Arzneimittel und Therapie

Neue Therapieansätze bei der Ruhr: Synthetische Moleküle blockieren die bakt

Der Tourist aus Deutschland traf erst abends in dem luxuriösen Hotelkomplex auf der Halbinsel Yucatan in Mexiko ein. Der 65-jährige pensionierte Lehrer bestellte sich noch schnell zwei Hamburger und ein Bier, dann ging er schlafen. Am nächsten Mittag wurde es ihm übel. Er musste sich mehrfach erbrechen und wurde von blutig-schleimigen Durchfällen gequält. Wie sich später herausstellte, war das Fleisch der Frikadellen mit gefährlichen Bakterien verseucht gewesen.

Da sich der Zustand des Lehrers in den nächsten Tagen verschlimmerte, wurde er zuerst in ein Krankenhaus nach Merida, dann mit einem Rettungsflugzeug nach Deutschland evakuiert. Die Symptome des Patienten - Koliken und blutiger Durchfall bei nur leichtem Fieber - sowie die ausgedehnte geschwürige Entzündung des Dickdarms ließen keinen Zweifel an der Diagnose: der Tourist war an Bakterienruhr erkrankt, verursacht durch Shigella dysenteriae.

Gefahr des hämolytisch-urämischen Syndroms

Auch wenn im Zeitalter der Antibiotika eine Shigellose kein großes therapeutisches Problem mehr darstellt, ist eine medikamentöse Behandlung keine Garantie für eine rasche Genesung. Denn noch ein bis zwei Wochen nach dem Ende der Durchfälle kann sich ein so genanntes hämolytisch-urämisches Syndrom, HUS, entwickeln, das durch einen Zerfall von roten Blutkörperchen, ein dramatisches Absinken der Zahl der Blutplättchen und ein akutes Nierenversagen gekennzeichnet ist. 15% dieser Erkrankungen verlaufen tödlich.

Alleine in den USA traten im vergangenen Jahr 119 Fälle von HUS auf, allerdings in den meisten Fällen verursacht durch Varianten von sonst eher harmlosen Coli-Bakterien, die das so genannte Shigatoxin-Gen von den Ruhrbakterien übernommen haben. Sind Lebensmittel oder Trinkwasser mit Shigatoxin produzierenden Coli-Bakterien, kurz STEC genannt, verunreinigt, kommt es immer wieder zu Epidemien, in deren Verlauf besonders Kleinkinder und ältere Menschen lebensgefährlich erkranken.

Giftstoff bindet an Darmzellen

Der Krankheitsverlauf lässt sich mit dem Wirkungsmechanismus des Shigatoxins (auch unter dem Namen Verotoxin bekannt) leicht erklären: Der von den Bakterien nach außen abgegebene Giftstoff bindet an die Darmzellen. Ein Teil des Giftmoleküls durchdringt die Zellwand und zerstört die Matrize, an der im Inneren der Zelle sämtliche Proteine entstehen, die Ribosomen. Damit wird jegliche Eiweißsynthese unterbunden. Der Tod der Schleimhautzelle ist die unvermeidliche Folge.

Gleichzeitig diffundiert das Shigatoxin in die Blutgefäße und wird mit dem Kreislauf im gesamten Körper verteilt. Es bindet nach und nach an bestimmte Nierenzellen sowie auch an die so genannten Endothelzellen, die die Blutgefäße wie ein dichter Flickenteppich auskleiden. Daraus resultieren eine Störung der Blutgerinnung und der Nierenfunktion bis hin zu einer lebensbedrohlichen Blutarmut bzw. einem Nierenversagen, das so genannte hämolytisch-urämische Syndrom.

Toxin muss neutralisiert werden

Da in dieser Phase die Krankheit durch die Giftstoffe und nicht durch die Bakterien selbst verursacht wird, helfen Antibiotika jetzt nicht. Im Gegenteil, antibakterielle Substanzen richten hier mehr Schaden an als Nutzen: Je mehr Bakterien abgetötet werden, um so mehr Toxin wird freigesetzt. Hilfe könnten hier nur Medikamente bieten, die das Shigatoxin neutralisieren. Drei unabhängig von einander arbeitende Forschergruppen sind diesem Therapieansatz einen großen Schritt näher gekommen.

