Toxikologie

Ginkgo-Extrakt mit kanzerogenem Potenzial?

Welche Schlüsse aus Nagetierversuchen zu ziehen sind

Ein Kommentar von Ralf Stahlmann | Toxikologische Studien aus dem National Toxicology Program (NTP) der USA weisen eine hohe Qualität in der Durchführung und Dokumentation auf. Dies gilt auch für die Untersuchung eines Extraktes aus Blättern von Ginkgo biloba, über die im März 2013 in einer fast 200 Seiten langen Veröffentlichung abschließend berichtet wurde [1]. In Deutschland, Frankreich, den USA und anderen Ländern werden Ginkgo-Präparate von Millionen Menschen eingenommen. Meldungen, dass die NTP-Studie Hinweise auf ein kanzerogenes Potenzial des Phytopharmakons ergeben hat, fanden daher große Beachtung. Zu Recht oder zu Unrecht?
Je nach den Bedingungen von Anbau, Ernte und vor allem Extraktion entstehen aus Ginkgoblättern sehr unterschiedliche Produkte.
Foto: Dr. Willmar Schwabe Arzneimittel

Hintergrund der aufwendigen Experimente, in denen mehr als 1000 Ratten und Mäuse drei Monate oder zwei Jahre lang mit Ginkgo-Extrakt behandelt wurden, war neben der weiten Verbreitung der Präparate deren Gehalt an Quercetin. Dieses und einige andere Flavonoide, die in zahlreichen Pflanzen vorkommen, wirken in vitro mutagen. Andererseits zeigen etliche tierexperimentelle Studien keine mutagene Wirkung oder sogar einen antimutagenen Effekt des Ginkgo-Extraktes. Das Potenzial für mutagene Wirkungen wird in der Regel als ein Hinweis auf mögliche kanzerogene Wirkungen angesehen. Insgesamt erschien daher den Verantwortlichen eine tierexperimentelle Studie mit lebenslanger Exposition sinnvoll. Man kann abschätzen, dass mehrere Millionen Dollar in dieses Vorhaben investiert wurden.

Bekanntlich kommen verschiedene Ginkgo-Extrakte zur Anwendung, die sich in ihrer Zusammensetzung unterscheiden und oft nur unzureichend standardisiert sind.

Doppelt so hoher Quercetin-Anteil wie im Extrakt EGb761

Weit verbreitet ist in Deutschland und anderen Ländern der standardisierte Extrakt EGb 761 der Firma Willmar Schwabe. Dieses Produkt stand für die toxikologische Studie nicht zur Verfügung, daher wurde eine ähnlich zusammengesetzte Zubereitung eines Herstellers aus Shanghai untersucht. In umfangreichen Analysen wurde die Zusammensetzung des verwendeten Materials analysiert und mit der Zusammensetzung des EGb 761 verglichen. Demnach enthielt das geprüfte Material ein Drittel mehr Flavonoid-Glykoside (31,2% anstatt 24%), davon war etwa die Hälfte Quercetin; der Anteil an Terpenlactonen war mehr als doppelt so hoch (15,4% vs. 6%). Mutagene Ginkgolsäuren, die allergische und zytotoxische Reaktionen hervorrufen können, sind in dem medizinisch verwendeten Extrakt mit höchstens 5 ppm vorhanden. In dem toxikologisch untersuchten Material wurde ein Gehalt von 10,45 ppm gemessen. Damit war der Ginkgolsäurengehalt im Vergleich mit Extrakten aus früheren Untersuchungen, bei denen bis zu 90.000 ppm Ginkgolsäuren in Ginkgo-Präparaten aus den USA gemessen wurden, sehr niedrig.

Extrem hohe Dosierungen

In diesen Experimenten wurden nur Dosierungen eingesetzt, die deutlich über den therapeutisch angewandten Dosierungen liegen. Bei einer Tagesdosis des Menschen von 240 mg Ginkgo-Extrakt resultiert eine gewichtsbezogene Dosierung von ca. 3,4 mg/kg, wenn ein mittleres Körpergewicht von 70 kg zugrunde gelegt wird.

Die Mäuse erhielten Dosierungen von 200, 600 oder 2000 mg/kg Körpergewicht; in allen Gruppen wurden Tumoren beobachtet. Leider wurden Dosierungen weit unterhalb von 100 mg/kg, die eher mit einer therapeutischen Exposition vergleichbar wären, nicht untersucht.

