Berichte

Highlight-Kongress der DPhG: Visionen für die pharmazeutische Zukunft

Der Highlight-Kongress der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft am 7. Juli 2001 in Lübeck stellte verschiedene neue medizinische und pharmazeutische Entwicklungen von der Proteinchemie über die Schmerztherapie bis zur Bio- und Gentechnik vor. Dabei wurden auch Einblicke in die Grundlagenforschung gewährt, deren praktische Anwendung noch einige Zeit beanspruchen wird.

In seiner Begrüßung berichtete der Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, Prof. Dr. Theo Dingermann, Frankfurt/Main, über die positive Entwicklung der Mitgliederzahl der Gesellschaft. So habe die DPhG in den zurückliegenden sechs Monaten mehr als 500 neue Mitglieder aufgenommen, was einem Zuwachs um fast 10% entspricht. Zum vierten Highlight-Kongress kamen trotz hochsommerlicher Temperaturen etwa 150 Tagungsgäste. Die Veranstaltung war eine Kooperation mit der Pharmazeutischen Zeitung und wurde von Dr. Hartmut Morck, Eschborn, moderiert.

Für die Apotheker des gastgebenden Bundeslandes Schleswig-Holstein begrüßte Kammer-Vizepräsident Holger Iven, Lübeck-Travemünde, die Teilnehmer des Kongresses. Er erinnerte an das DocMorris-Urteil, das die ortsnahe Beratung in den Mittelpunkt stelle. Demnach erwarte die Öffentlichkeit von den Apotheken neben der psychosozialen Betreuung pharmazeutische Information auf höchstem Niveau. Dies erfordere angesichts der schnellen Entwicklung neuer Arzneimittel ständige und nachhaltige Fortbildung.

Was ist Freund oder Feind?

Im Mittelpunkt des Vortrages von Prof. Dr. Robert Tampé, Frankfurt/Main, stand die Frage, wie die T-Lymphozyten des menschlichen Immunsystems andere Zellen als körpereigen oder fremd erkennen. Noch schwieriger ist die Unterscheidung zwischen normal funktionierenden körpereigenen Zellen und virusinfizierten Zellen oder Tumorzellen. Für diese Erkennung etabliere sich der Begriff "immunologische Synapse". Diese leitet einen Vorgang ein, der schließlich zur Lyse der zu bekämpfenden Zelle führt.

Verantwortlich für die Erkennung sind die MHC (major histocompatibility complex) Klasse I-Moleküle. Diese binden ein fremdes Peptid und präsentieren es den T-Lymphozyten. Die fremden Peptide sind ihrerseits Bruchstücke größerer fremder Proteine, d.h. Proteine eines Virus, das die humane Zelle infiziert hat. Die Virusproteine werden durch einen Multienzym-Komplex zerlegt, der als Proteasom-Komplex bezeichnet wird. Die Peptidfragmente lagern sich im endoplasmatischen Retikulum an die MHC-Moleküle. Diese wandern aus der Zelle heraus und präsentieren die antigene Struktur.

Als begrenzender Schritt hat sich der Transport der Bruchstücke in das endoplasmatische Retikulum erwiesen. Ohne diesen Transport gibt es später keine Antigenpräsentation. Der Transport wird durch zwei Transportproteine TAP 1 und TAP 2 vermittelt. Der Transportvorgang ist kompetitiv hemmbar und erfolgt unter Hydrolyse von ATP.

Erstaunlicherweise kann dieses eine Transportsystem etwa eine Million verschiedene Antigene erkennen, was für die Funktion des Immunsystems entscheidend ist. Dabei wählt es bevorzugt Peptide mit Längen zwischen acht und 16 Aminosäuren aus, die an ihren endständigen Fragmenten erkannt und gebunden werden, wie Tampé durch Untersuchungen mit kombinatorischen Peptidbibliotheken zeigen konnte. Die Mitte der Peptide bleibt frei für die spätere Bindung am T-Zell-Rezeptor. Dies sei als koevolutiver Prozess zweier getrennter Strukturen anzusehen.

