Philosophie

J. Mittelstraß:Tun und Lassen – Über Grenzen

Auf dem Festakt zum 50-jährigen Bestehen der Apothekerkammer Rheinland-Pfalz am 23. Oktober 1999 in Mainz hielt der Philosoph Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß den Festvortrag zum Thema "Tun und Lassen Ų über die Grenzen der Machbarkeit".

Maße

Determination oder Freiheit?

Tun und Lassen – das ist die Normalität in unserem Leben. Wir tun, was wir auch lassen könnten, und wir lassen, was wir auch tun könnten. Nicht in jeder Situation und in jeder Hinsicht, aber in allen Dingen, in denen unsere Freiheit zum Ausdruck kommt und die das Besondere an der conditio humana, der menschlichen Befindlichkeit,a usmachen. Wären wir in allem, was wir tun und was wir lassen, durch unsere Natur determiniert, wie das Tier durch seine Instinkte determiniert ist, wäre Freiheit ein leeres Wort, täten wir immer, was wir tun müssten, und ließen wir immer, was wir lassen müssten. Das Leben, auch das individuelle Leben, wäre eine Sache von Naturgesetzen, nicht von Wille und Vernunft.

Das Gleiche gilt von den Orientierungen, denen unser Leben folgt. Lägen diese ein für allemal fest, gewissermaßen in unserem biologischen Wesen beschlossen, verlöre das (menschliche) Leben seine Unbestimmtheit zwischen Tun und Lassen, Glück und Unglück, Neigung und Pflicht. Es wäre wiederum ein bloßer Vorgang, der sich nicht ändern ließe, in dem die Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Orientierungen ihren Sinn verlöre – und der zwischen Sollen, Dürfen und Nicht-Dürfen auch. Wiederum regelte die Natur, die Natur außer uns und in uns, was zu tun und was zu lassen ist bzw. was als eine Orientierung des Lebens zu gelten hätte. Wir wären wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und keine Macht über seine Bewegung und die Bewegungen, die er bewirkt, hat. Der Ausdruck "Orientierung" hätte strenggenommen gar keine Bedeutung mehr, weil Orientierung immer die Freiheit, etwas zu tun und etwas zu lassen, einschließt, Orientierung immer etwas ist, dem man folgt oder nicht, das man beibehält oder gegen etwas anderes, eine andere Orientierung, tauscht.

Moral: Einschränkungen für ein gutes Leben

Damit ist zugleich der Ort bestimmt, an dem wir, bezogen auf Tun und Lassen, von Moral sprechen und die Philosophie, bezogen auf Regeln oder Normen, die das Tun und das Lassen bestimmen, von Ethik spricht. Moral, die implizit oder explizit einer Ethik folgt, und Ethik, die das Handeln, in Form von Tun und Lassen, zu bestimmen sucht, stellen insofern Einschränkungen dar, die sich der Mensch auferlegt, um, in positiver Hinsicht, ein gutes Leben zu führen, und, in negativer Hinsicht, das Handeln vor sich selbst zu schützen, d.h. aus Gründen, die in einer Ethik definiert werden, aus dem Tun ein Lassen zu machen. Wo das Handeln an keine natürlichen Grenzen stößt oder gar durch Natur von vornherein determiniert ist, errichtet es selbst Grenzen, um das Leben nicht zu gefährden, und zwar sowohl im physischen Sinne (z.B. gegen Mord und Totschlag)als auch im sozialen Sinne (z.B. gegen Herrschaft und Knechtschaft). Der Mensch – so könnte man auch sagen – ist das maßlose Wesen, das ohne Maße nicht leben kann. Gemeint ist, dass sich der Mensch selbst Begrenzungen, Maße auferlegen muss, weil ihn seine Natur in die Maßlosigkeit und damit sehr schnell ins Verderben führt.

Ethik: der Preis für die Freiheit

Die Alten haben das durch die (verpflichtende) Formel "erkenne dich selbst!", durch die Bestimmung ethischer Tugenden als Ort zwischen zwei einander entgegengesetzten Maßlosigkeiten (Aristoteles) oder durch die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch das (einzige) Wesen ist, das sich seine Natur selbst wählen muss. Er ist das Wesen ohne "Archetypus", so hat das der Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola einmal ausgedrückt, bzw. das "nicht festgestellte Wesen", wie es Friedrich Nietzsche und die moderne Anthropologie ausdrücken. Der Preis für die damit verbundene Freiheit im Tun und Lassen aber ist die Ethik. Während archaische Gesellschaften, aber auch die griechische oder die mittelalterliche Gesellschaft die Grenzen des Menschen allein im Blick auf seine Natur zu bestimmen suchten, d.h. im Blick auf sein zugleich geselliges wie ungeselliges Wesen, ist es heute auch die Wissenschaft, d.h. der wissenschaftliche Fortschritt, der zu derartigen Begrenzungen zwingt bzw. wissenschaftliches Wissen mit ethischen Konsequenzen verbindet.

Transformation der Welt in ein Werk des Menschen

In der Wissenschaft hat der Mensch seine Einsichtsmöglichkeiten in das, was ist, einschließlich dessen, was in ihm ist, nicht nur in ungeheurer Weise gesteigert, er hat sich mit Wissenschaft und (in Verbindung mit dieser) mit Technik auch Mittel verschafft und an die Hand gegeben, die auf eine bisher unvorstellbare Weise die Welt und zunehmend auch ihn selbst zu seinem Werk machen. Wir wissen nicht nur mehr, als jemals ein Mensch wusste, wir können auch mehr, als der Mensch jemals vermochte. Und es ist eben das wachsende Wissen, das die Grenzen des Machbaren, die Transformation dessen, was ist, in ein Werk des Menschen, immer weiter hinausschieben lässt. Damit gewinnt angesichts des Fortschritts von Wissenschaft und Technik auch die Frage nach dem richtigen Maß von Tun und Lassen, die Frage, ob wir tun dürfen, was wir tun können, wie weit die Transformation der Welt in ein Werk des Menschen gehen darf, eine neue Dimension. Oder anders formuliert: Die Frage nach den Grenzen des Machbaren wird aus einer "technischen", die Verfügungsgewalt des Menschen über die Welt und sich selbst abschätzenden Frage zu einer ethischen Frage. Es ist nicht zuletzt die Wissenschaft, die durch ihr Tun heute die Frage nach dem Lassen aufwirft.

