Aus den Ländern

Fachtagung Sozialpharmazie in Düsseldorf

Leitlinien oder Leid-Linien?

Dieser leidigen Frage gingen Referenten und Publikum bei der diesjährigen Fachtagung Sozialpharmazie des öffentlichen Gesundheitsdienstes am 4. und 5. Juni 2013 in Düsseldorf nach.

Evidenz in Medizin und Pharmazie gewinnt immer mehr an Bedeutung. Auf der Fachtagung wurde diskutiert, was Wissenschaftler, Ärzte, Apotheker, Patienten und Leitlinien zu einer optimalen, evidenzbasierten Therapie beitragen können.

Leitlinien – was können sie und was nicht?

Dr. Wolfgang Müller von der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch Wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AMWF) veranschaulichte den Teilnehmern den Entstehungsprozess einer Leitlinie. Je nach Evidenz und Konsens entstehen Leitlinien verschieden starker Aussagekraft – an der Spitze die "Königin" in Form der S3-Leitlinie. Systematisch entwickelt und ständig aktualisiert informiert eine Leitlinie Arzt und Patient über den momentanen Stand des klinischen Wissens und weist Entscheidungskorridore auf.

Bei der Erstellung einer Leitlinie müsse man zudem von Anfang an auch die aktive Implementierung in die Praxis planen, ergänzte PD Dr. Horst Christian Vollmar, Allgemeinmediziner aus Düsseldorf. Vollmar wörtlich: "Lieber eine gute (Implementierungs-)Maßnahme als viele schlechte."

Eine häufig geäußerte Kritik an Leitlinien lautet: Sie werden nur für isolierte Krankheitsbilder erstellt, und ihre Empfehlungen sind damit für multimorbide Patienten oft hinfällig. Dass es auch anders geht, zeigte Dr. Ingrid Schubert von der PMV-Forschungsgruppe in Köln. Sie stellte die in Hessen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) entwickelte "Hausärztliche Leitlinie Multimedikation" vor, die sich mit dem Thema Multimorbidität auseinandersetzt (s. Internet).


Internet


Hausärztliche Leitlinie Multimedikation vom 16.1.2013:

www.pmvforschungsgruppe.de > publikationen > leitlinien > multimedikation


Schlüsselelemente sind ein Medikationsplan, die Kooperation zwischen den Heilberuflern und die Einbindung des Patienten in die Therapieentscheidungen.

Nicht nur bei Multimedikation und Komorbiditäten stoßen Leitlinien schnell an ihre Grenze, sondern auch bei höherem Alter der Patienten. Der Grund dafür liegt laut Prof. Dr. Petra Thürmann, Philipp-Klee-Institut für Klinische Pharmakologie in Wuppertal, im Design der meisten klinischen Studien. Der "reale Patient" (alt, multimorbid, viele Medikamente) wird meist gar nicht in die Studienpopulation eingeschlossen, um Komplikationen zu vermeiden. Anders als die Wirksamkeit sei das in der klinischen Prüfung ermittelte Risiko nicht auf die Anwendung bei alten Menschen übertragbar. Leitlinien müssten deshalb immer auf ihre eigene Limitierung hinweisen. Medikamente dürften nicht unkritisch und übereilt Eingang in Leitlinien finden.

An erster Stelle steht der Patient

"Die Vorstellungen von Patienten über eine Therapie unterscheiden sich erheblich von denen der Ärzte", behauptete Prof. Dr. David Klemperer von der Hochschule Regensburg. Er zeigte an Beispielen, dass oft die Infrastruktur und regionale Eigenheiten die Zahl von Therapiemaßnahmen und Operationen bestimmen und nicht der Patientenwunsch. Das evidenzbasierte Shared Decision Making (eSDM) ist dagegen Klemperers bevorzugtes Modell für das Arzt-Patienten-Gespräch. Aus der initialen Präferenz des Patienten soll durch das Schaffen einer kommunikativen Basis (Team-Talk), das Aufzeigen von Möglichkeiten (Option-Talk) und eine gemeinsamen Entscheidung (Decision-Talk) eine "informierte Präferenz" zustande kommen. Sich als Patient selbst zu informieren, ist allerdings nicht ganz einfach. Die Qualität von Informationen aus dem Internet sei allgemein schlecht, und ein Qualitätsbewusstsein sei bei den Nutzern kaum vorhanden.