Die Tricks der Viren

Doch trotz dieser leistungsfähigen Erkennung viraler Strukturen werden manche Viren vom Immunsystem nicht erkannt und können lebenslang im menschlichen Körper persistieren. Dies gelingt insbesondere großen DNA-Viren, die viele verschiedene Proteine bilden können. So wurde im Herpes-simplex-Virus ein Protein gefunden, das allein ohne weitere Cofaktoren den beschriebenen Transport blockiert. Das Protein legt sich auf die Bindungstasche des Transporters und hat speziell zu dem humanen Transportprotein eine sehr hohe Affinität, nicht aber zu dem Transportprotein der Maus.

Ein Protein aus dem humanen Cytomegalie-Virus erzielt einen ähnlichen Effekt, indem es den Transportkanal wie ein Stopfen verschließt und dem Transportprotein den Weg versperrt. Andere Viren besitzen wiederum andere Strategien, um das menschliche Immunsystem zu umgehen. Aus diesen Strategien könnten Methoden entwickelt werden, um das Immunsystem gezielt zu blockieren und immunologische Reaktionen bei Gentherapien zu verhindern, die Viren als Genfähren benutzen. Daneben gibt es Hinweise, dass metastasierende Tumoren ähnliche Wege nutzen, um das Immunsystem zu umgehen. So könnten auch neue Erkenntnisse für die Tumortherapie gewonnen werden.

Peptidische und peptidomimetische Arzneimittel

Prof. Dr. Horst Kessler, München, vermittelte einen Eindruck, wie mit Hilfe der Proteinchemie neue Arzneistoffe entwickelt werden können. Zunächst muss eine Zielstruktur identifiziert werden, dann die Bindungsregion analysiert werden. Gegenüber dem physiologischen Liganden lässt sich das Molekül meist noch verkürzen, d.h. auch kürzere Peptide binden vergleichbar gut. In weiteren Schritten wird ermittelt, inwieweit einzelne Aminosäuren austauschbar sind bzw. welche Aufgaben sie jeweils erfüllen. Anschließend sollte die biologisch aktive Konformation des potenziellen Effektors bestimmt werden. Doch sei dies eine Fiktion, da hier meist flexible Anpassungen stattfinden. Schließlich sollten Peptidomimetika entwickelt werden, d.h. nicht peptidische Arzneistoffe, die den gewünschten Effekt auslösen.

Am Beispiel der Urokinase erläuterte Kessler, wie auch ein erheblich verkürztes Peptid die physiologische Wirkung auslösen kann. Die Wirkung der Urokinase, deren Aktivität bei vielen Tumoren einen ungünstigen prognostischen Faktor darstellt, wird durch Integrine vermittelt. Die Hemmung dieser Integrine erscheint daher sehr interessant. Hierzu wurde ein zyklisches Peptid entwickelt, das aufgrund der Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie "Merck-Peptid" genannt wurde. Inzwischen sind verschiedene solcher Peptide bekannt, die die Subtypen der Integrine teils selektiv, teils unspezifisch hemmen.

Zyklische Peptide aus fünf oder sechs Aminosäuren erweisen sich für die Forschung als vergleichsweise gut handhabbar. Ihre Affinität lässt sich durch "räumliches Screening" teilweise erheblich verbessern. Dabei werden die L-Aminosäuren wechselweise durch D-Aminosäuren ausgetauscht, was die Raumstruktur verändert. Andererseits ist die Herstellung zyklischer Peptide sehr teuer. Daher forscht Kessler inzwischen an kleineren linearen Strukturen, die leichter herzustellen sind und damit als Arzneistoffe billiger wären.

Ziele der Hemmung von Integrinen sind Diagnose und Therapie von Tumormetastasen, die Hemmung der Angiogenese bei Tumoren und diabetischer Retinopathie sowie die Therapie der Osteoporose und des akuten Nierenversagens. Außerdem können Erkenntnisse über optimale Oberflächen von Implantaten gewonnen werden.