Ethische Konsequenzen des biologischen Fortschritts

Im Folgenden will ich diese Frage nicht so sehr allgemein, sondern am Beispiel der Biologie und der ethischen Konsequenzen des biologischen Fortschritts erörtern. Es ist die Biologie, in der heute die aufregendsten Dinge in der Wissenschaft passieren, und es ist das wachsende biologische Wissen, das gewaltige Auswirkungen auf das gesamte Leben, auch auf das menschliche Leben, hat und haben wird. In diesem Prozess stellen sich schon heute tiefgreifende ethische Fragen, Fragen, die nach einer philosophischen Antwort suchen, womit zugleich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Philosophie, aus der ich selbst komme, eine neue Aktualität erfahren wird. Denn es ist die Philosophie – mal mit der Theologie, mal ohne sie, mal mit der Soziologie, mal ohne sie –, in der sich Fragen der Anthropologie, also Fragen nach dem veränderlichen oder nicht veränderlichen Wesen des Menschen, damit auch die Beantwortung der alten Frage "was ist der Mensch?", mit Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verbinden, also, in älterer Terminologie, mit Fragen nach dem Ursprung, dem Wesen und den Grenzen des Wissens. Wie es derzeit aussieht, bildet die Ethik die Brücke zwischen Wissenschaft und Leben, als philosophische Ethik zwischen einer Philosophie der Wissenschaft und einer Philosophie des Lebens. Ist diese Brücke fest, wird es in Zukunft ein förderliches Zusammenwirken von Wissenschaft und Leben geben, ist sie zerbrechlich, wird dies bei andauerndem Wachstum unseres wissenschaftlichen Wissens und seiner Anwendungsmöglichkeiten oder Machbarkeiten unübersehbare Konsequenzen für das Leben haben. Damit setze ich mit den Stichworten Wissenschaft und Philosophie, nunmehr bezogen auf die Frage nach den ethischen Konsequenzen der neuen Biologie, noch einmal ein.

Natur als Werk

Wissenschaft und Philosophie sind alte Nachbarn – mal gute, mal schlechte. Das gilt auch für das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik, d. h. derjenigen Disziplin der Philosophie, die vom Tun und Lassen handelt und die Frage zu beantworten sucht, unter welchen allgemeinen Normen bzw. unter welchen obersten Orientierungen oder Zwecken der Mensch handeln und leben soll.

Der Mensch als "exzentrisches" Wesen

Wissenschaft verändert unser Wissen vom Handeln und vom Leben, immer schon, wenn zunächst auch nur, wie bereits erwähnt, im Blick auf sein geselliges wie ungeselliges Wesen, und Wissenschaft stellt das Handeln und das Leben vor immer neue Situationen. Dabei sind wir heute Zeuge einer fundamentalen Veränderung im Verhältnis von Wissenschaft und (philosophischer) Ethik. Paradigmatisch für dieses Verhältnis waren bisher nämlich auf Seiten der Wissenschaft Physik und Astronomie – es ging vor allem um den Platz des Menschen im Kosmos –, heute ist es die Biologie. Der philosophische Blick geht vom Makrokosmos, den der Mensch mit anderen Wesen bewohnt, hin zum Mikrokosmos, der der Mensch selbst ist. Zugleich findet er jene Exzentrizität, die im Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild die neue Stellung des Menschen im Kosmos ausmachte – und von der Geistesgeschichte als revolutionäres Geschehen bezeichnet wird –, in sich selbst.

Der Mensch begreift sich – wie ebenfalls schon erwähnt – als das "nicht festgestellte Wesen" und in dieser Form von exzentrischer, keine feste Mitte besitzender Existenz als Einheit von vermittelter Unmittelbarkeit und natürlicher Künstlichkeit (so der Anthropologe Helmut Plessner [1]). Gemeint ist, dass dem Menschen als reflexivem, denkendem Wesen ein unvermitteltes Verhältnis zu sich selbst nicht möglich und ihm insofern auch sein reflexives, "künstliches" Wesen natürlich ist. In der modernen Biologie findet diese anthropologische, zunächst sehr abstrakt (eben philosophisch) klingende Bestimmung ihre empirische Bestätigung, wobei es nicht nur das neue Wissen um die (biologische) Natur des Menschen, sondern vor allem die sich aus diesem Wissen ergebenden Eingriffsmöglichkeiten in die (biologische) Natur des Menschen sind, die zu einer neuen Beurteilung der conditio humana auch in ethischen Dingen zwingen.

Erkenntnis des Guten – auch eine Frage des Wissens

Hans Jonas, dessen Buch über das Prinzip Verantwortung in jüngerer Zeit Furore machte, hat in seinem Versuch einer Ethik "für die technologische Zivilisation" festgestellt, dass nach klassischer ethischer Auffassung die conditio humana, gegeben durch die Natur des Menschen und die Natur der Dinge, immer die gleiche sei, dass sich auf dieser Grundlage das Gute (für den Menschen) einfach bestimmen lasse und dass sich mit prinzipiell überschaubaren Handlungsfolgen auch Verantwortlichkeiten klar umschreiben ließen.[2] Die Natur des Menschen und der Situation, in der sich der Mensch gegenüber der Welt befindet, wäre demnach fix, in ihren Grundzügen immer die gleiche. Das gleiche gälte von der Bestimmung des Menschen und seiner (mal erfolgreichen, mal erfolglosen) Suche nach dem guten Leben – die Alten sprachen hier noch ganz unbefangen von Glück und Glückseligkeit – und einer Ethik, in der jederzeit klar war, für was der Mensch einzustehen hatte und für was nicht, was, bezogen auf das individuelle Tun und Lassen, zu seinen Verantwortlichkeiten gehörte und was nicht.

