Arzneimittel und Therapie

Neue Angriffspunkte für Therapeutika?

Chemokine spielen eine zentrale Rolle bei der Koordination der Immunantwort. Sie dirigieren Leukozyten zu dem Ort der Entzündung oder der Infektion und können die weißen Blutkörperchen teilweise auch aktivieren. Auch in die Angiogenese greifen sie regulierend ein. Chemokinrezeptoren dienen außerdem als Corezeptoren bei einigen Virusinfektionen. Ihre Bedeutung für pathophysiologische Prozesse macht sie zu potentiellen Angriffspunkten für neue Therapeutika.


In den letzten zehn Jahren sind viele Zytokine entdeckt worden, die chemotaktische Eigenschaften besitzen und dadurch die Bewegung von Leukozyten kontrollieren. Bis heute hat man etwa 40 solche sogenannten Chemokine gefunden. Da man einige Vertreter dieser Substanzklasse schon kannte, bevor man um deren chemotaktische Eigenschaften wußte, ist die Nomenklatur nicht einheitlich.
Chemokine haben ein relativ großes Molekulargewicht von 8 bis 10 kDa. Ihre Aminosäuresequenzen sind zu 20 bis 70% homolog. Aufgrund der relativen Position der Cysteine in der Polypeptidkette der Chemokine unterteilt man sie in mindestens vier Unterfamilien.

Alpha- und Beta-Chemokine besitzen vier Cysteinreste


Die am besten charakterisierten Familien der Alpha- und Beta-Chemokine besitzen vier Cysteinreste. Bei den Alpha-Chemokinen sind die ersten beiden Cysteine durch eine weitere Aminosäure getrennt (Cystein-Aminosäure X-Cystein oder CXC), während die ersten beiden Cysteine bei den Beta-Chemokinen unmittelbar benachbart sind (Cystein-Cystein oder CC). Bei dem CXXXC-Chemokin Fraktalkin liegen drei Aminosäuren zwischen den ersten beiden Cysteinen. Das C-Chemokin Lymphotaktin besitzt nur zwei Cysteine im reifen Protein.
Entscheidend für die biologische Aktivität und Selektivität der Chemokine ist die aminoterminale Sequenz vor den ersten Cysteinen. So sind Alpha-Chemokine chemotaktisch für Neutrophile wirksam, wenn dem CXC-Motiv eine Glu-Leu-Arg-Sequenz vorausgeht. Ist dies nicht der Fall, so wirken sie auf Lymphozyten. Ähnliches gilt für die Beta-Chemokine, die auf Monozyten, Eosinophile, Basophile und Lymphozyten chemotaktisch wirksam sind.

Bindung an G-Protein-gekoppelte Rezeptoren


Chemokine binden auf den Zielzellen an G-Protein-gekoppelte Rezeptoren. Die Aktivierung des Rezeptors löst eine Kaskade zellulärer Reaktionen aus, die das Signal weiterleiten. Dadurch werden die Mechanismen in Gang gesetzt, die die Zielzellen an den gewünschten Zielort bringen. Auch bei den Rezeptoren unterscheidet man verschiedene Typen:

  • vier humane CXC-Chemokinrezeptoren (CXCR1 bis CXCR4),
  • acht humane CC-Chemokinrezeptoren (CCR1 bis CCR8) und
  • einen humanen CXXXC-Chemokinrezeptor (CX3CR1).


Die Chemokinrezeptoren werden auf verschiedenen Typen von Leukozyten exprimiert. Einige Rezeptoren sind auf wenige Zelltypen beschränkt (CXCR1 wird bevorzugt auf Neutrophilen exprimiert), andere weit verbreitet (CCR2 wird unter anderem auf Monozyten, T-Zellen, dendritischen Zellen und Basophilen exprimiert).

Konstitutive und induzierbare Rezeptoren


Die verschiedenen Rezeptorklassen werden aber nicht nur auf unterschiedlichen Zelltypen, sondern auch zu verschiedenen Zeiten exprimiert. Auf einigen Zelltypen werden die Rezeptoren konstitutiv, also kontinuierlich, exprimiert, auf anderen sind sie induzier-
bar. So werden CCR1 und CCR2 auf Monozyten konstitutiv exprimiert, auf Lymphozyten werden sie aber erst nach Stimulierung durch Interleukin-2 gebildet. Die Expression einiger Rezeptoren ist sogar abhängig vom Differenzierungsgrad oder vom Aktivitätsstatus der Zelle: CXCR3 wird auf aktivierten T-Helferzellen des Typs 1 exprimiert, während CCR3 auf T-Helferzellen des Typs 2 lokalisiert ist. Dadurch kann der Organismus zwischen einer zellvermittelten Immunantwort (T-Helferzellen vom Typ 1) und einer allergischen Antwort (T-Helferzellen vom Typ 2) unterscheiden.

Besitzen Chemokine weitere Funktionen?


Daß einige Rezeptoren auch auf nicht hämatopoetischen Zellen wie Neuronen, Astrozyten und Epithelzellen exprimiert werden, ist ein Hinweis darauf, daß Chemokine außer der Leukozyten-Chemotaxis auch andere Funktionen besitzen. Sie interagieren außerdem auch mit zwei Typen nicht-signalisierender Moleküle.
Auf Erythrozyten und Endothelzellen wird der Duffy-Antigen-Rezeptor für Chemokine (DARC) exprimiert. Möglicherweise werden Chemokine, die hier binden, aus dem Kreislaufsystem entfernt, also "entsorgt". Auch eine Gruppe von Heparansulfat-Proteoglykanen bindet Chemokine. Diese Rezeptoren fangen Chemokine in der extrazellulären Matrix und auf der Oberfläche von Endothelzellen ab und immobilisieren sie. Dieser Mechanismus könnte dazu dienen, einen lokalen Konzentrationsgradienten aufzubauen und dadurch Lymphozyten zu dirigieren.