Wie Schmerzen chronisch werden

Prof. Dr. Walter Zieglgänsberger, München, befasste sich mit der Chronifizierung von Schmerzen. Akuter Schmerz kann chronisch werden, muss es aber nicht. Um seinen biologischen Schutzzweck zu erfüllen, darf Schmerz nicht dauerhaft empfunden werden. Doch können die Mechanismen, die eine Chronifizierung verhindern, bei einzelnen Menschen gestört sein. Dies kann auch genetische Ursachen haben und damit in Familien gehäuft auftreten. Dagegen wurden solche familiären Häufungen von Schmerzkrankheiten früher durch angeblich falsche Erziehung erklärt.

Durch immer wieder neue Schmerzreize entsteht ein Schmerzgedächtnis. Dies ist mit Lerneffekten vergleichbar. Durch die häufige Aktivierung werden die betroffenen Strukturen reaktionsbereiter, der gleiche Reiz wird stärker empfunden. Um die gespeicherte Schmerzempfindung zu "vergessen", muss die laufende "Auffrischung" des "Gelernten" verhindert werden, d.h. der Schmerz muss für eine gewisse Zeit wirksam gehemmt werden.

Doch auch die Schmerzleitung in der Peripherie kann sich erstaunlich stark verändern. So können bei häufigen Schmerzreizen andere Typen der schmerzleitenden Natrium-Kanäle entstehen, die andere Eigenschaften aufweisen, andere Transmitter bilden, auf andere Reize und schneller reagieren. Die Peripherie stellt ein aussichtsreiches Forschungsgebiet dar, denn hier könnte eine wirksame Blokkade verhindern, dass der Schmerzreiz die zentralen lernenden Strukturen überhaupt erreicht. Wenn dagegen erst einmal ein Schmerzgedächtnis entstanden ist, wird die Therapie ungleich schwieriger.

Insgesamt zeigt sich sowohl an den schmerzleitenden Fasern als auch bei der weiteren Verarbeitung, dass Schmerzreize verschiedene neue Strukturen ausbilden können. Beispielsweise vergrößert sich das rezeptive Feld im Laufe der Zeit, oder der Schmerz wird auch kontralateral zum ursprünglichen Ort empfunden. Dies sind keine psychischen Effekte, vielmehr folgen diese Entwicklungen stets dem gleichen Prinzip: Die (Schmerz-)Information führt zu einer Genexpression. Diese löst den Aufbau neuer Strukturen aus.

Nach vielfachen Schmerzreizen lassen sich experimentell Spontanentladungen ohne äußeren Reiz nachweisen. Diese sind sogar möglich, wenn die peripheren Leitungsbahnen durch Lokalanästhetika blockiert sind. Dies kann das Versagen einer Lokalanästhesie erklären, führt aber auch früher übliche Verfahren zur Identifizierung von Simulanten ad absurdum. So wurden Patienten, die nach Lokalanästhesie weiter über Schmerzen klagten, in die Psychiatrie eingewiesen. Wie Zieglgänsberger feststellte, begeht ein Arzt, der chronische Schmerzpatienten aufgrund dieser Fehleinschätzung in die Psychiatrie schickt, schwerste Körperverletzungen.

Genetische Therapien in der Theorie ...

Prof. Dr. Burghardt Wittig, Berlin, präsentierte den Entwicklungsstand genetischer Therapieansätze. Er unterschied zwischen genetischen Impfungen und Gentherapie. Bei einer genetischen Impfung wird DNA bakterieller und viraler Proteine unter die Haut gespritzt. Die Haut bildet dann das antigene Protein. Damit entfallen viele Risiken herkömmlicher Impfungen, die immer wieder eine Gratwanderung zwischen Wirksamkeit und Unschädlichkeit der abgeschwächten Erreger darstellen. Neben der prophylaktischen Impfung sind therapeutische Impfungen denkbar, die sich gegen Infektionskrankheiten, aber auch gegen Tumoren richten können. Dagegen soll die Gentherapie Gene korrigieren oder Zellen in ihrer Funktion beeinflussen, beispielsweise soll Tumorwachstum gestoppt werden.

