Berichte

Junge Wissenschaft und Praxis: Bioethik-Seminar

In einem Pilotprojekt an der Universität Leipzig hatten die Hanns Martin Schleyer-Stiftung und die Heinz Nixdorf-Stiftung im letzten Jahr ihre Seminarreihe "Junge Wissenschaft und Praxis" auf die Naturwissenschaften ausgedehnt und ein zweitägiges Seminar zur Bioinformatik gefördert. In diesem Jahr fand am 29. und 30. Juni in Machern bei Leipzig das zweite Seminar in dieser Reihe zum Thema Bioethik statt. Die Veranstaltung wurde geleitet und organisiert von Prof. Dr. Kurt Eger, Institut für Pharmazie, und Prof. Dr. Martin Schlegel, Institut für Zoologie.

Die Entscheidung für dieses brisante Thema wurde getroffen, lange bevor Fragen zur Bioethik zu einem Medienrenner des Frühsommers 2001 wurden. Angesprochen waren Studierende höherer Semester, Diplomanden, Doktoranden und weitere interessierte Wissenschaftler der Biowissenschaften, Pharmazie, Chemie, Medizin und Psychologie.

Umfassende Thematik

Von vierzehn Referenten wurde das Thema Bioethik in einem weiten Bogen gespannt und mit den Teilnehmern lebhaft diskutiert. Einerseits waren es Probleme, die das Leben vor der Geburt betreffen, wie der Lebensschutz für Embryonen, Forschung an embryonalen Stammzellen sowie reproduktives und therapeutisches Klonen (N. Hoerster, Mainz; A. W. Bauer, Heidelberg; P. Stekeler-Weithofer, Leipzig). Andererseits wurden Fragen zu Patientenautonomie, Patientenverfügung und ärztlicher Sterbehilfe angesprochen (O. Riha, C. Schröder und E. Brähler, Leipzig).

Darüber hinaus wurden Themen "mitten aus dem Leben" aufgegriffen, wie ethische Probleme in der Psychiatrie (T. Becker, U. Müller, Leipzig), ethische Eingriffe bei der Herstellung von Arzneimitteln (M. Schleyer, Legau), gesundheitlicher Verbraucherschutz (K. Fehlhaber, Leipzig) und Wissenschaftskommunikation als Voraussetzung in der Bioethikdebatte (C. Schröder, Mainz). I. Broer (Rostock) und G. Schütte (Hamburg) zeigten Chancen und Risiken der "Grünen Gentechnik" auf. N. Ammermann (Erfurt) stellte die Argumentationsschemata der wichtigsten deutschen politischen Parteien dar, und K. Tanner (Halle) berichtete aus der Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik in der Medizin". Auf einige Aspekte soll im Folgenden näher eingegangen werden.

Wann beginnt menschliches Leben?

Von Prof. Dr. Norbert Hoerster wurde die Frage nach dem Lebensschutz von Embryonen gestellt, und damit die zentrale Frage, wann menschliches Leben beginne. Für ihn beginnt Leben im biologischen Sinne bereits vor der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, da diese ja schon vorher leben. Die Frage stellt sich seiner Meinung nach anders, nämlich ob eine Zygote und ein daraus entstehender Embryo auch schon ein menschliches Wesen mit Recht auf Lebensschutz seien und ab wann man von solch einem sprechen könne.

Ein Recht auf Leben in vorpositiv vorgegebenem Recht, wie etwa von Gott oder der Natur, ist nach Meinung von Hoerster nicht mit dem modernen empirischen Weltbild vereinbar. Ein Ansatzpunkt für die Zuerkennung des Menschenrechts auf Leben bietet sich für ihn in der Herausbildung eines "Überlebensinteresses". Solch ein Überlebensinteresse beginne nach der Geburt.1

Wegen seiner "Potenzialität auf menschliches Leben" könne man dem Embryo Lebensschutz zuerkennen und müsse ihn in die Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens mit einbeziehen. Dies sei aber keine verfassungsrechtliche Angelegenheit, sondern prinzipiell eine Elternentscheidung, sowohl in vivo als auch in vitro.

Hoerster betonte hier vor allem den Rechtsgrundsatz in dubio pro libertate: Man brauche starke Argumente, um etwas zu verbieten, man müsse etwas zulassen, wenn es objektiv nicht schädigend ist, auch wenn man selbst nicht dafür sei.

Schadensfreiheit oder Würde?

Auch Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer argumentierte ähnlich. Er sieht es als Großleistung der letzten 2000 Jahre an, dass der Mensch die absolute Würde ohne Leistungsnachweis bei der Geburt zugesprochen bekommt ("ohne Aufnahmeprüfung"). Er lehnte es jedoch ebenso wie Hoerster strikt ab, bereits der Zygote diese Würde zuzusprechen. Die Zygote als menschliches Wesen ist für ihn ein "futurum exactum"-Argument.

Kriterien zum Schutz des Föten sah er ebenfalls in der Herausbildung der selbständigen Lebensfähigkeit, und er betonte die letztendliche Einscheidungshoheit der Eltern. Auch bei der In-vitro-Fertilisation und der Präimplantationsdiagnostik wird seiner Ansicht nach niemandem ein Schaden zugefügt. Daher müsse der Rechtsgrundsatz der Freiheit gelten.

Ganz anders dagegen ist die Ansicht von Prof. Dr. Axel W. Bauer. Nach seiner Auffassung genügen potenzielle Fähigkeiten, um ein Recht auf Menschenwürde zu begründen. Für ihn beginnt die Existenz eines menschlichen Wesens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Daher lehnte er sowohl reproduktives und therapeutisches Klonen als auch embryonale Stammzellforschung rigoros ab.