Diese Vorstellung, so Jonas, lasse sich nicht länger aufrechterhalten, und zwar sowohl aus philosophischen Gründen, die Jonas nunmehr in einer neuen Verantwortungskonzeption darzulegen sucht, als auch aus empirischen Gründen, die unter anderem etwas mit der (sozialwissenschaftlich erhebbaren) Veränderung der conditio humana, dem Übergang von noch weitgehend natürlichen Verhältnissen in technische Verhältnisse, zu tun haben. So problematisch diese Feststellung in mancher Hinsicht auch ist – sie übersieht z. B. die andauernde Leistungsfähigkeit einer universalistischen, ihrem Typ nach Kantischen Ethik, die ihren Ausdruck in einem Kategorischen Imperativ findet -, sie weist mit Recht darauf hin, dass Ethik keine einfach gegenüber Entwicklungen isolierbare Theorie ist, und dieser Umstand auch wissenschaftliche Entwicklungen einschließt. Es ist auch das Wissen, das unser Tun bestimmt, und je mehr wir über uns wissen, desto relevanter wird dieser Zusammenhang. Das aber gilt vor allem im Hinblick auf die Entwicklung der modernen Biologie, d.h. im Hinblick auf die Entwicklung des biologischen Wissens.

Von der Selbsterkenntnis zur Selbstveränderung

Natur ist einer alten Definition nach das, was der Mensch nicht gemacht hat. Was "von Natur aus" ist, ist das Natürliche, was nicht "von Natur aus" ist, ist das Artifizielle. Aber diese Sphären bleiben nicht getrennt, jede für sich, vielmehr greift der Mensch folgenreich in die Natur ein; er bleibt mit seinen Werken vor der Natur nicht stehen, sondern macht die Natur partiell selbst zu seinem Werk. Diesen Umstand kann man z.B. schon am Unterschied zwischen einem englischen und einem französischen Garten studieren. Den Schlüssel bilden hier die Naturwissenschaften.

Und wiederum ist es vor allem die Entwicklung der modernen Biologie, die hier neue, bisher ungeahnte und für unmöglich gehaltene Perspektiven eröffnet. Der Mensch beginnt in die Baupläne des Lebens einzugreifen, auch in die seines eigenen Lebens. Wie die äußere Welt, die äußere Natur, schon seit langem mehr und mehr zu einem Werk des Menschen wird, so nunmehr auch die innere Welt, seine innere (biologische) Natur. Die moderne Biologie – Stichworte sind etwa Humangenetik und Gentechnik – macht deutlich, dass uns unser wissenschaftliches Wissen zunehmend in die Lage versetzt, uns selbst, unsere (biologische) Natur nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verändern. Die schon erwähnte Renaissance-Vorstellung, dass der Mensch im Unterschied zu allen anderen Wesen sein Wesen, gemeint ist sein kulturelles Wesen, selbst bestimmen müsse [3], macht nicht länger mehr vor seinem biologischen Wesen halt.

Der Mensch "greift ein"

Gemeint ist das Folgende. Die moderne Biologie lehrt seit Charles Darwin,

  • dass der Mensch nicht nur kulturell gesehen, sondern auch biologisch gesehen kein fixes Wesen ist,
  • dass er, wenn auch für das Individuum unmerklich und für die Wissenschaft nur über große Zeiträume erkennbar, Teil evolutionärer Veränderungen ist und
  • dass er selbst in diese Entwicklungen eingreifen kann - und dies, was ihn selbst betrifft, nicht nur auf den traditionellen Wegen der Medizin, sondern auch auf biologischen Wegen.

    Dieses Eingreifenkönnen für sich genommen ist übrigens keineswegs neu. Schon einfache hygienische Maßnahmen, das Waschen der Hände z. B., lassen sich hier einordnen, insofern der Mensch Vorkehrungen trifft, die ihn nicht von vornherein zum Spielball "natürlicher" Vorgänge machen. Doch hier ist etwas anderes, wesentlich Weitergehendes gemeint. Als Beispiele seien die Sequenzierung des menschlichen Genoms und der Übergang von der somatischen zur Keimbahntherapie genannt.

    Praktische Anwendungen der Genomforschung

    Unter der Sequenzierung des menschlichen Genoms wird die Analyse der menschlichen Erbmasse, d.h. der Gesamtheit der genetischen Informationen der Spezies Mensch, verstanden. Wissenschaftlich und therapeutisch eröffnen sich auf diesen Wegen völlig neue Handlungsfelder. So werden, wenn die menschliche Erbmasse erforscht, das menschliche Genom bekannt ist, vorhandene oder geschädigte Gene durch künstliche Gene von außen ergänzt werden können. Therapeutisch wird man vielleicht durch Einführung von intakten Genen den Ausbruch der Krebskrankheit verhindern können, das Immunsystem stärken oder den Alterungsprozess verlangsamen.

    Es werden aber auch Selektionsmöglichkeiten wirklich werden, die auf schier unübersehbare ethische Probleme führen. Das wird z. B. bei der pränatalen Diagnostik, d.h. ei der vorgeburtlichen Erkennung vorhandener oder zu erwartender Störungen eines Embryos oder Fötus, deutlich, aber auch im Übergang von der somatischen Therapie, d.h. der Gentherapie an somatischen Zellen, zur Keimbahntherapie, die nicht das betroffene Individuum, sondern dessen Nachkommen verändert. Während im Falle der somatischen Therapie die Kenntnis des genetischen Programms die Möglichkeit bietet, genetisch bedingte oder genetisch behebbare (individuelle) Erkrankungen zu heilen, wird im Falle der Keimbahntherapie das Genom, d.h. die Gesamtheit aller Gene in einem Organismus, so verändert, dass sich diese Veränderung auf alle nachfolgenden Generationen auswirkt.