Wittig warnte vor übertriebenem Optimismus, der sich auf die "Entschlüsselung" des menschlichen Genoms stützt. Denn die Kenntnis der genetischen Buchstaben sagt noch nichts über deren Funktion aus. Immerhin ist der Zusammenhang zwischen den Genen und manchen Funktionen des Stoffwechsels und der Zell-Reproduktion bekannt. Doch sind die Reaktionen des Organismus auf äußere Einflüsse und ihr genetischer Hintergrund nur in Einzelheiten, aber nicht in ihrem Zusammenwirken erforscht. Noch unklarer sind die Beziehungen zwischen genetischer Information und Gestalt eines Organismus. So lasse sich am Genom nicht sicher erkennen, ob dies für einen Menschen oder für ein Schwein kodiert.

Etwa 95% der DNA werden nicht exprimiert; sie enthalten andere Informationen, z. B. über die zeitliche Steuerung der Genexpression. Ein weiteres Problem bildet die Konformität der Proteine, die nicht vorhergesehen werden kann. Die BSE-Erkrankung, die durch eine veränderte Konformität der Prionproteine ausgelöst wird, unterstreicht die Bedeutung dieses Problems.

Möglicherweise bilden hochkomplexe Systeme wie der menschliche Körper und sein Genom die Grenze der reduktiven wissenschaftlichen Beweisführung, die in unserer Kultur bisher fest verankert ist. So komplexe Muster würden nicht zwangsläufig, sondern als chaotisches System entstehen und seien damit nicht vorherzusagen.

...und in der Praxis

Doch zeigte Wittig auch Möglichkeiten auf, Erkenntnisse der Genetik und Biotechnologie in die pharmazeutische Praxis umzusetzen. So bieten sich Proteine prinzipiell als Arzneistoffe an, sind aber schwer zu applizieren. Sie sollten daher in Zellen gebildet werden, denen der Bauplan in Form von DNA verabreicht werden kann. DNA selbst ist sehr stabil, bei Raumtemperatur gut lagerfähig und damit als Arzneimittel geeignet.

Wittig berichtete über Projekte der von ihm gegründeten Firma Mologen. Dort werden modifizierte DNA-Moleküle verwendet, die über einzelsträngige Endstücke verfügen und dort weitere Liganden tragen können. Bisher wurden therapeutische Impfstoffe entwikkelt, die auf NK-Zellen (natürliche Killerzellen) wirken sollen. Eine Phase I/II-Studie an Patienten mit Nierenzellkarzinom spricht für das Prinzip und ermuntert zu weiteren Untersuchungen.

In einem weiteren Projekt soll die Bildung von Enkephalinen induziert werden, die in der Peripherie gegen chronische Schmerzen wirken. Dabei wird Analgesie über eine Woche angestrebt. Die Wirksamkeit soll mit Opiaten vergleichbar sein, obwohl keine zentralen Effekte auftreten.

Die literarische Perspektive

Zum Abschluss des wissenschaftlichen Programms gab Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt, Lübeck, einen Überblick über die Medizin im Werk des berühmten Lübecker Literatur-Nobelpreisträgers Thomas Mann. Der Dichter hat eine Vielzahl von Krankheiten und den Umgang von Menschen mit Krankheiten beschrieben. Dies zeige, dass in der Verarbeitung von Krankheiten und körperlichen Beeinträchtigungen ein Antrieb für die Kunst liegt. Von Engelhardt stellte die Zusammenhänge zwischen Krankenbeschreibungen im Werk des Dichters und der zeitgenössischen Medizin dar. Selbstverständlich stehen manche psychischen oder mystischen Erklärungsansätze für Krankheiten im Widerspruch zu den heutigen Erkenntnissen, die auch für solche Krankheiten biologische Erklärungen geben.

Zitat

"Das Gehirn ist kein Organ, sondern es hat einen Körper." Prof. Dr. Walter Zieglgänsberger

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