Aufbau aus zwei Untereinheiten

Voraussetzung war die genaue Kenntnis über den dreidimensionalen Aufbau des Giftmoleküls. Das Shigatoxin besteht - ähnlich wie das verwandte Choleratoxin - aus zwei Untereinheiten, die mit A und B bezeichnet werden. Teil B ist der eigentliche molekulare "Wurfanker", mit dem sich die Erreger an bestimmte Zuckermoleküle auf der Zelloberfläche festheften - ähnlich einem winzigen Gummisauger, an dessen unterem Rand in regelmäßigem Abstand "Nuten" vorhanden sind, die Andockstellen für die Zuckermoleküle. Die kleinere A-Untereinheit hat enzymatische Eigenschaften, die allerdings erst dann aktiviert werden, wenn die B-Komponente sich "festgesaugt" hat und der "Enzymstiel" in die Zelle eingedrungen ist.

Zucker-Kieselerde-Gemisch hilft

Werden die in die Giftstoffnuten passenden Zuckermoleküle an Kieselerde gebunden, und schluckt man dieses Zucker-Kieselerde-Gemisch, so wird das im Darm vorhandene Shigatoxin gebunden und mit dem nächsten Stuhlgang ausgeschieden. Die neue Substanz, die unter dem Namen Synsorb-PK bereits patentiert wurde, hat allerdings den Nachteil, dass ihre Synthese sehr teuer ist und dass ein Milligramm Zucker-Kieselerde-Verbindung geschluckt werden muss, um 5bis 10 Nanogramm Toxin zu neutralisieren. Die hohe notwendige Dosierung des Medikaments verursacht hohe Behandlungskosten.

Bakteriensuspension

Raffinierter ist der Therapieansatz von Adrienne W. Paton und ihren Kollegen vom Woman's and Children's Hospital in Adelaide in Australien. Die Forscher pflanzten einer Escherichia-coli-Variante, die nicht in der Lage ist, Fett-Zucker-Verbindungen auf ihrer Oberfläche zu exprimieren, zwei Gene für die Zuckersynthese von anderen krankmachenden Bakterien ein. Die transgenen Coli-Bakterien stellten darauf Fett-Zucker-Verbindungen her, an deren Ende die Zuckermoleküle saßen, die die "Federn" zu den "Nuten" in der B-Untereinheit des Shigatoxins darstellen. Ein Milligramm in Form einer Bakteriensuspension geschluckt, konnte 100 Milligramm Shigatoxin neutralisieren - eine Verbesserung um einen Faktor 10000 gegenüber dem Zucker-Kieselerde-Medikament.

Ringförmiges Zuckermolekül

Eine kanadische Forschergruppe um Pavel I. Kitov wählte einen völlig anderen Ansatz. Basierend auf einer Röntgenstrukturanalyse der B-Komponente des Shigatoxins synthetisierten die Wissenschaftler von der Universität von Alberta ein symmetrisch aufgebautes ringförmiges Zuckermolekül, das wie eine Gussform in den runden Boden des Toxins passt. Die "Starfish" genannte Substanz verhinderte in der Zellkultur, dass sich Shigatoxin an menschliche Zellen anheftete. Aufgrund sterischen Konfiguration war ein "Starfish"-Molekül sogar in der Lage, gleich zwei Giftmoleküle auf einmal zu neutralisieren. Da die Substanz wasserlöslich ist, lässt sie sich theoretisch auch als Infusion verabreichen.

Denkbar ist also, dass die Therapie einer STEC-Infektion und des HUS zukünftig in zwei Schritten ablaufen wird: Solange sich Bakterien im Darm befinden, wird man versuchen, mit Hilfe der gentechnisch veränderten Coli-Bakterien das Shigatoxin zu neutralisieren.

Zirkulieren aber bereits Giftstoffe im Blut, so könnte "Starfish" das Verotoxin in unschädlichen Komplexen binden, die über die Nieren ausgeschieden werden.

Literatur: Paton, A. W., et al. Nature Med. 6, 265-270 (2000). Kitov, P. I., et al. Nature 403, 669-672 (2000). Takeda, T., et al. Microbiol. Immunol. 331-337 (1999).

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