    Ethische Argumente betreffen im Falle des Übergangs von der somatischen zur Keimbahntherapie, neben ohnehin durch den Forschungsprozess nahegelegten Einschränkungen (z. B. Kenntnis der Genexpression für den Gentransfer, d.h. das Ablesen der genetischen Information) vor allem Probleme einer Eugenik, d.h. der Anwendung humangenetischer Verfahren zur Reduktion der Anzahl schädlicher Erbanlagen (negative Eugenik) und zur Vermehrung positiver Erbanlagen (positive Eugenik). Diese mögliche Anwendung bedeutet nämlich "zum einen die Tatsache, dass dem Menschen in Zukunft die eigenen (wie auch die familiären) genetischen Determinanten sowohl synchron als auch diachron zugänglich sein werden (...), und zum andern die Möglichkeit, die eigene genetische Konstitution und die der Nachkommen gezielt verändern zu können und damit auf eine ebenfalls bis dahin nicht bekannte Weise zum möglichen Artefakt des eigenen Handelns werden zu lassen. Unabhängig davon, ob der Mensch von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen wird, werden sie sein Selbstverhältnis verändern"[4]. Tatsächlich ändert sich die conditio humana in dem Sinne, dass nunmehr auch ihre biologischen Grundlagen dem Menschen verfügbar werden. Dies ist für den Menschen eine völlig neue, konsequenzenreiche Situation, desgleichen für die Ethik bzw. deren anthropologische, das Bild vom Menschen betreffende Prämissen.

    Ethik impliziert die Natur des Menschen

    Hinsichtlich der Rede von Konsequenzen im Zusammenspiel von Ethik und Wissenschaft müssen nun zwei Aspekte, deutlicher vielleicht als bisher – und ganz gewiss auch ohne jene eitlen Aufgeregtheiten, die sich derzeit mit einer eher fahrlässig geführten, von wenig Sachverstand getrübten Debatte um die Zukunft des "Menschenparks" in den Medien verbinden –, voneinander unterschieden werden: 1. Konsequenzen der Forschung, die eine ethische Beurteilung und gegebenenfalls eine ethische Regulierung erforderlich machen, und 2. Konsequenzen für die Ethik selbst.

    Im ersten Fall schafft die Wissenschaft Verhältnisse, auf die die Ethik reagieren muss, wobei ethische Beurteilungen Konsequenzen für den weiteren Fortgang der Forschung haben; im zweiten Fall hat die Forschung Konsequenzen für die Ethik selbst, etwa in Form einer notwendig werdenden Modifikation empirischer Annahmen über die Natur des Menschen. Derartige Annahmen bzw. ein Wissen über die faktische Natur des Menschen gehen nämlich auch in eine normativ strukturierte Ethik, d.h. eine Ethik, die ihre Normen nicht von empirischen Fakten oder Zufälligkeiten abhängig macht, zumindest in Form von zu beachtenden Randbedingungen ein.

    Noch einmal anders formuliert: Ebenso wenig wie eine Ethik ohne Anthropologie, d.h. ohne fundamentale Grundannahmen über die Natur des Menschen, auskommt [5], seien diese nun philosophisch oder auch religiös motiviert, kommt eine Ethik ohne Kenntnis derjenigen Umstände aus, unter denen der Mensch lebt. Zu diesen Umständen aber gehören auch die wissenschaftlich erhobenen bzw. durch Wissenschaft zuallererst herbeigeführten Umstände. Die Wissenschaft, hier die Biologie, belehrt uns, wie unsere (biologische) Natur beschaffen ist, und dies sowohl in Form von Voraussetzungen, die in der biologischen Natur des Menschen liegen, als auch in Form von Entwicklungen, an denen die biologische Natur des Menschen teilhat. Schließlich geht es nicht um eine Ethik für Götter oder Engel, sondern um eine Ethik für den Menschen, der sich gegenüber Göttern oder Engeln stets in der misslichen oder auch ganz einfach normalen Situation befindet, eine biologische Natur zu haben und mit Entwicklungen verbunden zu sein, die sich zu großen Teilen, trotz der wachsenden Verfügungsgewalt des Menschen auch über seine biologische Natur, der menschlichen Regie entziehen.

    Klonen

    Ein nahezu dramatisches Beispiel für das schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ethik und mögliche Konsequenzen für Wissenschaft und Ethik, die sich aus unserem wachsenden wissenschaftlichen Wissen ergeben, ist die derzeitige Debatte um das Klonen, insbesondere um die mögliche Erzeugung menschlicher Klone. Diese Debatte begann mit dem spektakulären Auftreten von Dolly, d.h. der von schottischen Tierzüchtern zum ersten Mal erfolgreich betriebenen Herstellung eines Säugetiers mit dem identischen Erbgut eines anderen, erwachsenen Tieres, und setzte deshalb so schockartig ein und wird seitdem auch deshalb so hektisch geführt, weil hier mit neuen gentechnischen Möglichkeiten auf einmal das, was ein für allemal den menschlichen Einwirkungsmöglichkeiten entzogen schien, nämlich die "künstliche" Erzeugung eines Menschen, disponibel zu werden beginnt. Hier scheinen Grenzen zu fallen, die die Natur selbst gezogen hat. Was ist gemeint, und ist diese Vorstellung richtig?

    Genotyp und Phänotyp

    Die Erzeugung von Klonen ist die Erzeugung von Lebewesen mit gleichen Erbinformationen entweder durch Zellkernaustausch oder durch Teilung von Embryonen im frühen Entwicklungsstadium. Klon sein bedeutet also, dass der Genotyp, also das Erbgut, zweier (oder mehrerer) Individuen identisch ist, was im übrigen nicht besagt, dass auch der Phänotyp, das sind die vom Genotyp beeinflussten äußeren Merkmale, identisch sein muss. Nicht alle Merkmale eines Organismus sind allein durch Genwirkung bestimmt; auch die Entwicklungsbedingungen eines Organismus, darunter im menschlichen Falle kulturelle und soziale Bedingungen, spielen eine wichtige Rolle. Bei eineiigen (monozygoten) Zwillingen ist dies seit langem zu studieren. Heute leben viele Millionen Menschen, die als (eineiige) Zwillinge genetisch identische Geschwister haben.

