Unveröffentlichte Studiendaten

Bedenken bei Arzneimittel gegen Schwangerschaftsübelkeit

USA / Stuttgart - 18.01.2017, 14:20 Uhr

Bis zu 75 Prozent aller Schwangeren kämpfen mit Übelkeit in der Schwangerschaft. (Foto.  nd3000 / Fotolia)

Bis zu 75 Prozent aller Schwangeren kämpfen mit Übelkeit in der Schwangerschaft. (Foto.  nd3000 / Fotolia)


Schwangere Frauen in den USA bekämpfen ihre morgendliche Übelkeit und das Erbrechen häufig mit Diclegis. Die Kombination aus Doxylamin und Pyridoxin hieß früher Bendectin und stand schon einmal im Verdacht, teratogen zu sein. Kanadische Forscher fanden nun unveröffentlichte Daten der Zulassungsstudie „8-way“ – und stellen die Wirksamkeit des Arzneimittels infrage.

Diclegis® is the only FDA approved medicine for the treatment of morning sickness“: So wirbt der pharmazeutische Unternehmer Duchesnay USA auf seiner Homepage für sein Arzneimittel gegen Schwangerschaftsübelkeit, was er unter dem Handelsnamen Diclegis® vermarktet. Bereits 1956 erteilte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA der Wirkstoffkombination aus Doxylamin und Pyridoxin die Zulassung. Damals hieß das Arzneimittel noch Bendectin® und enthielt neben Doxylamin und Vitamin B6 noch einen dritten Wirkstoff: Dicycloverin. Bei der Neuformulierung von Bendectin® entfernte der damalige Hersteller Merrell Dow Pharmaceuticals im Jahr 1976 diese Komponente.

Seither hat es immer wieder Höhen und Tiefen im Leben des Medikaments gegeben: In den Siebziger- und Achtzigerjahren kam der Verdacht auf, das Arzneimittel sei teratogen – was bei der sensiblen Indikation des Schwangerschaftserbrechens verständlicherweise zu Verunsicherung und regen Diskussionen führte. Der fruchtschädigende Verdacht wurde nicht bestätigt – dennoch nahm der damalige Hersteller Merrell Dow Pharmaceuticals daraufhin sein Arzneimittel Bendectin® vom Markt. Im April 2013 erfuhr die Doxylamin-Pyridoxin-Kombination ein Revival: Unter dem neuen Handelsnamen Diclegis® gewährte die FDA diesem Präparat die Zulassung für Frauen mit Schwangerschaftsübelkeit und damit assoziiertem Erbrechen.

Unveröffentlicht: 36.000 Seiten der Bendectin-Zulassungsstudie

Nun gibt es erneut Furore um das Medikament gegen die morgendlichen Übelkeit bei schwangeren Frauen: Forscher der Universität von Toronto gelangten über die FDA und deren kanadisches Pendant „Health Canada“ an 36.000 bislang unveröffentlichte Seiten einer Studie aus dem Jahre 1976. Diese bis dato nicht publizierten Informationen gehören zur Studie „Bendectin Antinauseant 8-way“. Sie diente der FDA 1976 als Grundlage für die Zulassung des neu formulierten Bendectins®.

Zweifel an der Wirksamkeit bei Schwangerschaftsübelkeit

Was haben die kanadischen Forscher nun entlarvt? Glücklicherweise fanden sie in dem umfangreichen Papier keinerlei Hinweise auf schwerwiegende Nebenwirkungen unter Doxylamin plus Pyridoxin. Allerdings stießen die Wissenschaftler auf etliche methodische Fehler in der „8-way“-Studie: So gingen große Datenmengen verloren, und es blieb eine hohe Zahl von Studienabbrüchen bei der Auswertung unberücksichtigt. Zudem entdeckten die Forscher eine große Unzuverlässigkeit und Unstimmigkeiten, wie Ärzte Symptome der morgendlichen Übelkeit aufzeichneten.

Sie kommen zu dem Schluss, dass die „8-way“-Studie aufgrund der immensen methodischen Mängel nicht die Grundlage dafür sein dürfe, die Wirksamkeit von Doxylamin und Pyridoxin in der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen während der Schwangerschaft zu bewerten.

Das Team der kanadischen Wissenschaftler arbeitet im Dienste der Initiative „Restoring invisible and abandoned trials – RIAT“. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, unveröffentlichte Studiendaten zu finden, auf Verzerrungen zu prüfen und auszuwerten, um sie so Zulassungsbehörden, Ärzten und auch Patienten verfügbar zu machen. Die Wissenschaftler betonen, wie wichtig es sei, alle Daten zu publizieren, auch die Rohdaten der Untersuchung. Das zeige auch der Fall von Bendectin® deutlich.

Sie schlagen vor, dass die FDA bei einem Zulassungsantrag für ein Arzneimittel den Hersteller auffordern sollte, finanzielle Mittel für eine unabhängige Einschätzung der Studiendaten bereitzustellen. Auf diese Weise könnte die Zulassungsbehörde Wissenschaftler unterstützen.

Bendectin und Diclegis: Die Geschichte 

Zum Hintergrund: Diclegis® beziehungsweise Bendectin® blickt auf eine aufregende Geschichte zurück. Die Wirkstoffkombination mit Doxyklamin und Pyridoxin wurde im Jahre 1956 als Bendectin® von der FDA zugelassen und enthielt ursprünglich drei Komponenten – Dicycloverin war der krampflösende Bestandteil des Präparats.

