Arzneimittel und Therapie

Krebsmedizin im 21. Jahrhundert: Die Entdeckung des Patienten

Aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Klinik für Tumorbiologie Freiburg fand am 27. Juni 2003 in Freiburg ein interdisziplinäres Symposium "Krebsmedizin im 21. Jahrhundert: Die Entdeckung des Patienten" statt. Dabei standen die Rolle des Patienten, seine Auffassung von Krankheit und Gesundheit, seine Ressourcen und Bedürfnisse, sein Verhältnis zu Arzt und Gesellschaft sowie seine zukünftige Stellung im Mittelpunkt.

Die Stellung des Patienten in einer Gesellschaft ist kulturell geprägt. Dabei ist die Rolle des Leidenden bei der Bewältigung seiner Krankheit historischen und kulturellen Bedingungen unterworfen. Bis Ende des 18. Jahrhunderts bestimmte der Patient (sofern er betucht war) nach dem Prinzip "wer zahlt, bestimmt" das Verhältnis zum Arzt.

Diese Stellung änderte sich im 19. Jahrhundert mit der Entwicklung und Etablierung der naturwissenschaftlichen Medizin und dem Aufkommen berufsständischer Verbände und Organisationen.

Die Dominanz des fortschrittsgläubigen, mechanistisch-naturwissenschaftlichen Denkens führte in den westlichen Gesellschaften zur Ausbildung einer ärztlichen Autorität, die dank effektiverer Behandlungsmöglichkeiten (Fortschritte in der Chirurgie, Pharmakotherapie, Hygiene) noch bestärkt wurde. Das Verhältnis von Arzt zu Patient bestimmte nun der Arzt, wobei der Patient nicht selten in die Rolle des passiv Unmündigen gedrängt wurde.

Der kompetente Patient

Erst im Zuge der kulturellen Veränderungen der 60er-Jahre (Demokratisierung, Frauenbewegung, Mitbestimmung etc.) beansprucht der Patient eine neue Rolle im Gesundheitswesen. Aus diesem neuen Denken heraus resultiert der Aufbau von Selbsthilfegruppen und das Durchsetzen von Patienteninteressen.

Doch neben diesen gesellschaftlichen Veränderungen zeichnet sich ein weiterer Wandel ab: Der Kranke entwickelt sich zum kompetenten Patienten und fordert eine Medizin, die neben den naturwissenschaftlichen Aspekten auch die psychischen, spirituellen und kommunikativen Bedürfnisse berücksichtigt.

Der äußere Arzt behandelt, der innere Arzt heilt

Über eine lange Zeit hinweg kümmerte sich der Arzt um das psychische und physische Wohlbefinden seines Patienten. Da die Möglichkeiten einer somatischen Therapie relativ bescheiden waren, betreute er mehr oder weniger die Seele oder Psyche des Menschen.

Erst das 19. Jahrhundert mit seinen Fortschritten in der Naturwissenschaft stellte den Körper des Patienten und pathologische Abläufe in den Vordergrund; die Krankheit wurde messbar. Mit den neuen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Chirurgie, Pharmakotherapie oder Anästhesiologie wurde der Körper immer besser behandelt; der Psyche des Patienten und seinen Selbstheilungskräften wurden indes immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt.

Das pathogenetische Krankheitsverständnis setzte sich durch. Dem entgegen steht der salutogenetische Krankheitsbegriff, der Gesundheit und Kranksein als Kontinuum betrachtet. Mithilfe salutogenetischer Prozesse sollen die inneren Kräfte mobilisiert und für den Heilungsprozess nutzbar gemacht werden.

Heilkräfte des Menschen

Zur Krankheitsbewältigung kommen neben schulmedizinischen Maßnahmen auch religiöse oder spirituelle Quellen sowie physiologische oder psychosoziale Potenziale in Betracht. Für die Bereiche Religion, Chronobiologie und Psychoonkologie konnte vielfältig nachgewiesen werden, dass ihre Potenziale den Heilungsprozess oder die Krankheitsbewältigung günstig beeinflussen.

Eine Kernaussage der Chronobiologie beinhaltet, dass der menschliche Organismus unendlich vielen Rhythmen unterworfen ist. Störungen der biologischen Rhythmen führen zu einer erhöhten Anfälligkeit und stehen möglicherweise mit der Entstehung einer Tumorerkrankung in Zusammenhang.