Sind Dosierungen von 0,2 bis 2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht sinnvoll, wenn die therapeutische Dosierung bei 3 bis 4 mg pro Kilogramm Körpergewicht liegt? Diese Frage ist nicht von vornherein zu verneinen, denn Nagetiere metabolisieren und eliminieren Fremdstoffe oft sehr viel rascher als der Mensch. Um vergleichbare Plasmakonzentrationen zu erzielen, kann es daher notwendig sein, deutlich höhere Dosierungen in Experimenten mit Mäusen und Ratten anzuwenden.

Mehr als 100-fache Dosierungen kaum vertretbar

Idealerweise liegen pharmakokinetische Studien mit der Testsubstanz bei Mensch und Tier vor, die einen Vergleich zwischen den Spezies erlauben. Zumindest wenn die gleichen Metaboliten entstehen, ist durch die pharmakokinetischen Daten eine gute Basis für einen Vergleich gegeben. Dieses Vorgehen ist naturgemäß schwierig bei der Verabreichung eines komplexen Stoffgemisches wie einem Pflanzenextrakt.

Die Autoren des NTP-Berichtes stützen sich in ihrer Dosiswahl auf die Einschätzung, dass eine humantherapeutische Dosis von 3,4 mg/kg (also 240 mg/70 kg) mit einer tierexperimentellen Dosis von 50 mg/kg (ca. 15-fach höher) etwa zu vergleichen sei. Zur Anwendung kamen aber nur vielfach höhere Dosierungen. Dies ist aus pharmakokinetischen Gründen kaum vertretbar.

Es muss auch erwähnt werden, dass die Metaboliten, die aus den Ginkgo-Inhaltsstoffen bei Mensch und Tier entstehen, nicht völlig identisch sind. Einige Phenylessigsäure- und Phenylpropionsäuremetaboliten, die bei Ratten nachweisbar sind, werden im menschlichen Organismus nicht gebildet. Ob dies eine Bedeutung für die Übertragbarkeit der Ergebnisse aus tierexperimentellen Studien für den Menschen hat, ist unklar.

Als Begründung für hohe Dosierungen in Tierexperimenten wird häufig auch angeführt, dass dadurch selten auftretende Ereignisse erkennbar werden, die sonst bei einer begrenzten Zahl von Versuchstieren nicht nachweisbar wären. Auch dies ist ein nachvollziehbares Argument. Allerdings muss damit gerechnet werden, dass bei extrem hohen Dosierungen, wie sie in diesen Experimenten angewandt wurden, keine Extrapolation zu den Effekten bei niedrigen Dosierungen mehr erfolgen kann. Extrem hohe Dosierungen können zu einer grundsätzlichen Veränderung im Metabolismus von Fremdstoffen führen, da die Kapazität der verantwortlichen Enzymsysteme erreicht oder überschritten wird. Im gesamten Stoffwechsel können dann deutliche Veränderungen durch Induktion der Fremdstoff-metabolisierenden Enzyme entstehen.

Eindeutig kanzerogen?

Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass der untersuchte Ginkgo-Extrakt bei Mäusen eindeutig kanzerogen sei ("clear evidence"), bei Ratten bestünden gewisse Hinweise auf kanzerogene Wirkungen ("some evidence"). Zielorgane waren in beiden Spezies die Schilddrüse und die Leber.

Eindeutige Aussagen sind in solchen Studien oftmals nicht möglich, weil viele der beobachteten Tumorarten auch spontan bei den Tieren am Ende des Lebens auftreten und die Unterschiede zwischen Kontrollen und behandelten Mäusen nur gering sind. Bei den weiblichen Mäusen waren jedoch zum Beispiel hepatozelluläre Karzinome bei 44 von 50 Tieren in der Gruppe mit der höchsten Ginkgo-Dosierung nachweisbar, in der Kontrollgruppe war dies nur bei 9 von 50 der Fall. Dieser Typ von Tumor trat bei männlichen Kontrolltieren etwa doppelt so häufig auf wie bei den weiblichen Mäusen, nämlich bei 22 von 50. In allen Ginkgo-behandelten Gruppen waren signifikant mehr Tumoren histologisch nachweisbar; betroffen waren in den drei behandelten Gruppen 31, 41 bzw. 47 von jeweils 50 Ratten. Eine spezielle Variante der Lebertumoren, die Hepatoblastome, wurden bei männlichen Mäusen sehr häufig beobachtet: In allen Dosisgruppen waren mehr als die Hälfte der Tiere betroffen, in der Kontrolle waren es nur 3 von 50 Tieren.