    Natürliche und künstliche Klone

    Dieser Hinweis macht im übrigen deutlich, dass Klonbildung durchaus ein natürlicher Vorgang ist; sie stellt einen in der Natur, z.B. bei Mikroorganismen (Bakterien und Hefen), aber auch mehrzelligen Tieren, vorkommenden Vermehrungsmechanismus dar. Neu ist allein, dass dieser Mechanismus, den wir auch bei höheren Pflanzen beobachten können (z.B. sind alle Kartoffeln eines Ackers Klone), "künstlich", d.h. in Form eines Klonierungsverfahrens, auch auf höhere Säugetiere angewendet werden kann; und von ethischer Relevanz ist die Frage, ob ein derartiges Verfahren auf den Menschen angewendet werden darf.

    Verstoß gegen die Menschenwürde?

    In der Regel wird – insbesondere wenn von theologischer oder philosophischer Seite argumentiert wird – das Klonen von Menschen als ein schwerer Verstoß gegen die Menschenwürde aufgefasst, insofern hier die natürliche Individualität des Menschen aufgehoben werde. Dabei wird einerseits auf das besondere Leib-Körper-Verhältnis des Menschen hingewiesen (nach Plessner ist der Mensch sein Leib und hat ihn als Körper, nämlich als "Leib im Körper")[6], andererseits auf das Selbstzwecksein des Menschen, das vor jeder Instrumentalisierung, als die nun das Klonen von Menschen angesehen wird, geschützt werden müsse.

    Das sind schwere Geschütze, gegen die kein argumentatives Kraut mehr gewachsen zu sein scheint. Nun bleibt zunächst einmal festzustellen, dass gegen das Klonen von Menschen nicht die Übereinstimmung des Genoms des einen mit dem Genom des anderen spricht – auch Zwillinge sind schließlich Personen und als solche Träger von Menschenwürde –, auch nicht das Klonierungsverfahren selbst – schließlich gibt es in diesem Verfahren noch gar keine Person, gegen deren Würde verstoßen werden könnte –, sondern, wie in einer Stellungnahme deutlich gemacht wird, die für den Rat für Forschung, Technologie und Innovation beim Bundeskanzler im April 1998 erarbeitet und im September veröffentlicht wurde, allein "die Tatsache, dass ein Mensch als Mittel zu einem Zweck hergestellt wird, der nicht er selbst ist, und dass ihm zu diesem Zweck die genetische Gleichheit mit einem anderen Menschen auferlegt wird"[7]. Dies wäre z. B. beim Klonen aus Gründen von Organ und Gewebespenden, d.h. der Anlage individueller Organbanken, der Fall. Hier würde "die genetische Identität um eines Zweckes willen manipuliert, dem der hergestellte Mensch dienen soll. Er soll der sein, dem sein Genom gleicht, oder existieren, um durch seine genetische Gleichheit einem anderen zu dienen."[8]

    Doch diese Vorstellung – der Klon als Ersatzteillager für den Klonierten – ist ohnehin absurd, weil der Klon, ebenso wie der natürliche Zwilling, selbstverständlich ein Individuum ist mit allen Rechten, die wir mit einem Individuum verbinden. Dass hier der eine (der Klon) wie der andere (der Klonierte) ist, ist schließlich ein Umstand, den wir bei monozygoten Zwillingen seit langem gewohnt sind, ohne dass jemand auf den Gedanken gekommen wäre, der eine sei (nur) für den anderen da. Auch Zwillinge sind Personen wie jeder Nicht-Zwilling und darin von allen Gesetzen, die sich aufgeklärte Gesellschaften geben, geschützte Individualitäten.

    Argumente für das Klonen

    Im übrigen gibt es auch zahlreiche Argumente, die für das Klonen bzw. für die Bereitstellung einer derartigen Fortpflanzungsmöglichkeit sprechen. Was nämlich wäre, wenn das Klonierungsverfahren bei der Behandlung von Unfruchtbarkeit und zur Vermeidung schwerer genetischer Krankheiten eingesetzt würde? Selbst der Wunsch einer Witwe nach einem Kind, das einem gerade verlorenen ähnlich ist [9], könnte ein (zugelassener) Grund für eine Anwendung des Klonierungsverfahrens sein. In diesen genannten Fällen würde weder gegen das Prinzip der Unverletzlichkeit der Würde des Menschen noch gegen die damit zusammenhängende Bestimmung des Menschen als Selbstzweck, wie sie etwa die Zweckeformel des Kategorischen Imperativs bei Kant ausdrückt, verstoßen. Im übrigen lautet diese Zweckeformel – realistisch und menschlich zugleich: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."[10]

    Wer mit Kant argumentiert, sollte Kant genau lesen. Schließlich heißt es hier, dass eine Person nicht bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandelt werden müsse. Von einem völligen Ausblenden des Mittelaspekts ist hier nicht die Rede. Hieße es: "nie und unter keinen Umständen als Mittel", wäre z. B. jede menschliche Fortpflanzung moralisch verwerflich, weil sie stets, und auch der Akt, der zu ihr führt, nicht nur durch die zukünftige Person als Zweck bestimmt ist. Wer ein Kind zeugt, denkt nicht nur an das Glück des Kindes, sondern auch an sein eigenes Glück. Oder anders formuliert: Nur völlige Weltfremdheit ließe behaupten, dass es bei der Erzeugung eines Menschen bisher allein um das Glück des Gezeugten ginge und nicht z.B. um das Glück der Eltern oder den Ausgleich des Verlusts eines anderen Kindes. Auch Thronfolger wurden früher aus anderen Zwecken als denen ihres eigenen Glücks gezeugt.[11]

