Gesundheitspolitik

Wie gut ist das deutsche Gesundheitssystem?

Systemvergleich in der Versorgungsforschung

HAMBURG (tmb). Rankings sind beliebt, aber die Aussagekraft von Statistiken ist oft zweifelhaft. Dabei wollen Versorgungsforscher sogar noch mehr – ihr Ziel ist, aus guten Erfahrungen des Auslands zu lernen wie beim 12. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik am 31. Oktober im Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf. Der Gastgeber, der Dermatologe und Versorgungsforscher Prof. Dr. Matthias Augustin, wünscht sich eine "evidenz-basierte Gesundheitspolitik", die mit Lernkurven und geprüften Kausalitätsbeziehungen bessere Ergebnisse erzielt.

Prof. Dr Matthias Augustin (ganz rechts), Gastgeber des "12. Eppendorfer Dialogs", will eine "evidenz-basierte Gesundheitspolitik". Das deutsche Gesundheitssystem nahmen außerdem unter die Lupe (v. l.): Dr. Michael Reusch, Prof. Dr. Reinhard Busse und Prof. Dr. Mirella Cacace. Foto: AZ/tmb

Als Beispiel für Vorbilder aus dem Ausland nannte Augustin die extrem niedrige Häufigkeit von MRSA-Fällen in niederländischen Krankenhäusern. Durch die Orientierung an den Niederlanden habe die Region um Münster inzwischen ähnlich gute Ergebnisse. Doch weitergehende Systemvergleiche sind schwierig, zumal viele Begriffe in verschiedenen Ländern unterschiedlich gebraucht werden. Daher sei mehr Evidenz bei Systemvergleichen nötig, forderte Augustin. Dies zeigte sich auch anhand der teilweise widersprüchlichen Aussagen im weiteren Verlauf der Veranstaltung.

Deutschland nur Mittelmaß?

Gestützt auf vielfältige Daten bewertete Prof. Dr. Reinhard Busse, Berlin, das deutsche Gesundheitswesen kritisch. Das System müsse sich nicht verstecken, sei aber hinsichtlich der Ergebnisse in vieler Hinsicht nur mittelmäßig und brauche dafür viele Ressourcen, insbesondere extrem viele Krankenhausbetten. Als Vergleichsmaßstab dürfe nicht die Sterblichkeit dienen, weil viele andere Einflussfaktoren wie Bildung und allgemeiner Wohlstand darauf stärker wirken als das Gesundheitswesen. Ein Maß für das Gesundheitswesen sei hingegen die medizinisch vermeidbare Sterblichkeit, also das Versterben an behandelbaren Erkrankungen.

Busse kritisierte, dass in Deutschland manche Leistungen wie die Koronarangiografie sehr häufig ausgeführt würden. Die große Zahl von Leistungen könne zu einem Problem werden, weil bei Eingriffen im Krankenhaus 2,5 Prozent der Patienten verstürben, erklärte Busse. Auch der im internationalen Vergleich große ambulante Sektor in Deutschland sorge nicht dafür, dass vergleichsweise weniger Menschen im Krankenhaus behandelt würden. Bei der Bewertung durch die Bevölkerung falle das deutsche System im internationalen Vergleich zurück, "weil die anderen europäischen Länder total aufgeholt haben", so Busse. Lösungen sieht er eher nicht in mehr Wettbewerb, sondern in mehr Koordination.

Konvergenz der Regulierung

Prof. Dr. Mirella Cacace, Lüneburg, erwartet dagegen auch künftig mehr Wettbewerb. Als idealtypische Gesundheitssysteme stellte sie den staatlichen Gesundheitsdienst in Großbritannien mit dem Gleichheitsprinzip, das korporatistische Modell der Selbstverwaltung mit kollektiven Verhandlungen in Deutschland und das privatwirtschaftliche System in den USA vor. Die Grundstrukturen dieser Systeme bestünden zwar weiterhin, aber über Jahrzehnte hätten sich die Systeme zunehmend von den Idealtypen entfernt. Sie hätten gegenseitig Elemente voneinander übernommen, sodass Mischformen entstanden seien. Cacace sieht diesen Trend positiv, weil hybride Steuerungsformen besser auf neue Herausforderungen reagieren könnten.

Vorzüge im Detail

Im Kontrast zu Busse führte Dr. Michael Reusch, Hamburg, viele Argumente für das deutsche Gesundheitssystem an. Es sei nicht überteuert, sondern nur subjektiv teuer für die Beitragszahler, weil aufgrund des demografischen Wandels immer weniger Menschen das System tragen müssten. Denn "wir sind die erste Generation, die nicht im Krieg verheizt wurde", so Reusch. Doch die immer älter werdenden Menschen hätten in großer Zahl Krankheiten, die früher viel seltener waren, z. B. Prostatakrebs oder Demenz. Die Zufriedenheit der Bevölkerung ist für Reusch kein Bewertungsmaßstab, weil beispielsweise die Engländer nur ihr System kennen und nicht wissen würden, welche Leistungen ihnen vorenthalten würden – von der Katarakt-OP bis zur künstlichen Hüfte. In Schweden entscheide eine Krankenschwester, wer überhaupt zum Arzt kommen dürfe. Das sei in Deutschland unzulässig. Hautkrebs-Screening bedeute in Schweden, dass Menschen über 100 Meter auf der Straße anstehen, während man Deutschland jederzeit dafür zum Arzt gehen können wolle. Das Beispiel der Dermatologen zeige auch, wie schwer Vergleiche sind, denn dieses Berufsbild sei in Deutschland besonders umfangreich. In anderen Ländern zählen Geschlechtskrankheiten und Allergologie nicht zu den Arbeitsgebieten der Hautärzte, sodass Vergleiche der Dermatologenzahl wenig aussagen.

Reusch präsentierte jüngste Daten aus einem europäischen Survey zur Dermatologie, nach denen die Melanomsterblichkeit in Deutschland besonders gering ist und nur von der Schweiz unterboten wird. Doch auch einige Länder mit sehr wenigen Dermatologen erreichen demnach gute Werte. Reusch erklärte, dass dies beispielsweise in Irland durch eine sehr wirkungsvolle Triage ermöglicht wird. Patienten mit Verdacht auf Melanom gelangen dort bevorzugt zum Hautarzt. Doch als Konsequenz würden Patienten mit nicht lebensbedrohlichen Hauterkrankungen Monate oder sogar Jahre auf einen Termin warten. So werde in manchen Ländern ein relativ gutes Ergebnis beim Melanom, das statistisch als Marker verwendet wird, durch erhebliche Versorgungsdefizite bei anderen Erkrankungen erkauft. Außerdem könne es ein Zeichen von Unterversorgung sein, wenn manche Hautkrankheiten in einigen Ländern nur zu einem geringen Teil von Dermatologen behandelt werden. Diese Beispiele zeigen wiederum die Grenzen von Statistiken zur Bewertung der Gesundheitssysteme.



AZ 2012, Nr. 45, S. 3

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