Veränderungen vor der Entwicklung von Tumoren

Die experimentellen Daten sind eindeutig, und damit stellt sich die Frage nach der Relevanz für den Menschen. Um dies zu beurteilen, ist ein Blick auf die Organgewichte und den Allgemeinzustand der Tiere hilfreich. In Ergänzung zu den Langzeitexperimenten wurden mit etwas anderen Dosierungen auch Untersuchungen über drei Monate durchgeführt. Unter diesen Bedingungen war bereits in der niedrigsten Dosierung von 125 mg/kg Körpergewicht eine signifikante Zunahme des Lebergewichts festzustellen. Die histopathologische Untersuchung zeigte eine zentrilobuläre Hypertrophie und degenerative Veränderungen wie gering ausgeprägte fokale Nekrosen. Diese Befunde gehen mit einer Enzyminduktion in der Leber einher.

Maligne Tumoren waren in dieser 3-Monats-Studie noch nicht nachweisbar, aus anderen Studien ist jedoch bekannt, dass derartige Zeichen einen prädiktiven Charakter für kanzerogene Wirkungen besitzen. Nach der höchsten Dosierung von 2000 mg/kg Körpergewicht hatte die Leber der Mäuse bereits nach drei Monaten ein um mehr als 50% höheres Gewicht. Für eine allgemeine Beeinträchtigung durch die Hochdosisbehandlung spricht die Beobachtung, dass bei den Dosierungen im Gramm-pro-Kilogramm-Bereich die Tiere ein gesträubtes Fell hatten.

Hepatoblastome und andere Arten von Leberkrebs können bei Mäusen durch Tumor-Promotoren verursacht werden. Dazu gehören auch zahlreiche Arzneistoffe wie Phenobarbital oder Primidon, die als Enzyminduktoren bekannt sind. Epidemiologische Untersuchungen konnten bisher nicht zeigen, dass zum Beispiel eine langfristige Phenobarbital-Behandlung bei Epilepsie-Patienten zu einer erhöhten Rate an Leberkrebs führen würde.

Vergleich mit Oxazepam

Ein weiterer Enzyminduktor ist Oxazepam. Vor etwa 20 Jahren wurde dieses Benzodiazepin ebenfalls in einer NTP-Studie bei Mäusen toxikologisch untersucht [2]. Die Zielorgane waren Leber und Schilddrüse, Hepatoblastome waren bei fast allen Tieren in den Hochdosisgruppen nachweisbar. Durch die hochdosierte Behandlung mit Oxazepam wurden verschiedene Fremdstoff-metabolisierende Enzyme induziert, es bestand eine zentrilobuläre Hypertrophie, und das Lebergewicht der Tiere war deutlich erhöht. Die toxischen Effekte waren damit sehr ähnlich wie in den Ginkgo-Experimenten.

Die beobachteten kanzerogenen Veränderungen in der Schilddrüse können wie folgt erklärt werden: Oxazepam wird im Phase-II-Metabolismus glucuronidiert und anschließend eliminiert. Durch die Enzyminduktion wird aber u. a. auch Thyroxin vermehrt glucuronidiert und ausgeschieden. Der resultierende Thyroxinmangel verursacht eine anhaltende Stimulation der Schilddrüse durch TSH, was wiederum zur Hyperplasie und zu Tumoren führen kann.

Fazit

Ob derartige Mechanismen auch bei der Behandlung mit Ginkgo-Extrakt eine Rolle spielen, ist natürlich im Detail nicht geklärt, die Parallelen zwischen den beiden NTP-Studien sind jedoch deutlich erkennbar. So lautet das Fazit:

  • Ein tumorpromovierender Effekt des Ginkgo-Extraktes in hohen Dosierungen ist anzunehmen; somit kann von einem (hohen) Schwellenwert für den kanzerogenen Effekt ausgegangen werden.
  • Ein erhöhtes Risiko für Leber- oder Schilddrüsenkrebs bei Patienten, die Ginkgo-Präparate in Dosierungen von täglich ca. 3 bis 4 mg/kg Körpergewicht einnehmen, ist nach dem heutigen Kenntnisstand sehr unwahrscheinlich.

Literatur

[1] National Institutes of Health, National Toxicology Program. NTP Technical Report on the Toxicology and Carcinogenesis Studies on Ginkgo biloba Extract (CAS No. 90045-36-6) in F344/N Rats and B6C3F1/N Mice (Gavage Studies). NTP TR 578; NIH Publication No. 12-5920. März 2013. http://ntp.niehs.nih.gov/ntp/htdocs/LT_rpts/TR578_508.pdf.

[2] Bucher JR, et al. Carcinogenicity studies of oxazepam in mice. Fund Appl Toxicol 1994;23:280 – 297.