    Die Zwecksetzung ist entscheidend

    Damit ist aber – gegen allzu gewaltig daherkommende Argumente aus dem Arsenal der Philosophie und der Theologie [12] – klar, "dass das Klonieren nicht in irgendeinem Sinne "an sich" verwerflich ist, sondern nur im Zusammenhang mit menschlichen Zwecksetzungen. Zwecksetzungen sind jedoch variabel, so dass die Frage der moralischen Verwerflichkeit Fall für Fall geprüft werden muss", unbeschadet des Umstandes, dass "das Klonieren von Menschen eine tiefgreifende qualitative Änderung hinsichtlich des menschlichen Selbstverständnisses darstellen würde. Die zufällige genetische Konstellation, die sich durch die "natürliche" Vermehrung einstellt, ist so etwas wie ein natürlicher Schutz vor einer Instrumentalisierung (jedenfalls einer weitgehenden Instrumentalisierung)"[13]. Das heißt, es bleibt die grundsätzliche Frage, wieviel Technik wir an die Stelle traditioneller und als natürlich empfundener Verhaltensweisen setzen wollen. Schließlich verändern sich mit der Technik des Klonens nicht nur künftige Generationen, sondern wir verändern uns auch selbst, zumindest in unserem Selbstverständnis.

    Neue Grenzen setzen

    Mit anderen Worten: Wo Grenzen überschritten werden, die bisher wie bei der menschlichen Reproduktion durch die Natur selbst gesetzt schienen, muss eben sehr genau, ohne Rekurs auf individuelle Intuitionen oder ideologische Voreingenommenheiten, erörtert werden, wo derartige Grenzen in Zukunft liegen sollen. Auch Grenzen der Machbarkeit sind in diesem Sinne gemachte Grenzen, d.h. durch den Menschen gesetzte, ethische Grenzen. Und, noch einmal: Der Mensch ist ein maßloses Wesen, das nur unter Maßen leben kann. Das machen – und auch das ist eine Konsequenz, die wir aus dem dargestellten Beispiel, den neuen Klonierungsmöglichkeiten, ziehen dürfen – Natur, Wissenschaft und Ethik gleichermaßen deutlich.

    Biologische Ethik?

    Mit der Entwicklung der neuen Biologie wachsen dem Menschen neue Chancen (z. B. in der Medizin) und neue Gefahren (z.B. in der unbedachten oder unverantwortlichen Anwendung neuer gentechnischer Methoden) zu. Auch das ist nichts Neues. In der Entwicklung der Menschheit, vor allem seit dem Auftreten von Wissenschaft und Technik, waren Entdeckungen und Erfindungen, die neue Wege in die Zukunft wiesen, auch immer mit Missbrauchsmöglichkeiten und Gefahren bisher unbekannter Dimension verbunden. Was hier, im Falle der modernen Biologie, auf diesen Zusammenhang bezogen, vielleicht neu ist, ist der Umstand, dass die Entwicklung des biologischen Wissens Konsequenzen für die Ethik (im herkömmlichen Sinne) zu haben scheint. Dazu abschließend einige kurze Überlegungen unter dem Stichwort einer biologischen oder ökologischen Ethik.

    Folgenberücksichtigung und Vorsicht

    Konsequenzen für die Ethik, die sich aus der neuen Biologie ergeben, werden in ganz unterschiedlicher Weise gezogen. Eine Konsequenz ist heute der Ruf nach einer Bioethik im Sinne einer auf biologische Tatbestände bezogenen angewandten Ethik. Sie würde in bestimmten Bereichen bzw. bei bestimmten Anwendungen zu besonderen Aufmerksamkeiten und grundlegenden Maßnahmen verpflichten, die sich als Regeln einer Verantwortungsethik formulieren lassen. Zu derartigen Regeln könnten z. B., angewandt auf gentechnische Entwicklungen,

  • eine Folgenberücksichtigungsregel gehören, die zu einer sorgfältigen Prüfung möglicher, vor allem unerwünschter Folgen verpflichtet, und
  • eine Vorsichtsregel, die zwischen gegebenen Handlungsalternativen die Wahl derjenigen Alternative mit der größten Prognosesicherheit und dem geringsten erwartbaren Schaden vorschreibt. [14]

    Argument der Naturwidrigkeit

    Doch die Debatte um ethische Probleme der Biologie greift weit über eine derartige, weitgehend dem common sense verbundene Bioethik hinaus in Richtung auf eine ökologische Ethik. Diese sucht nach der Absicht ihrer Vertreter die Fundamente der Ethik selbst zu verändern. Ausgangspunkt einer derartigen Ethikkonzeption ist meist das Argument der Naturwidrigkeit. Demnach täten Gentechnik und Eingriffe in die menschliche Reproduktion etwas, das allein Sache der Natur selbst sei; sie griffen in eine sich selbst regulierende Natur selbst regulierend ein, überschritten z.B. durch Gentransfer Artschranken, verletzten damit die "Identität der Arten" (G. Altner [15]) und störten die (relative) Stabilität ökologischer Gleichgewichte. So heißt es z.B. bei dem Theologen Günter Altner: "Der Eigenwert der nichtmenschlichen Geschöpfwelt zeigt sich in der unverwechselbaren Ausprägung der Arten, in ihrem natürlichen Zusammenspiel, was wiederum seinen Ausdruck in typischen Artgemeinschaften (Biotopen) und in der relativen Stabilität ökologischer Gleichgewichte findet." [16]

  • Naturalistischer Fehlschluss: Natur als absoluter Wert

    Was hier auf den ersten Blick plausibel erscheinen mag, zumal auch Altner Wandel nicht bezweifelt, aber als das "Geheimnis" dieses Wandels "ein langsames und vielschrittiges Fortschreiten, sein Offensein und seine Potenz für höhere Ordnungen und zunehmende Komplexität" [17] konstatiert, ist keineswegs klar. So verbinden sich in derartigen Argumenten, zu denen im übrigen auch die extreme Vorstellung gehört, dass "im Ganzen der Natur" Tiere, Pflanzen und die Elemente unseresgleichen und wir ihresgleichen sind [18], biologische Unklarheiten – was heißt z. B. "Identität der Arten"?, die Biologie kennt diesen Begriff nicht – mit ethischen Unklarheiten - was z. B. hat Ethik mit einer Ordnung der Arten, also biologischen Klassifikationen, oder gar mit einem wie auch immer vorstellbaren Ganzen der Natur zu tun?