Umgekehrt kann die Anwendung chronobiologischer Erkenntnisse auch für die Therapie verwendet werden. Dies geschieht teilweise bereits bei der zeitlich terminierten Gabe von Zytostatika. Andere Untersuchungen zeigen, dass stabilisierende Rhythmen auf eine sehr vielfältige Art und Weise (z. B. bei der Musiktherapie, Klang- und Schwingungstherapie) genutzt werden können.

Die Kraft des Glaubens

Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem psycho-physischen Wohlbefinden und der Religiosität. Diese Wechselwirkungen wurden vor allem in den angelsächsischen Ländern untersucht. Allerdings verfügt nicht jede Form von Religiosität über eine positive Wirkung. Man unterscheidet zwischen einer verinnerlichten oder intrinsischen und einer zweckorientierten oder extrinsischen Religiosität.

Entscheidend ist also nicht, was man glaubt, sondern wie man glaubt. Nur die verinnerlichte Gläubigkeit bildet ein tragfähiges Fundament, um lebensbedrohliche Situationen verarbeiten und ertragen zu können. Die spirituelle Kompetenz ist aber nicht nur für den Patienten, sondern auch für Pflegende und Arzt von großer Bedeutung. Mithilfe dieser religiösen Kraft können dem Patienten auf verbale und nonverbale Art Zuwendung, Vertrauen und Lebenssinn vermittelt werden.

Strategien der Krankheitsbewältigung

Die Psychoonkologie befasst sich unter anderem mit der Frage, ob und wie weit psychosoziale Faktoren das Entstehen einer Tumorerkrankung beeinflussen und welche Bedeutung sie für den Krankheitsverlauf haben. Entgegen weitläufiger Meinung tragen psychosoziale Faktoren nicht zur Entstehung einer Krebserkrankung bei, spielen aber eine große Rolle bei der Krankheitsverarbeitung (coping).

Diese erfolgt in Interaktion mit der Umwelt auf emotionaler, kognitiver, rationaler und verhaltenspsychologischer Ebene und durchläuft unterschiedliche Stadien von der Betroffenheit, Verdrängung, Abwehr bis hin zur Annahme und der aktiven Verarbeitung.

Ob eine bestimmte Coping-Strategie zu einer besseren Prognose führen kann, wird kontrovers diskutiert. Wahrscheinlich ist eine aktive problemzentrierte Strategie günstiger als eine fatalistische Einstellung oder stoische Hinnahme.

Das kommunikative Elend

Wir leben in einer Datengesellschaft, der die Fähigkeit der echten Kommunikation weitgehend verloren gegangen ist. Die durchschnittliche Begegnung zwischen Arzt und Patient ist durch eine funktionale Aufmerksamkeit und Fixiertheit auf die Krankheitssymptome geprägt. Diese affektive, neutrale Haltung erlaubt keinen Dialog und verweigert dem Leidenden das heilstiftende Potenzial des Wortes.

Doch gerade das Sprechen, der Dialog, die Kommunikation auf verbaler und nonverbaler Ebene sind unabdingbar für die Verarbeitung der Krankheit und den Heilungsprozess. Durch die Kommunikation erfährt der Patient die Möglichkeit, sein Leid zu transformieren und gibt ihm Kraft, über eine Grenzerfahrung hinwegzukommen und mit existenziellen Erfahrungen wie Krankheit, Leid und Sterben sinnvoll und sinnstiftend umzugehen.

Die Kraft des Wortes

Die Kommunikation besteht nicht nur aus dem Austausch von Worten; eine existenzielle Kommunikation bedeutet auch eine emotionale Hinwendung, eine Empathie, ein aktives Zuhören oder bisweilen einfach nur ein "da sein" oder eine Berührung.

Bei der Forderung nach dieser kommunikativen Medizin müssen auch die gegebenen Strukturen, die echte Dialoge weitgehend ausschließen, sowie die Belastung des Arztes berücksichtigt werden. Die Kommunikation wird in der Ausbildung der Ärzte stiefmütterlich behandelt, und der Arbeitsalltag lässt häufig kein Gespräch zu.

Umgang in Würde

Eine sinnvolle medizinische Betreuung ist ohne die Schulmedizin nicht möglich. Doch die naturwissenschaftliche, eindimensionale Medizin deckt nicht alle Bereiche ab, die zur Genesung beitragen können. Hinzu kommt, dass uns in der postindustriellen Ära die identitätsstiftende Mitte weitgehend abhanden gekommen ist.

Zurzeit ist ein Umbruch im Gange, in dem die Patienten – und in gewissem Umfang Ärzte, Pflege, Gesellschaft – erkennen, dass zur Heilung die Inanspruchnahme und Wiederfindung religiöser, spiritueller, sozialer und psychosomatischer Ressourcen notwendig ist. Zum Gesundungsprozess erscheint eine Rückbesinnung auf unsere kulturelle Identität erforderlich.

