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Anthroposophische Medizin: Nicht Krankheiten behandeln, sondern kranke Menschen

SCHWÄBISCH GMÜND (rb). Im Mittelpunkt der anthroposophisch erweiterten Medizin steht die Individualität des Menschen. Um dem kranken Individuum gerecht zu werden, sind die Methoden der Schulmedizin in vielen Fällen nicht ausreichend und bedürfen einer Ergänzung durch neue, auf den einzelnen Patienten gerichtete Betrachtungsweisen. Wie sich anthroposophisch orientierte Ärzte eine Fortentwicklung der Medizin vorstellen, wie anthroposophisch erweiterte Medizin heute praktiziert wird und welchen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen sie leisten kann, war das Thema eines Presseseminars am 1. Juli 1998 in Schwäbisch Gmünd. Eingeladen hatte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), Landesverband Baden-Württemberg. Gastgeber war das BPI-Mitgliedsunternehmen Weleda AG, eine Firma, die sich der anthroposophischen Medizin und Philosophie verschrieben hat.

Die baden-württembergische Pharmaindustrie ist der europaweit führende Standort für die "Besonderen Therapierichtungen", betonte Klaus Hütig, Hauptgeschäftsführer der Chemieverbände Baden-Württemberg. Rund 3000 Arbeitnehmer des südwestlichen Bundeslandes sind bei Produzenten pflanzlicher Arzneimittel beschäftigt, im Bereich der anthroposophischen Medizin arbeiten nahezu 1000 Personen. Wie Hütig vor Journalisten betonte, kann die wirtschaftliche Entwicklung der baden-württembergischen Pharmaindustrie - auch im Bereich der "Besonderen Therapierichtungen" - insgesamt positiv bewertet werden, die Beschäftigtenzahlen steigen sogar an. Allerdings sei zu befürchten, daß zunehmende Kürzungen im Gesundheitsbereich, besonders die Einführung von Arzneimittellisten, die positive Entwicklung stoppen und so mancher Arbeitsplatz auf der Strecke bleiben könne, sagte Hütig. Kostensenkung durch anthroposophische Medizin Daß es möglich ist, mit der anthroposophisch erweiterten Medizin in der ärztlichen Praxis Kosten zu sparen, erläuterte der Stuttgarter Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Richard Wagner. Wagner betreut nach eigenen Angaben ca. 150 Krebspatienten und legte Zahlenmaterial aus der eigenen Praxis vor. Die Vorteile sprangen schnell ins Auge: Während sich Wagners Behandlungsmethoden als mindestens gleich wirksam wie die der "klassischen" Schulmedizin erweisen, liegen die Kosten deutlich niedriger. So zeichnet sich Wagners Praxis beispielsweise durch im Schnitt um 55 Prozent weniger Krankenhauseinweisungen aus - im Vergleich zu anderen Praxen. Die mit Iscador behandelten Krebspatienten erfreuen sich einer spürbar besseren Lebensqualität, leiden weniger unter Schmerzen und verbrauchen weniger Schmerzmittel. Nachweislich konnte Wagner mit anthroposophischen Therapiemethoden zum Beispiel
• die pulmonale Toxizität der Bestrahlungsbehandlung oder der Chemotherapie reduzieren und so Folgekosten einsparen;
• Brechreiz bei Chemotherapie reduzieren und so Arzneimittelkosten sparen;
• den Neupogen-Verbrauch bei Chemotherapiepatienten unter Iscador-Therapie reduzieren;
• die Häufigkeit von Zweit-Malignomen nach überstandener Erstmanifestation einer Krebserkrankungen durch verbessertes DNA-Repair senken;
• die Kachexie als limitierenden Faktor bei schwerkranken Krebspatienten deutlich zurückgehen lassen. Besonders massiv lassen sich Kosten sparen bei der Behandlung des malignen Melanoms, da insbesondere bei dieser Krebserkrankung bezüglich der Wirsamkeit von Iscador und Interferon laut EORTC-Studie keine Unterschiede vorliegen. Die Interferon-Therapie belaufe sich jedoch auf etwa 100000 Mark pro Jahr, während die Iscador-Behandlung je nach Intensivierung der Therapie nur rund 1000 Mark koste.

