnet. Die für den Großhandel angegebene Spanne von 13 % des AEK enthält jedoch offensichtlich noch die abgeflossenen Rabatte/Boni/Skonti; diese Erlösschmälerungen (inkl. Skonti) belaufen sich auf rund 8 % des AEK. Bereinigt man diesen Fehler, liegt die Gesamtspanne für Großhandel und Apotheken nicht bei 40,6 % des AVK, sondern nur bei 36,4 % des AVK. Damit rückt Deutschland bereits für 2001 aus einem Spitzenplatz ins Mittelfeld. Durch die Anhebungen des Krankenkassenrabattes im Rahmen des AABG (von 5 % auf 6 % im Jahre 2002) und durch die neuen Rabatte im Rahmen des BSSichG fällt Deutschland in Bezug auf seine Arzneimitteldistributionskosten in das Schlussfeld der Tabelle. 9 § 78, Abs. 2 10 Dies soll nach der GMP-Begründung (zu Nummer 7 (§ 14 Abs. 4 Satz 3)) allerdings nur "in den Räumen des Krankenhauses" erlaubt sein; damit sei die Arzneimittelversorgung von ambulanten Patienten zu Hause durch eine Krankenhausapotheke ausgeschlossen; auch solle die " Abgabe von Arzneimitteln durch die Krankenhausapotheke in den Fällen ausgeschlossen [bleiben], wenn die Behandlung der Patienten in vertraglich vereinbarten Versorgungsformen erfolgt und die Arzneimittel von den Patienten zu Hause angewendet werden sollen". Ansonsten er würde "eine solche Versorgung eine Öffnung der Krankenhausapotheke über das für die umgehende Versorgung des Patienten notwendige Maß" hinaus in den Bereich bedeuten, der üblicherweise von öffentlichen Apotheken versorgt wird. "Ein grundsätzliche Öffnung der Krankenhausapotheken ... ergäbe einen ungleichen Wettbewerb der Krankenhausapotheken mit den öffentlichen Apotheken ..."

  • Am 25. Juni 2003 fand in Berlin vor dem Bundestagsausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung eine Anhörung zu dem von den Fraktionen der SPD und Bündnis90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zum Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz sowie zu den Gegenanträgen der CDU/CSU- und FDP-Fraktion statt. DAZ-Mitherausgeber Dr. Klaus G. Brauer war als Einzelsachverständiger zu der Anhörung geladen. Wir veröffentlichen die schriftlich eingebrachte Stellungnahme.

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