    Wer gleichwohl so denkt (und schreibt), verwechselt das Empirische (hier biologische Tatbestände, die die Wissenschaft erhebt) mit dem Normativen, dem, was nach unseren Vorstellungen sein soll, und begeht, wie es die Philosophie ausdrückt, einen naturalistischen Fehlschluss. Gemeint ist, dass hier vom Sein (aus Tatsachenbeschreibungen) auf das Sollen (auf normative Sätze) geschlossen wird. In dieser Form könnte dann z.B. im Sinne einer der artigen ökologischen Ethik, die in der wirklichen oder auch nur vermeintlichen Ordnung der Natur ein verbindliches Maß zu erkennen glaubt, aus der Existenz möglicherweise höchst gefährlicher Bakterien auf das Gebotensein ihres Schutzes geschlossen werden.

    Tatsächlich wird immer wieder versucht, auf einem derartigen Fehlschluss eine neue, nämlich eine ökologische Ethik aufzubauen und diese in Form eines Physiozentrismus dem bisher in der Ethik maßgeblichen Anthropozentrismus, der nunmehr als genereller Irrweg bezeichnet wird, entgegenzusetzen.

  • Anthropozentrismus besagt, kurz (und vielleicht auch ein wenig missverständlich) gesagt, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist,
  • Physiozentrismus besagt, dass dieses Maß die Natur selbst ist. Dabei spielen unterschiedliche Naturbegriffe eine zentrale Rolle, weshalb im übrigen eine zur ökologischen Ethik erweiterte Bioethik auch als Naturethik bezeichnet wird. Für den Anthropozentrismus kann – in ethischen wie in Naturdingen – nur vom Menschen aus argumentiert werden und hat Natur keinen eigenen moralischen Wert in sich; für den Physiozentrismus ist Natur hingegen durch einen derartigen eigenen (absoluten) Wert, der zugleich Pflichten des Menschen gegenüber der Natur impliziert, charakterisiert.

    Genauer wird dabei im Falle des Physiozentrismus noch unterschieden zwischen

  • einem Pathozentrismus (alle empfindungsfähigen Wesen haben einen moralischen Wert),
  • einem Biozentrismus (alle Lebewesen haben einen moralischen Wert) und
  • einem radikalen Physiozentrismus, der, wie dargestellt, die gesamte Natur zur Trägerin moralischer Werte macht. [19] Allen diesen Varianten ist gemeinsam, dass Werte, die in Wahrheit stets das Ergebnis von Wertungen sind, zu einem Teil der Natur selbst erklärt werden. Die Erweiterung einer Bioethik als Teilbereich der angewandten Ethik zu einer biologischen Ethik in Form oder auf dem Hintergrund eines Physiozentrismus stellt damit in Wahrheit ein Missverständnis dar.

    Diese Erweiterung macht Ethik nicht nur abhängig von einer bestimmten Weltsicht, sondern führt mit ihren naturalistischen Prämissen auch zu einem neuen (ethischen) Biologismus. Gemeint ist damit, dass die Biologie hier nicht nur zur Ratgeberin, sondern auch zur Gesetzgeberin in ethischen Dingen werden soll. Das wiederum ist sowohl ein philosophisches als auch ein biologisches Missverständnis, lehrt doch gerade die neue Biologie, wie durchlässig die Grenzen zwischen "natürlichen" und "artifiziellen", also vom Menschen bestimmten Prozessen werden. Eine Berufung auf die Natur in ethischen Dingen macht hier im Unterschied zu den Verhältnissen in archaischen Kulturen keinen Sinn mehr.

    Evolutionäre Ethik als bequeme Entschuldigung

    Und noch etwas: Auch die Auffassung, dass das moralische Verhalten als besondere Form des Sozialverhaltens selbst ein Produkt der Evolution sei bzw. evolutionstheoretisch erklärt werden könne, führt, wenn in einem absoluten Sinne als Begründung der Ethik verstanden, in die Irre. Während im Falle einer biologischen Ethik natürliche Verhältnisse zum Maßstab einer Ethik gemacht werden sollen, wäre Ethik in diesem Falle ein Produkt dieser Verhältnisse, womit denn auch hinter unseren ethischen Defiziten nicht etwa Versäumnisse der Vernunft stünden, sondern eine nicht zu Ende und mit dem Menschen nicht zu Rande gekommene Evolution. [20] Eine in diesem Sinne evolutionäre Ethik wäre eine bequeme Entschuldigung für unerledigte Aufgaben im Umgang des Menschen mit sich selbst und mit der Natur.

    Für einen vernünftigen Anthropozentrismus

    Eben um diese Aufgaben aber geht es, weshalb, wie ich meine, auch nur ein vernünftig verstandener Anthropozentrismus in der Ethik diese Aufgaben zu lösen vermag. Die Natur gibt keine ethische Lektion, weder in Form des Physiozentrismus noch in Form einer evolutionären Ethik. Sie macht eben nur im Schadensfalle – Stichwort Umweltprobleme – die unerledigten Aufgaben einer Vernunftethik deutlich.

