14. Zukunftskongress Öffentliche Apotheke

Arbeitsmarktforscher: Personalmangel wird „noch richtig heftig“

Düsseldorf/Münster - 21.02.2022, 17:50 Uhr

Prof. Dr. Stefan Sell, Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung, Hochschule Koblenz, bezeichnete sich selbst als „Überbringer einer schlechten Botschaft“. Hier in der ARD-Talkshow Günther Jauch in Berlin, 2015. (c / Foto: IMAGO / Müller-Stauffenberg)

Prof. Dr. Stefan Sell, Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung, Hochschule Koblenz, bezeichnete sich selbst als „Überbringer einer schlechten Botschaft“. Hier in der ARD-Talkshow Günther Jauch in Berlin, 2015. (c / Foto: IMAGO / Müller-Stauffenberg)


Zum Programm des Zukunftskongresses Öffentliche Apotheke gehörten zwei Vorträge, die kaum unterschiedlicher sein konnten. Bestseller-Autor Frank Schätzing vermittelte technologische Ideen zur Bewältigung des Klimawandels. Dagegen verdeutlichte der Arbeitsmarktforscher Prof. Dr. Stefan Sell die massiven Folgen des demografischen Wandels, insbesondere für die Gesundheitsberufe. Er folgerte: „Es wird noch richtig heftig werden.“

Am 19. Februar veranstaltete der Apothekerverband Nordrhein seinen 14. Zukunftskongress Öffentliche Apotheke, wie im Vorjahr wieder als Online-Format. Neben dem berufspolitischen Programm gab es zwei Vorträge mit sehr unterschiedlichen Themen und Konsequenzen.

Zuversicht beim Klimawandel

Weit weg von der aktuellen Berufspolitik führte der Keynote-Vortrag von Bestseller-Autor Frank Schätzing. Mit Blick auf die Herausforderungen durch den Klimawandel beschrieb Schätzing ein hoch-technologisches Szenario für das Jahr 2050 mit solargetriebenen Schiffen, Autos und Flugzeugen, fliegenden Windkraftwerken, kohlendioxidabsorbierenden Bioreaktoren, biotechnologisch erzeugtem Fleisch, Kleidung mit Solarmodulen, allgegenwärtigem Internet ohne Hardware, platzsparenden Wohnformen, Städten, die mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen, und einer weltweiten Künstlichen Intelligenz zur Problemlösung. In diesem Szenario habe die Menschheit den Klimawandel unter Kontrolle bekommen. Damit machte Schätzing Mut, eine Krise als Chance zu begreifen und neue Wege zu gehen. Möglicherweise wollten die Veranstalter dies auf die Herausforderungen des Gesundheitswesens übertragen.

Demografie verstärkt Nachwuchsmangel noch lange

Denn das Gesundheitswesen leidet an den enormen Problemen der Nachwuchsgewinnung, wie der nächste Vortrag zeigte. Prof. Dr. Stefan Sell, Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung, Hochschule Koblenz, bezeichnete sich selbst als „Überbringer einer schlechten Botschaft“. Sell zeigte zunächst die enormen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf, die zugleich eine Nachfrage- und eine Angebotskrise ausgelöst habe. In der Pandemie seien vom Staat und von der Arbeitslosenversicherung allein 43 Milliarden Euro für die Kurzarbeit ausgegeben worden.

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Außerdem habe die Pandemie Entwicklungen deutlicher gemacht und verschärft, die schon lange vorher begonnen hätten, insbesondere den zunehmenden Mangel an Arbeitskräften, erklärte Sell. Einflussfaktoren seien der Wertewandel mit einer viel größeren Bedeutung der Work-Life-Balance und die Feminisierung des Gesundheitswesens mit viel Teilzeitarbeit. Doch entscheidend sei der demografische Wandel. Er führe zu einer fundamentalen Veränderung der Angebots-Nachfrage-Entwicklung im gesamten Arbeitsmarkt. Diese werde in ihrer tiefen Bedeutung noch gar nicht wahrgenommen, mahnte Sell. Über die Babyboomer, zu denen er selbst gehört, sagte Sell: „Wir waren immer zu viele, schon im Kindergarten.“ Damit habe es überall Konkurrenz gegeben und die Arbeitgeber hätten auswählen können. Diese vielen Menschen verlassen in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt. 

Aufwertung der Gesundheitsberufe wurde versäumt

Schon seit 2015 würden jedes Jahr über 300.000 Arbeitskräfte mehr aus dem Berufsleben ausscheiden als nachwachsen, doch der Rückgang werde noch viel stärker. Bisher werde dies durch Migration, längere Lebensarbeitszeit und mehr Arbeit von Müttern überkompensiert. Doch Letzteres sei „an die Decke gestoßen“ und werde künftig nicht mehr entlastend wirken. Im Gesundheitswesen und besonders in der Pflege treffe dieses Problem auf einen deutlich steigenden Bedarf an Arbeitskräften. Denn durch den demografischen Wandel werde die Zahl der Pflegebedürftigen massiv steigen. Zu diesem quantitativen Mangel komme das qualitative Defizit des jahrzehntelangen Stillstands bei der Reform der Gesundheitsberufe. Es sei versäumt worden, die strenge Ordnung mit dem Arzt an der Spitze aufzubrechen und andere Gesundheitsberufe aufzuwerten, beklagte Sell. In anderen Ländern sei das geschehen. In den USA gehöre die Pflege zu den beliebtesten Ausbildungsberufen. Außerdem sei Kooperation in den Gesundheitsberufen nötig, aber dies sei in Deutschland übersehen worden, so Sell. Zugleich mahnte er, der Import von Arbeitskräften sei ein Auslaufmodell. Denn wegen der demografischen Entwicklung in Osteuropa müsse man dabei „immer weiter ostwärts gehen“ und könne so nicht mehr genügend Arbeitskräfte gewinnen. Insgesamt folgerte Sell: „Es wird noch richtig heftig werden.“

Kritik der Ärzte ist „Kampf der Vergangenheit“

In der Diskussion ging es auch um die ärztliche Kritik an impfenden Apothekern. „Das sind die verlorenen Kämpfe der Vergangenheit“, erklärte Sell dazu und ergänzte: „Vergesst es!“ Sell mahnte, das Bewusstsein für den fundamentalen Wandel von „zu viel“ zu „zu wenig“ Arbeitskräften müsse in die Köpfe gelangen. Man dürfe nicht mehr fragen, „können die was wegnehmen“, sondern „wer macht es denn noch?“. Dies betreffe auch die Aufwertung der mittleren Berufe, beispielsweise PTA. Auch innerhalb der Pharmazie müsse die Erstarrung beendet werden. Qualifizierung und Weiterbildung müssten zu einer „neue Kultur mit Zwischenformen und Aufstiegsmöglichkeiten“ führen, forderte Sell.

Kaum mehr Geld für Apotheken

Die Veranstalter hatten Sells Vortrag vor der berufspolitischen Diskussion mit Politikern platziert. Auf der Grundlage des Vortrags forderte Gastgeber Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein, eine Erhöhung des Festzuschlags auf Rx-Arzneimittel, damit die Apotheken im Wettbewerb um Arbeitskräfte gute Gehälter bieten können. Doch die Politiker gingen darauf nicht ein. Die Diskussion zeigte, dass die Politiker die Leistungen der Apotheken zwar würdigen, aber angesichts der Haushaltsbelastungen durch die Pandemie kaum für zusätzliche Ausgaben bereit sind.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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