Die Nachfrage der Patienten steigt Über 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind mit der Schulmedizin allein nicht mehr zufrieden - das ergab eine Allensbacher Studie aus dem Jahr 1997. Dazu paßt, daß die Nachfrage seitens der Patienten nach der anthroposophischen Medizin steigt. Rund 6000 niedergelassene Ärzte arbeiten derzeit nach den Gesichtspunkten der anthroposophischen Medizin. Über 2000 Betten stehen für diese Therapiemethode in ganz Deutschland in Akutkrankenhäusern und in Rehabilitationseinrichtungen zur Verfügung. Keineswegs versteht sich die anthroposophische Medizin von ihrem Ansatz her als ein der übrigen, etablierten Medizin parallel geschaltetes oder gar in sich abgeschlossenes System. Wie Prof. Dr. Peter Matthiessen von der Universität Herdecke ausführte, strebe man vielmehr eine methodische und thematische Erweiterung des gegenwärtig herrschenden, materialistisch ausgerichteten naturwissenschaftlichen Ansatzes in der Medizin an. Eine Erweiterung, in die spirituelle Betrachtungen von Mensch und Natur einfließen. (So erklärt sich auch der Begriff "anthroposophisch erweiterte" Medizin.) Die Möglichkeiten, die durch die Methodik der modernen Naturwissenschaften für die Medizin gewonnen werden können, werden auch von anthroposophischen Ärzten uneingeschränkt anerkannt und in ihrer praktischen Arbeit berücksichtigt, betonte Matthiesen.

Gesundheit, Krankheit, Heilung Was gibt es nun für Erweiterungsmöglichkeiten? Wie Matthiesen ausführte, geht die Naturwissenschaft nicht vom Menschen aus, sondern von den Gebieten, die sie beforscht. Der naturwissenschaftliche Ansatz in der Medizin krankt an dem Dilemma, daß weder die Begriffe Gesundheit, noch Krankheit und Heilung definiert werden können. "Niemand weiß so recht, was gesund und krank ist, was zu dem Umstand führt, daß man gesund und krank geschrieben werden muß", sagte Dr. Jürgen Schürzholz, Mitglied der Geschäftsführung der Weleda AG. Dennoch sind Begriffe wie Gesundheit, Krankheit und Heilung die Voraussetzung für ärztliches Handeln. Es sei nicht gleichgültig oder gar austauschbar, welche Begriffe man verwende, stellte Matthiesen fest. Denn jede Einordung in eine dieser Kategorien habe praktische ethische Folgen für die Wirklichkeit. Der Ansatz der naturwissenschaftlichen Medizin kenne aber nur statistische Normbegriffe sowie häufige oder seltene Prozesse und sei daher krankheits- und gesundheitsneutral. Auch die Aussage über die Wirkung eines Arzneimittels ist krankheits- bzw. gesundheitsneutral und sage nichts aus über den Nutzen für den Patienten. Erst Aussagen über die Wirksamkeit, Beobachtungen über die Besserung eines Krankheitsverlaufs lassen Aussagen über den Patientennutzen zu. Die anthroposophisch erweiterte Medizin richtet ihre Perspektive dabei auf die gesamte menschliche Situation, auf die Ebene des Befindens oder Mißbefindens sowie der Ermöglichung oder Verhinderung kreativer Lebensentfaltung. Im übrigen ist nicht die maximal rasche Beseitigung von Normabweichungen das therapeutische Ziel einer anthroposophisch-orientierten Medizin (und auch anderer komplementärer Therapierichtungen). Vielmehr soll eine individuell ausgewählte Behandlungsform es dem Kranken ermöglichen, sich seelisch und leiblich eigenaktiv an seinem Gesundwerden zu beteiligen und auch an seinem Kranksein zu "wachsen".