    Schlussbemerkung

    Wenn es unter kontingenten historischen Umständen immer wieder darum geht, unser Wissen und unser Tun miteinander in Einklang zu bringen, dann bedeutet das auch, Wissenschaft und Ethik nicht als zwei unterschiedliche Welten zu betrachten, allerdings ohne sie in Form einer biologischen oder einer evolutionären Ethik miteinander zu identifizieren. Biologie kann sich nicht an die Stelle der Ethik setzen, aber sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Klärung gewisser Voraussetzungen einer Ethik.

    Dies meinte auch der Evolutionsbiologe Ernst Mayr: "Die Evolution stattet uns nicht mit einem vollständigen, codifizierten Satz ethischer Normen aus, wie es etwa die Zehn Gebote sind. Ein Verständnis der Evolution vermittelt uns jedoch eine Weltsicht, die als vernünftige Ausgangsbasis für die Entwicklung eines ethischen Systems dienen kann, das sich für die Aufrechterhaltung einer gesunden menschlichen Gesellschaft eignet und auch für die Zukunft der Menschheit in einer Welt Sorge trägt, die durch den Schutz des Menschen vor der Zerstörung bewahrt wird." [21]

    Mit anderen Worten, wissenschaftliche Tatbestände müssen auch in der Ethik zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden, allerdings stets eingedenk der (philosophischen) Tatsache, dass aus Sein kein Sollen folgt und jeglicher Naturalismus in der Ethik diese gerade daran hindert, ihre eigentliche Aufgabe, nämlich das Leben vernünftig zu orientieren, zu erfüllen.

    Dem Delphischen Imperativ "Erkenne dich selbst!" ist eben nicht schon Folge geleistet, wenn wir erkannt haben, was an uns selbst Natur ist. Es kommt darauf an, mit dieser Natur, in uns und außer uns, vernünftig umzugehen, und das heißt auch, die rechte Balance zwischen dem Tun und dem Lassen, auch im Hinblick auf den wissenschaftlichen Fortschritt, immer wieder aufs neue zu finden. Grenzen der Machbarkeit lagen einmal in der Natur; nun liegen sie, als vernünftig bestimmte Grenzen, in uns.

    Anmerkungen

    [1] H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928, 31975], Frankfurt/Main 1981 (Gesammelte Schriften IV), 360ff., 383ff., 396ff. [2] H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/Main 1984, 15. [3] Vgl. J. Mittelstraß, Nature and Science in the Renaissance, in: Metaphysics and Philosophy of Science in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Essays in Honour of Gerd Buchdahl, ed. R. S. Woolhouse, Dordrecht/Boston/London 1988 (The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science 43), 17–43. [4] L. Honnefelder, Humangenetik (3. Ethisch), in: Lexikon der Bioethik II, ed. W. Korff u.a., Gütersloh 1998, 256. [5] Vgl. L. Siep, Ethik und Anthropologie, in: Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, ed. A. Barkhaus u.a., Frankfurt/Main 1996, 274–298. [6] Vgl. zu dieser Unterscheidung H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens [1941, 31961], in: H. Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, ed. G. Dux, Frankfurt/Main 1970, 11–171 (= Gesammelte Schriften VII, Frankfurt/Main 1982, 201–378). Der Unterschied des Menschen zum Tier besteht nach Plessner darin, dass das Tier sein Körper ist und ihn zugleich als Leib hat (Gesammelte Schriften VII, 238). Dazu, in dem hier gegebenen Zusammenhang, L. Honnefelder, a.a.O. , 255. [7] A. Eser u.a., Klonierung beim Menschen. Biologische Grundlagen und ethisch-rechtliche Bewertung. Stellungnahme für den Rat für Forschung, Technologie und Innovation, Bonn 1997, 11. [8] Ebd. [9] Vgl. Ph. Kitcher, The Lives to Come. The Genetic Revolution and Human Possibilities, New York 1997, 336. [10] I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], in: I. Kant, Gesammelte Schriften, ed. Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (zu Berlin), Berlin 1902ff., IV, 429. [11] Vgl. C. F. Gethmann, Ethische Argumente gegen das Klonieren von Menschen, Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH. Akademie-Brief Nr. 9 (4/1998), 2. [12] Vgl. D. Birnbacher, "Die Fortpflanzung hat ihre Unschuld verloren". Ein Gespräch, Information Philosophie 3 (August 1998), 114. [13] C. F. Gethmann, ebd. [14] Zu diesen und weiteren Regeln vgl. B. Irrgang, Bioethik, in: Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, ed. J. Nida-Rümelin, Stuttgart 1996, 516ff. [15] G. Altner, Naturvergessenheit. Grundlagen einer umfassenden Bioethik, Darmstadt 1991, 214. [16] G. Altner, a.a.O., 217. [17] Ebd. [18] K. M. Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München 1984, 24. [19] Vgl. dazu im einzelnen die präzise Darstellung in A. Krebs, Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe, in: Angewandte Ethik (vgl. Anm. 14), 346–385. [20] Vgl. G. Wolters, Evolution/Evolutionstheorie(n) 2.2, in: Lexikon der Bioethik I, ed. W. Korff u.a., Gütersloh 1998, 714–717; ferner M. Vogt, Evolution/Evolutionstheorie(n) 2.3, a. a. O., 717–721. [21] E. Mayr, Toward a New Philosophy of Biology. Observations of an Evolutionist, Cambridge Mass./London 1988, 89 (dtsch. Eine neue Philosophie der Biologie, München/Zürich 1991, 118).

  • Konventionelle Regeln des Zusammenlebens (kurz: Moral) setzen der Handlungsfreiheit des Menschen Grenzen. Gegenüber der Natur ist die Handlungsfreiheit des Menschen jedoch weniger durch die Moral als durch die technischen Fähigkeiten begrenzt.Inzwischen sind die Grenzen der Machbarkeit so weit zurückgedrängt, dass die Menschheit ihre eigene Natur verändern kann. Brauchen wir in dieser Situation eine neue Moral? Ein Philosoph erörtert das Thema.

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