Autor

Prof. Dr. Ralf Stahlmann, Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Luisenstr. 7, 10117 Berlin


Stellungnahme der Firma Willmar Schwabe

Kein Krebsrisiko durch Ginkgo-Arzneimittel


In einem bereits Ende 2011 als Entwurf veröffentlichten Bericht des National Toxicology Program (NTP), einem Programm der US-amerikanischen Umwelt- und Gesundheitsbehörde (National Institute of Environmental Health Sciences bei den National Institutes of Health), wird über mögliche krebserregende Wirkungen eines chinesischen Ginkgo-Extrakts berichtet, der in den USA als Nahrungsergänzungsmittel verwendet wird. Der in der Studie verwendete Extrakt stammte von der chinesischen Firma Shanghai Xing Ling Science and Technology Pharmaceutical Company.


Die Ergebnisse des NTP mit dem chinesischen Extrakt sind nicht auf den in Deutschland in der Apotheke erhältlichen Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761® (Tebonin®) übertragbar.

Der in der Studie eingesetzte chinesische Extrakt wäre in deutschen Arzneimitteln gar nicht verkehrsfähig, da er im Vergleich zu Arzneiextrakten eine deutlich andere Zusammensetzung aufweist, die nicht den vorgeschriebenen Anforderungen entspricht. So enthält er z. B. mehr als 10 ppm Ginkgolsäuren, die wegen ihrer potenziell genotoxischen Wirkungen in Ginkgo-Arzneimitteln auf das technisch mögliche Minimum von unter < 5ppm (< 0,0005%) abgereichert werden. Zudem können in Nahrungsergänzungsmitteln eingesetzte Pflanzenextrakte bekanntlich mit bedenklichen Mengen an Umweltschadstoffen belastet sein, z. B. mit polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen.

Für den in Deutschland in der Apotheke erhältlichen Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761® fand sich in den behördlich vorgeschriebenen Sicherheitsstudien über eine Behandlungszeit von zwei Jahren selbst bei hohen Tagesdosierungen von 200 mg/kg Körpergewicht kein Hinweis auf ein erhöhtes Krebsrisiko.

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen sogar möglicherweise vor Krebs schützende Effekte von EGb 761® auf.

An der Sicherheit des hochwertigen deutschen Ginkgo-Arzneimittels Tebonin® begründen die neuen Ergebnisse aus den USA keine Zweifel. Dennoch machen die Befunde deutlich: Ein unkontrollierter Einsatz von nicht zugelassenen und als Arzneimittel nicht zulassungsfähigen Ginkgo-Extrakten z. B. in Nahrungsergänzungsmitteln widerspricht dem Verbraucherschutz. Bereits 2009 hatte eine Kommission des Bundesinstituts für Risikobewertung erhebliche Sicherheitsbedenken gegenüber Ginkgo-haltigen Teezubereitungen geäußert.


Quellen

National Institutes of Health, Public Health Service, U.S. Department of Health and Human Services. NTP TR 578; NIH Publication No. 12-5920. (Entwurf Dezember 2011; finaler Bericht März 2013).

Dunnick JK, Nyska A. The Toxicity and Pathology of Selected Dietary Herbal Medicines. Toxicol Pathol 2013. Epub ahead of print.

Hoenerhoff MJ, et al. Hepatocellular Carcinomas in B6C3F1 Mice Treated with Ginkgo biloba Extract for Two Years Differ from Spontaneous Liver Tumors in Cancer Gene Mutations and Genomic Pathways. Toxicol Pathol 2013. Epub ahead of print.

Martena MJ, et al. Monitoring of polycyclic aromatic hydrocarbons (PAH) in food supplements containing botanicals and other ingredients on the Dutch market. Food Additives and Contaminants 2011:28(7);925– 942.

FachinformationTebonin, Stand April 2011.

El Mesallamy HO, et al. The chemopreventive effect of Ginkgo biloba and Silybum marianum extracts on hepatocarcinogenesis in rats. Cancer Cell International 2011;11:38. www.cancerci.com/content/11/1/38.

Chen XH, et al. Effects of Ginkgo biloba extract EGb 761 on human colon adenocarcinoma cells. Cell Physiol Biochem 2011;27(3-4):227– 232.

Bundesinstitut für Risikobewertung: Protokoll vom 11. Dezember 2009 zur 4. Sitzung der BfR-Kommission für Ernährung, diätetische Produkte, neuartige Lebensmittel und Allergien


Autor

Dr. Martin Burkart, Leiter Medizinische Wissenschaften, Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Bunsenstr. 6 – 10, 76275 Ettlingen

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