Aus den Ländern

Im Alter ist vieles anders

Fortbildungsseminar der Apothekerkammer und DPhG-Landesgruppe Hamburg

HAMBURG (tmb) | Am 20. Februar fand zum 20. Mal das alljährliche gemeinsame Fortbildungsseminar der DPhG-Landesgruppe und der Apothekerkammer Hamburg statt. Prof. Dr. Elisabeth Stahl-Biskup, die diese Veranstaltung begründet hatte, erklärte das Konzept: Die DPhG bietet den wissenschaftlichen Hintergrund, und die Kammer zielt auf die praktische Umsetzung. Verantwortlich für das diesjährige Programm über geriatrische Patienten waren Prof. Dr. Elke Oetjen, die auch moderierte, und Dörte Schröder-Dumke von der Apothekerkammer.
Foto: DAZ/tmb

Referenten des Seminars (v.l.): Dr. Johannes Vogel, Prof. Dr. Wolfgang von Renteln-Kruse, Dr. Beate Wickop, Dr. Ronja Woltersdorf.

Das Altern ist mit physiologischen Veränderungen verbunden, die sich wiederum auf den Einsatz von Arzneimitteln auswirken, berichtete Dr. Ronja Woltersdorf, Bonn. Der Fettanteil des Körpers steigt, die Menge des Körperwassers und die Muskelmasse nehmen ab, die Blut-Hirn-Schranke wird durchlässiger, und Durstgefühl, Speichel- und Magensäuresekretion, Nierenfunktion, Lebermasse und -durchblutung sowie die Leistungen der Sinnesorgane gehen zurück. Viele Probleme werden verstärkt, weil die Kompensa­tionsfähigkeit der physiologischen ­Regelkreise abnimmt.

Pharmakokinetische Veränderungen

Mit Blick auf die Medikation betonte Woltersdorf die pharmakokinetischen Aspekte dieser Veränderungen. So kann durch die verminderte Magensäuresekretion die Plasmakonzentra­tion säurelabiler Arzneistoffe erhöht sein, während schwache Säuren schlechter resorbiert werden. Die geringere Menge von Plasmaalbumin vergrößert den ungebundenen Anteil von Arzneistoffen mit hoher Plasma­eiweißbindung. Bei Stoffen, die normalerweise schnell über die Leber ausgeschieden werden, geschieht dies verlangsamt. So kann die Bioverfügbarkeit von Morphin auf das Doppelte und von Clomethiazol sogar auf das Zehnfache steigen. Zu Arzneistoffen, die über die Nieren ausgeschieden werden, warnte Woltersdorf besonders vor der dreifachen Blockade der Nieren: Wenn

  • ACE-Hemmer oder AT1 -Antagonisten das RAA-System blockieren,
  • NSAR die Prostaglandine antagonisieren, die sonst den Perfusionsdruck erhöhen würden, und
  • Diuretika den Perfusionsdruck weiter senken,

kann die Nierenleistung so stark sinken, dass renal eliminierte Arznei­stoffe kumulieren.

Noch schwerer abzuschätzen seien die pharmakodynamischen Veränderungen im Alter, weil sich die Sensibilität verschiedener Rezeptoren in unterschiedlicher Weise verändern kann. Gerade angesichts der großen interindividuellen Unterschiede älterer Personen verwies Woltersdorf auf den Rat, ein neues Arzneimittels einschleichend zu dosieren: „start low, go slow!“

Pflegebedürftigkeit ab­schätzen und hinauszögern

Prof. Dr. Wolfgang von Renteln-­Kruse, Hamburg, erörterte das ­Phänomen Frailty. Dieser englische ­Begriff (Fragilität, Gebrechlichkeit) bezeichnet die im Alter zunehmende Verletzbarkeit durch Stressoren aller Art. Die international üblichen Erklärungen des Phänomens basieren auf den kumulierenden physiologischen Defiziten. Dagegen interpretiert von Renteln-Kruse es eher als eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen den (abnehmenden) Ressourcen und den (zunehmenden) Risikofaktoren eines Menschen. Dies werde auch durch die seit 2000 in Hamburg stattfindende „Longitudinal Urban Cohort Ageing Study“ (LUCAS) gestützt. Daraus ist der LUCAS Funktions-Index entwickelt worden, mit dem sich eine künftige Pflegebedürftigkeit gut abschätzen lasse. Noch wichtiger sei aber die Erkenntnis, dass bestimmte Faktoren die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Pflegebedürftigkeit verringern. Dazu zählen hoher Bildungsstandard, gesunder Lebensstil, soziale Vernetzung und Teilnahme an Freizeitaktivitäten.