Ärztliches Urteil nicht ausklammern, sondern bewußt einschalten und ausbilden Man kann in der Medizin nicht demokratisch abstimmen, welche Behandlungen "richtig" sind, sagte Wagner. Dennoch, die naturwissenschaftlich ausgerichtete Schulmedizin verlangt mehr denn je nach Konsensuskonferenzen, Leitlinien und Richtlinien für therapeutisches Vorgehen. Diese stützen sich auf die Ergebnisse randomisierter, doppelblinder, placebokontrollierter Studien. Wie Dr. Helmut Kiene vom Freiburger Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie ausführte, sind Studienergebnisse jedoch keine "Beweisautomatismen". Vielmehr müsse man Studien interpretieren (was übrigens bei sehr genauem Hinschauen auf das Studiendesign zu überraschenden Erkenntnissen führen kann). Grundsätzlich lasse eine Erfolgsbeurteilung am Kollektiv keine Wirksamkeitsvoraussage für den einzelnen Patienten zu. Einzelne Kranke in ein Kollektiv zu schnüren, aus diesem statistisches Material zu errechnen und in der Folge generalisierende Aussagen abzuleiten, werde dem kranken Individuum nicht gerecht. Das ärztliche Urteil durch Richtlinienvorgabe und (blinde) Anwendung von Behandlungskonzepten auszuklammern, sei der falsche Weg. Vielmehr müsse die ärztliche Beobachtungsgabe eingeschaltet und ausgebildet werden. Es gehe darum, einen Weg zu finden, der durch Nachdenken und Urteilsbildung über das Individuum geprägt sei. Dies verlange, in Kollektiven gewonnene Ergebnisse auf den Einzelfall herunterzubrechen, durch Erfahrung erworbenes Wissen mit einfließen zu lassen und im unaustauschbaren, individuellen Fall zu patientenorientierten Erkenntnissen zu kommen. Für dieses Vorgehen allgemein akzeptierte Methoden zu entwickeln, stellt derzeit eine der größten Herausforderungen dar.

Anthroposophische Medizin Zwischen 1920 und 1925 entwickelte Rudolf Steiner - der Begründer der anthroposophischen Geisteswissenschaft - in Kursen für Ärzte und Medizinstudenten die Grundlagen einer anthroposophisch erweiterten Medizin. Er fügte den Kenntnissen der Naturwissenschaft die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft ergänzend hinzu. Leben, Seele und Geist des Menschen werden in ihren Gesetzmäßigkeiten in die Forschung von Gesundheit und Krankheit einbezogen: Ziel der Anthroposophischen Medizin ist die Vermenschlichung der Heilkunst. Bereits im Jahre 1921 gründeten Ärzte in Stuttgart und in Arlesheim/Schweiz zwei klinische Einrichtungen, um dort die "neuen" Erkenntnisse praktisch anzuwenden. Den "Klinisch-Therapeutischen Instituten" wurden Laboratorien zur Herstellung neuer Arzneimittel angegliedert. Diese Institute sind als "Keimzelle" der Weleda AG Heilmittelbetriebe anzusehen. Die Weleda AG in Schwäbisch Gmünd ist heute das größte Unternehmen, das Heilmittel, Diätetika und Körperpflegepräparate gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis entwickelt, herstellt und vertreibt. Das bekannteste Arzneimittel ist das für die Krebstherapie konzipierte Mistelpräparat Iscador®. Inzwischen hat sich die Anthroposophische Medizin weltweit ausgebreitet. In 19 Ländern der Welt gibt es Gesellschaften anthroposophischer Ärzte, aber auch Kliniken, die wie die Gemeinschaftskrankenhäuser in Herdecke, Filderstadt/Stuttgart und Berlin von den Bundesländern anerkannt sind (Landesbedarfsplan).

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