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat die Website

Gesundheitsinformation.de

entwickelt, die Dr. Klaus Koch vorstellte. Sie wird nach strengsten Evidenzkriterien mit aktuellem Wissen gefüllt und informiert interessierte Patienten, ohne Empfehlungen auszusprechen.

Dr. Judith Günther, Freiburg Foto: Privat

Evidenzbasierte Pharmazie (EBP)

Dr. Judith Günther von der Firma pharmafacts in Freiburg zeichnete eine Vision von Apothekern der Zukunft: "Sie stellen eine Gegenöffentlichkeit zu Presse und Werbung dar. Sie wahren als Experten die Interessen der Patienten und werden auch so wahrgenommen."

Dieser Vision stellte sie negative Berichte über Testkäufe in Apotheken gegenüber und die Tatsache, dass "Medikamente ohne Evidenz" (als Beispiele nannte sie Thomapyrin®, Iberogast®, Wick Medinait®) Verkaufsschlager darstellen.

Die Lücke zwischen Vision und Wirklichkeit zu verkleinern oder zu schließen, könnte laut Günther die Aufgabe der Evidenzbasierten Pharmazie (EBP) sein. Analog zur Evidenzbasierten Medizin würde eine Empfehlung im OTC-Bereich aus der Schnittmenge von klinischer Evidenz, individueller Erfahrung und den Präferenzen des Patienten resultieren. Dazu sei es aber erforderlich, dass Barrieren wie Zeitmangel oder der fehlende Zugang zu unabhängigen Quellen beseitigt werden.

Prof. Dr. Georg Hempel, Münster Foto: Privat

Um berufstätige und zukünftige Apotheker zum Umgang mit EBP in der Offizin zu befähigen, haben Prof. Dr. Georg Hempel und Kollegen, Universität Münster, ein Ausbildungskonzept für das Praktische Jahr entwickelt. Hempel: "Wir haben uns zuerst einmal auf Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) als dringende Baustelle konzentriert." Hier sei mit wenig Aufwand viel für die Patienten zu erreichen. In Schulungen und Symposien wird Pharmazeuten im Praktikum und ihren Ausbilder Grundlagenwissen in Kommunikation und leitliniengerechter Therapie wichtiger Erkrankungen vermittelt. Außerdem werden sie dort befähigt, Medikationsreviews durchzuführen. Das ganze Verfahren wird wissenschaftlich evaluiert. Die gewonnenen Erkenntnisse hofft Hempel irgendwann in die Diskussion um neue Vergütungsformen einbringen zu können.

Fazit: Ohne Evidenz geht es nicht

An Evidenz führt dieser Tage kein Weg vorbei. Als Grundlage von Leitlinien, Patienteninformationen, Arzt-Patienten-Gesprächen sowie Empfehlungen in der Offizin soll sie eine optimale Therapieentscheidung ermöglichen. Dabei werden viele Wege neu beschritten und bieten noch Raum für Verbesserungen. Leitlinien zum Beispiel müssen mehr auf die Aspekte Alter, Multimorbidität und Polymedikation eingehen und besser in die Praxis implementiert werden. Arzt und Apotheker müssen lernen, sich Zugang zu unabhängigen Quellen zu verschaffen und diese zu nutzen.

Mut macht, dass alle Referenten der Fachtagung Evidenz immer nur im Kontext von Erfahrung und der individuellen Situation der Patienten betrachteten und die Wünsche der Patienten für die Therapie stets an erster Stelle sahen.


Jan Giersdorf

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