Regulation von Entzündungsvorgängen


Für jede entzündliche Erkrankung ist ein bestimmtes Infiltrat charakteristisch. Welche Leukozyten letztendlich am Entzündungsort konzentriert sind, hängt davon ab, welche Chemokine zuvor sezerniert wurden, und welche Chemokinrezeptoren auf welchen Zelltypen exprimiert werden. Folgende Beispiele verdeutlichen dies:

  • Bei einigen entzündlichen Lungenerkrankungen wie der bakteriellen Pneumonie kommt es zu einem starken Einstrom von Neutrophilen in das entzündete Gewebe. Gleichzeitig findet man in der bronchoalveolaren Lavage von betroffenen Patienten eine hohe Konzentration an Interleukin-8, einem Chemokin, das auf Neutrophile wirkt.
  • Bei der viralen Meningitis wird das Gewebe von Monozyten und T-Zellen infiltriert. Im Liquor sind die Konzentrationen von Chemokinen erhöht, die auf diese Zellen chemotaktisch wirken, z.B. IP-10 und MCP-1 (monocyte chemoattractant protein).
  • Colitis ulcerosa und Morbus Crohn sind durch chronische Entzündungen des intestinalen Gewebes charakterisiert. In der chronischen Phase infiltrieren Lymphozyten und Makrophagen die Darmschleimhaut. In der akuten Phase treten dagegen Neutrophile und auch Eosinophile in die intestinale Mukosa ein. Die Konzentration der entsprechenden Chemokine ist im intestinalen Gewebe von Patienten mit Colitis ulcerosa und M. Crohn deutlich erhöht.

Chemokinrezeptoren und HIV-1


Während der zellulären Infektion durch das HI-Virus kommt es zur Wechselwirkung zwischen einem viralen Hüllprotein mit dem CD4-Rezeptor der T-Helferzellen. Für die Virusaufnahme ist jedoch mindestens ein weiterer Rezeptor erforderlich. Kürzlich entdeckte man, daß HIV-1-Stämme den Alpha-Chemokinrezeptor CXCR4 auf T-Helferzellen als Corezeptor benutzen. Werden Zellen der Monozyten-/Makrophagenlinie befallen, so bindet das virale Hüllprotein an den Beta-Chemokinrezeptor CCR5. Die Lymphozyten müssen also sowohl CD4 als auch den entsprechenden Chemokinrezeptor exprimieren, damit das Virus die Zelle infizieren kann.
Die Bedeutung dieser Entdeckung wird durch folgende Beobachtung unterstrichen: Personen, die homozygot eine 32 bp-Deletion im CCR5-Gen tragen, besitzen keinen funktionalen CCR5-Rezeptor. Diese Personengruppe ist resistent gegen eine HIV-1-Infektion. Bei Personen, die diese Mutation heterozygot tragen, ist die Progredienz zum Vollbild AIDS verzögert. Der Chemokinrezeptor CCR5 wird daher als Angriffspunkt für neue therapeutisch wirksame Substanzen gesehen.

Modulation von Angiogenese, Tumorwachstum und Stammzellproliferation


Die Konzentration vieler Chemokine ist in vitro und in vivo im Tumorgewebe erhöht. Über die Funktion von Chemokinen bei der Angiogenese und beim Tumorwachstum ist jedoch erst wenig bekannt. Man weiß, daß Plättchenfaktor 4 und IP-10 die Neovaskularisierung, das Tumorwachstum und die Metastasenbildung inhibieren. Interleukin-8 dagegen fördert die Angiogenese und die Metastasenbildung. Die Hemmung der Angiogenese läßt sich vermutlich darauf zurückführen, daß manche Chemokine andere Wachstumsfaktoren von den Heparansulfat-Rezeptoren auf Endothelzellen verdrängen können.
Eine mögliche Strategie zur Verbesserung der Tumor-Immunotherapie ist es, die Anzahl der T-Lymphozyten, die das Tumorgewebe infiltrieren, zu erhöhen. Dies wird in vitro z.B. durch die kombinierte Überexpression von Lymphotaktin, einem auf T-Zellen wirkenden Chemokin, und von Interleukin-2, einem auf dieselben Zellen wirkenden Wachstumsfaktor, erreicht.
Von therapeutischem Nutzen könnte auch die Beobachtung sein, daß die Stammzellproliferation durch manche Chemokine inhibiert wird. Als Adjuvanzien für die Tumortherapie werden derzeit Derivate von MIP-1-alpha (macrophage inflammatory protein) entwikkelt, die zwar die Stammzellproliferation verhindern, die aber keine entzündungsfördernde Aktivität mehr besitzen. Mit ihrer Hilfe könnte eine hochdosierte Chemotherapie verträglicher werden, da die Stammzellen in ihrem Wachstum gebremst werden können, ohne daß das Pharmakon auf die Zellen toxisch wirkt. Literatur
Luster, A. D.: Chemokines - chemotactic cytokines that mediate inflammation. N. Engl. J. Med. 338, 436-445 (1998).
Martina Habeck, Tübingen

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