Patientenverfügungen zur medizinischen Behandlung

Bioethische Fragen zum Lebensende wurden von Prof. Dr. Ortrun Riha und Privatdozentin Christina Schröder (mit Prof. Dr. Elmar Brähler) thematisiert. Frau Riha konstatierte zunächst eine "Medikalisierung des Lebens". Bei einem zunehmenden diagnostischen Imperialismus und der Zerstörung sozialer Strukturen erfolge eine Medikalisierung sozialer Probleme, der Finanzen, einzelner Lebensphasen und des Todes.

Früher habe die Sterbebegleitung nicht zu den ärztlichen Aufgaben gehört, da bei nahendem unabwendbarem Tod die Heilkunst und Aufgabe des Arztes zu Ende waren (und um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, mit Sterbenden auch noch Geld zu verdienen). Heute hingegen "stirbt man auf der Intensivstation", und Sterbehilfe sei damit zur ärztlichen Aufgabe geworden, mit allen sich dabei ergebenden bioethischen Fragen der passiven und aktiven Sterbehilfe und der Autonomie des Patienten.

Noch wenig verbreitet seien bisher Patientenverfügungen und schriftliche Festlegungen darüber, wann im Ernstfall welche medizinische Behandlung erwünscht ist bzw. abgelehnt wird. Frau Riha gab hierzu folgende Ratschläge:

  • Benennung einer Vertrauensperson,
  • gegebenenfalls Vorrangigkeit einer Schmerztherapie gegenüber geringfügiger Lebensverlängerung,
  • Aussage zur Organspende.

Weitere Festlegungen sind ihrer Ansicht nach nicht sinnvoll. Für die konkrete, lebensbedrohliche Krankheitssituation empfiehlt sie folgendes:

  • Zu erkennen geben, dass man über das Krankheitsbild, insbesondere im Endstadium, informiert ist;
  • Dokumentation der Grundeinstellung zu einer Reanimation bei infauster Prognose und zum "Ausreizen" aller medizinisch-technischen Möglichkeiten wie einer künstlichen Beatmung oder perkutanen endoskopischen Gastrostomie zur künstlichen Ernährung.

Frau Schröder stellte die Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der deutschen Bevölkerung zu Aufklärungswunsch, Patientenverfügung und Sterbehilfe vor. Hierbei zeigten sich deutliche Altersunterschiede.

Für eine Aufklärung bei unheilbarer Krankheit sprachen sich in der Altersgruppe bis 30 Jahre 67% aus, während es bei den über Sechzigjährigen nur noch 50% waren. Ärztliche Sterbehilfe und Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen wurden ebenfalls von jüngeren Befragten deutlich häufiger befürwortet als von älteren. Mehr als 70% hatten sich darüber hinaus über eine Patientenverfügung noch keine Gedanken gemacht.

Bioethik und Psychiatrie

Weitere bioethische Aspekte aus dem klinischen, betont psychiatrischen Bereich wurden von Dr. Ulrich Müller und Prof. Dr. Thomas Becker vorgetragen. Herr Müller formulierte zunächst die Prinzipien medizinischer Ethik:

  • Schadensvermeidung (Nonmalefizienz);
  • Pflicht zur Fürsorge (Benefizienz), in Widerstreit zwischen bevormundendem Paternalismus (aussterbend) und Patientenautonomie;
  • Nutzen-Risiko-Abwägung.

Ethische Problemfelder sind im Bereich der Tierversuche und Probandenversuche zu lokalisieren. Letztere spielen eine besondere Bedeutung in der patientenbezogenen Erforschung der Ursachen, Erkennung und Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer, Schizophrenie, Depressionen. Aktuelle Themen der neuropsychiatrischen Forschungsethik wurden aufgezeigt:

  • Einsatz embryonaler Stammzellen zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen;
  • Scheinoperationen zur Wirkungsprüfung der Hirntiefenstimulation bei schweren Formen von Parkinsonismus;
  • Einbeziehung von einwilligungsunfähigen Demenzkranken in Forschung ohne jeden potenziellen individuellen Nutzen;
  • präsymptomatisch-prädiktive Testung bei genetisch bedingten Erkrankungen wie Chorea Huntington (Veitstanz).

Herr Becker brachte im Hinblick auf die Gemeindepsychiatrie ein Problem auf folgenden Punkt: Wo Psychiatrie gemacht wird, gebe es Zwang. Patientenverfügungen hält er für einen gangbaren Weg, z. B. mit so genannten "Crisis-Cards", die Behandlungsvereinbarungen zwischen Versorgungsteam und Patient für den Krisenfall enthalten. Die Umsetzung dieses Vorgehens erfolge z. T. schon in England, wo eine deutliche Verlagerung der Patientenversorgung von Psychiatrischen Kliniken in kleinere Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern stattgefunden hat.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine differenzierte bioethische Diskussion, wie sie seit geraumer Zeit geführt wird, durch diese Veranstaltung nun auch in Leipzig aufgenommen wurde. Erfreulicherweise wurde diese Diskussion bereits weitergeführt durch ein von der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Ethos e.V. Leipzig veranstaltetes Kolloquium am 22. September 2001 mit dem Thema: der neue Mensch und sein Genom.

Fußnote

1 Eine in dieser Hinsicht ganz ähnliche Position vertritt die Körperhistorikerin Barbara Duden, Hannover, in einem Interview in der Zeit vom 26. Juli 2001, S. 26: "Zum Menschsein gehört Menschwerdung, also Geburt. Menschen haben Würde, und Menschen sind nur solche, die geboren sind."

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