Im Jahre 1975 mussten alle Arzneimittel, die mehrere Wirkstoffe enthielten und in den Jahren 1938 bis 1962 zugelassen wurden, aufs Neue evaluiert werden, um zu gewährleisten, dass sie den neuen Anforderungen der FDA entsprechen. Im Zuge dieser „Drug effectiveness study implementation“ (DESI) wurde auch Bendectin® erneut bewertet und in der Konsequenz als Zweierkombination neu formuliert auf den Markt gebracht: Da für Dicycloverin keine Wirksamkeit und kein Nutzen nachgewiesen werden konnte, entfiel das Spasmolytikum bei der Neuzulassung 1976.

Bendectin® wurde in den USA und vielen anderen Teilen der Welt 27 Jahre lang zum einzigen Arzneimittel bei Schwangerschaftsübelkeit und Erbrechen. Weltweit nahmen es über 33 Millionen Schwangere ein: 1980 entfielen 82 Prozent aller insgesamt  584.452 verordneten Arzneimitteln zur Antiemese in den USA auf Bendectin®.

Bendectin: Rücknahme nicht aus Sicherheitsgründen

In den siebziger Jahren kamen erste Behauptungen auf, dass Bendectin® möglicherweise fruchtschädigende Wirkungen habe. 1983 wurde ein großer Review-Artikel hierzu veröffentlicht, der allerdings keine messbaren teratogenen Effekte durch Bendectin® nachwies. Dennoch stellte der pharmazeutische Untrnehmer in diesem Jahr die Herstellung des Antiemetikums ein. Das Arzneimittel blieb von der FDA zugelassen und wurde auch in Kanada unter dem Handelsnamen Declectin® weiter vermarktet. Die FDA hielt die Überwachung aufrecht.

In den Jahren 1980 bis 1985, in denen die Verordnungen von Bendectin® aufgrund von Sicherheitsbedenken und schließlich der Marktrücknahme in den USA zurückgingen, blieb die Anzahl der Fehlbildungen bei Neugeborenen dennoch konstant, während sich die Krankenhauseinweisungen aufgrund von Schwangerschaftserbrechen verdoppelten.

Die FDA hatte 1999 in einem Schreiben Stellung zur Marktrücknahme von Bendectin® genommen und betont, dass diese nicht aus Gründen der Sicherheit oder Wirksamkeit erfolgt sei. Die Behörde hielt sich somit die Option offen, auch zu einem späteren Zeitpunkt diese Arzneimittelkombination zuzulassen. Dies geschah im April 2013: Unter dem Handelsnamen Diclegis® bekam Duchesnay USA die Zulassung für sein Präparat bei Übelkeit sowie Erbrechen in der Schwangerschaft.

Diclegis® wurde an 261 schwangeren Frauen untersucht, die in der siebten bis 14. Schwangerschaftswoche waren. Die werdenden Mütter erhielten über einen Zeitraum von zwei Wochen entweder Diclegis® oder Placebo. Ergebnis der Untersuchung war, dass sich bei den Frauen mit Diclegis® die Symptome Übelkeit und Erbrechen stärker besserten als bei den Placebo-therapierten Schwangeren. Der Fötus war laut der Studie dabei keinem erhöhten Risiko ausgesetzt.

Schwangerschaftserbrechen und Diclegis

Etwa 50 bis 75 Prozent aller Schwangeren kämpfen mit Übelkeit in der Schwangerschaft. Bei den meisten Frauen tritt sie morgens auf. Außerdem kommt bei rund der Hälfte der werdenden Mütter zur Übelkeit noch Erbrechen hinzu. Das Ausmaß dieser Schwangerschaftsbeschwerden variiert stark – es reicht von leichter Übelkeit bis zu Dehydratationen durch exzessives Erbrechen, was bei manchen Schwangeren sogar eine ärztliche, klinische Versorgung der werdenden Mutter erforderlich macht.

Diclegis® enthält eine Kombination zweier Wirkstoffe: Doxylaminsuccinat und Pyridoxinhydrochlorid, jeweils in einer Stärke vom zehn Milligramm, werden aus der Tablette verzögert freigesetzt. Das Arzneimittel ist zugelassen für Frauen, die unter Übelkeit und Erbrechen während ihrer Schwangerschaft leiden. Eingesetzt werden soll das antiemetische Arzneimittel erst, wenn die Schwangeren durch Maßnahmen zur Änderung ihres Lebensstils und ihrer Ernährungsgewohnheiten ihre Beschwerden nicht hinreichend in den Griff bekommen. Zunächst empfiehlt die FDA, kleinere Portionen zu essen, leicht verdauliche Kohlenhydrate zu bevorzugen und Gerüche zu meiden, die eine Übelkeit auslösen oder fördern können.

Schwangere nehmen Diclegis® bis zu viermal täglich ein, beginnend mit einer abendlichen Dosis von zwei Tabletten auf leeren Magen. Halten die Übelkeitsbeschwerden an, können die werdenden Mütter die Dosis auf maximal vier Tabletten pro Tag erhöhen und morgens und nachmittags je eine weitere Tablette einnehmen.

Auch Embryotox nennt Doxylamin als Mittel der ersten Wahl bei Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft – und erwähnt auch explizit die Kombination des H1-Antihistaminikums mit Vitamin B6. Allerdings steht die Zweierkombi deutschen Schwangeren nicht zur Verfügung: Doxylamin ist in Deutschland für die Therapie des Erbrechens in der Schwangerschaft nicht zugelassen.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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