Um dies zu ermöglichen, sind ein Umdenken und eine Umstrukturierung auf verschiedenen Ebenen (Gesundheitssystem, Krankenhäuser, Administration, soziales Umfeld, Entlohnung der ärztlichen Leistungen, Pflege, bessere Betreuung und Ausbildung der zukünftigen Ärzte, eine Umverteilung finanzieller Mittel etc.) sowie eine Reflexion des eigenen Verhaltens erforderlich. Das Ziel ist ein heilsamer, vertrauensvoller und würdiger Umgang zwischen Arzt und Patient.

Quelle

Prof. Dr. Gerd Nagel, Freiburg; Ursula Goldmann-Posch; Hilde Schulte, Mannheim; Dr. Christoph Lohfert, Hamburg; Prof. Dr. Uwe Koch, Hamburg; Prof. Dr. Maximilian Moser, Graz; Prof. Dr. Heinrich Pompey, Freiburg; Prof. Dr. Joachim Weis, Freiburg; Dr. Felix Jungi, St. Gallen; Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf, Freiburg; Prof. Dr. Reinhard Saller, Zürich; Prof. Dr. Volker Diehl, Köln; Dr. Ellis Huber, Hamburg; Dr. Silvia Käppeli, Zürich; Prof. Dr. Maximilian Gottschlich, Wien; Prof. Dr. Ulrich Tröhler, Freiburg: Symposium "Die Krebsmedizin im 21. Jahrhundert: Die Entdeckung des Patienten", 27. Juni 2003, veranstaltet von der Klinik für Tumorbiologie Freiburg.

Aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Klinik für Tumorbiologie Freiburg fand ein interdisziplinäres Symposium "Krebsmedizin im 21. Jahrhundert: Die Entdeckung des Patienten" statt. Dabei standen die Rolle des Patienten, seine Auffassung von Krankheit und Gesundheit, seine Ressourcen und Bedürfnisse, sein Verhältnis zu Arzt und Gesellschaft sowie seine zukünftige Stellung in der Gesellschaft im Mittelpunkt.

Salutogenese Der Begriff der Salutogenese geht auf den amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923 – 1994) zurück. Im Gegensatz zur Pathogenese liegt der Salutogenese kein dichotomer Krankheitsbegriff zugrunde, sondern Krankheit und Gesundheit sind ein Kontinuum, d. h. jeder Mensch ist zum Teil gesund und zum Teil krank. Mithilfe salutogenetischer Konzepte sollen Entstehen von Gesundheit, Selbsterhaltung und Selbstheilung gefördert werden.

Paradigmenwandel:

"Die Medizin wird eine Naturwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein." (Bernhard Naunyn, 1839 – 1925) "Die Medizin wird eine Kulturwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein." (Heinrich Schipperges, 2000)

"Die Schulmedizin braucht keine Komplementärmedizin, aber der Patient braucht die Komplementärmedizin." Gerd Nagel

"Absage an eine Medizin, die sich nur sehend glaubt, wenn sie doppelblind vorgeht." Gerd Nagel

"Zwischen der Liebe zur Wissenschaft und zum wissenschaftlichen Detail und der Liebe zum Menschen liegen Welten." Maximilian Gottschlich

"Medicus curat, natura sanat." Alte Arztweisheit

"Die Medizin wäre schön, wenn es keine Patienten gäbe." Medizinerspruch

"Lasst uns ethisch verantwortlich mit dem Begriff der Heilkräfte umgehen!" Volker Diehl

Europäischer Wissenschafts-Kulturpreis 2003 für Prof. Dr. Gerd Nagel und die Klinik für Tumorbiologie Die Klinik für Tumorbiologie wurde 1993 als An-Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eröffnet. Sie konzentriert sich auf drei große Arbeitsfelder: die onkologische Therapie und Betreuung, die onkologische Forschung sowie die Beschäftigung mit unkonventionellen Therapierichtungen und mit den Bedürfnissen und Denkweisen des Patienten.

Die Initiatoren der Klinik für Tumorbiologie waren Prof. Gerd Nagel und der Berliner Unternehmer und Mäzen Dr. Erich Marx. Prof. Gerd Nagel wurde in diesem Jahr mit dem Europäischen Wissenschafts-Kulturpreis der Europäischen Kulturstiftung ProEuropa ausgezeichnet.

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