Stürze alter Menschen sind einerseits eine Folge ihrer veränderten Physiologie, andererseits können sie die Situation weiter verschlechtern und zu Pflegebedürftigkeit führen. Eine Polymedikation, insbesondere die synergistische Blutdrucksenkung durch mehrere Arzneistoffe, ist mit einem erhöhten Sturzrisiko verbunden. Da viele Patienten eine solche Medikation jedoch brauchen, warb von Renteln-Kruse für individuell angepasste Verordnungen und wiederholte Medikationsanalysen mit dem Ziel der Sturzprävention.

Schmerz im Alter

Entgegen der sonst vielfach problematischen Polymedikation wird Schmerz im Alter nach Einschätzung von Dr. Johannes Vogel, Hamburg, eher zu wenig diagnostiziert und therapiert, sodass viele Patienten zu wenig Arzneimittel dagegen erhalten. Viele geriatrische Patienten berichten nicht über ihren Schmerz, weil sie ihn für selbstverständlich halten, mühsame Dia­gnoseverfahren fürchten oder den Schmerz als Teil ihrer Persönlichkeit betrachten.

Die häufig vorkommenden Fälle von Mischformen verschiedener Schmerztypen sind für die Diagnose und Therapie besonders schwierig. Die Art des Schmerzes bestimmt die Wahl des Analgetikums, doch laut Vogel ist eine erfolgreiche Schmerztherapie im Alter immer multimodal. Je mehr der Schmerz chronifiziert ist, umso weniger hilfreich seien typische, insbesondere zentral wirksame Analgetika, während physikalische Verfahren umso besser seien. Metamizol sei gegen viszerale Schmerzen gut geeignet und meist gut verträglich. Alle NSAR sollten „kurz und knackig“ im akuten Stadium gegeben werden, also nicht als Dauermedika­tion. Beim Absetzen der NSAR solle nicht vergessen werden, auch den zum Magenschutz mitverordneten Protonenpumpenblocker wieder ­abzusetzen.

Besonders schwierig sei die Schmerzdiagnose bei Dementen, weil diese oft nicht über Schmerzen berichten. Herausforderndes Verhalten, plötzliche Ruhe oder plötzliche Unruhe seien oft Zeichen für Schmerz. Zur Diagnose könne man Dementen versuchsweise ein Analgetikum geben. Wenn sich ihr ­Gesamtbild dann verbessere, ­spreche dies für Schmerzen.

GERAS: Geriatrische Arzneimitteltherapiesicherheit

Dr. Beate Wickop, Hamburg, berichtete über potenziell inadäquate Medikation im Alter. Für Arzneistoffe mit im Alter ungünstiger Nutzen-Risiko-Relation gibt es verschiedene Listen und Kriterienkataloge. Die Anamnese von Patienten im Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) mit der Priscus-Liste und den Katalogen FORTA (fit for the aged) und STOPP (screening tool of older persons potentially inappropriate prescriptions) habe gezeigt, dass die Bewertungen in vielen Fällen nicht übereinstimmen. Da solche Listen im Klinikalltag unpraktikabel seien, sei im UKE die Empfehlungssammlung GERAS (Geriatrische Arzneimitteltherapiesicherheit) entwickelt worden. Diese empfiehlt,

  • neue Arzneimittel einschleichend zu dosieren,
  • nach Stürzen die anticholinerge Medikation zu hinterfragen,
  • das Sturzrisiko durch Psycho­pharmaka zu beachten,
  • bei Schlafstörungen als Standard nur 3,75 mg Zopiclon einzusetzen sowie
  • NSAR und Protonenpumpenblocker nach Ende des akuten Bedarfs wieder abzusetzen.

Außerdem riet Wickop, die Anzahl der Arzneimittel bei einem Patienten zu begrenzen, die Compliance zu prüfen und Langzeitmedikationen individuell einzustellen. Damit machte sie – wie auch die anderen Referenten – deutlich, dass geriatrische Patienten individuelle Behandlungskonzepte benötigen und dass hier ein großer Bedarf für das Medikationsmanagement besteht. |

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