Arzneimittel und Therapie

Neue bivalente Schluckimpfung zeigt bessere Ergebnisse

Die Nachrichten erschienen fast gleichzeitig: Während neue Poliofälle in der WHO-Region Europa erstmalig wieder auftraten, zeigt ein neuer oraler Impfstoff gegen Kinderlähmung Erfolg versprechende Ergebnisse. In einer randomisierten klinischen Doppelblind-Studie mit mehr als 800 Neugeborenen konnte die Überlegenheit der neuen bivalenten Polio-Vakzine (bOPV) gegenüber der derzeit verwendeten trivalenten Vakzine gezeigt werden. Die bivalente Vakzine rief eine stärkere Immunantwort gegen die Poliovirus Typen 1 und 3 hervor.
Foto: Aventis Pasteur MSD GmbH Leimen

Seit 1998 wird zum Gedenken an den Geburtstag von James Salk der 28. Oktober als Weltpoliotag begangen. Nach einer großen randomisierten klinischen Studie mit mehreren hunderttausend Kindern konnten Salk und Mitarbeiter die erfolgreiche Testung eines inaktivierten Impfstoffes gegen Polioviren veröffentlichen. Die Zulassung erfolgte kurz darauf im Jahre 1955. Kurz nach der Einführung von Routineimpfungen kam es durch nicht inaktivierte Viren zu einem dramatischen Arzneimittelskandal ("Cutter-Incident") in den USA mit mehreren hunderttausend infizierten Kindern. Danach wurde über lange Zeit ein oraler Lebendimpfstoff eingesetzt, der aber wegen zahlreicher möglicher Nebenwirkungen und Komplikationen in den meisten Polio-"freien" Ländern nicht mehr bzw. kaum noch eingesetzt wird.

Bereits 1988 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Eradikation der Poliomyelitis bis zum Jahre 2000 angestrebt. Möglicherweise führt der bislang verwendete Impfstoff lediglich zu einer begrenzten Immunität, da auch nach mehrmaliger Impfung immer wieder Erkrankungen auftraten. Poliovirus Typ 2 ist seit 1999 nicht mehr aufgetreten, und im Jahr 2005 wurde bereits eine Vakzine mit optimierter Immunität gegen das Poliovirus Typ 1 eingeführt (mOPV1). Die Einführung von Impfungen mit oralem trivalentem Polioimpfstoff hat zu einer weltweiten Eindämmung der Poliomyelitis geführt. Lediglich vier Länder (Indien, Pakistan, Afghanistan und Nigeria) gelten als endemisch. Obwohl die trivalente Vakzine (tOPV) alle drei Virustypen bekämpft und auch monovalente Impfstoffe eingesetzt werden, kommt es weiterhin zur Übertragung der Virustypen 1 und 3 in diesen Gebieten. Wie virulent die Situation tatsächlich ist, zeigt die Zahl neuer Poliofälle nach dem Ausbruch in Tadschikistan im ersten Halbjahr 2010. Das Virus war von Indien eingeschleppt und von dort aus auch in Nachbarländer verbreitet worden.

Polioviren

Polioviren waren ursprünglich weltweit verbreitet und sind Auslöser der Poliomyelitis (Kinderlähmung). Systematisch gehören Polioviren zur Familie der Picornaviren und zur Gattung der Enteroviren. Das Virus ist unbehüllt mit einem Genom aus einzelsträngiger plus-RNA. Es werden drei Serotypen unterschieden, die vor allem strukturelle Unterschiede in den Kapsidproteinen zeigen:

  • Serotyp 1 ("Brunhilde" oder "Mahoney"), häufig vorkommend, kann schwere Erkrankungen hervorrufen,
  • Serotyp 2 ("Lansing"), seit 1999 nicht mehr aufgetreten, eher leichte Verläufe der Krankheit,
  • Serotyp 3 ("Leon"), relativ selten, schwere Erkrankung.


 

Das Poliovirus wird fäkal-oral übertragen und vermehrt sich in der Darmwand und den mesenterialen Lymphknoten. Gelangt das Virus in das Blut, so kann auch das zentrale Nervensystem betroffen sein. Das Virus befällt die motorischen Neurone im Vorderhorn des Rückenmarks und in der Hirnrinde.

Erfolgreiche Impfung mit oraler bivalenter Vakzine

Der jetzt erfolgreich getestete orale bivalente Impfstoff (bOPV) zeigt auch gegen Serotyp 3 eine verbesserte Immunität. Zwischen August 2008 und Dezember 2008 erhielten 830 Neugeborene aus drei Zentren Indiens per Zufallsverfahren entweder den monovalenten Wirkstoff, den neuen oralen bivalenten Impfstoff oder eine trivalente Impfung in zwei Dosen, einmal zur Geburt, ein weiteres Mal 30 Tage danach. Blutproben wurden vor der Impfung genommen und nochmals nach der ersten und zweiten Dosis, um die Serokonversion zu messen. Die Ergebnisse zeigten, dass der neue orale bivalente Impfstoff eine signifikant stärkere Immunantwort induziert und eine höhere Serokonversionsrate erreichte als die trivalente Impfung. Die Raten der Serokonversion lagen nach zweimaliger Gabe bei 86% (Poliovirus Typ 1) bzw. 74% (Poliovirus Typ 3). Insgesamt war der neue orale bivalente Impfstoff gegenüber einer trivalenten Impfung, die auch Typ 2 einschließt, überlegen; es zeigte sich ebenfalls keine Unterlegenheit gegen monovalente Impfstoffe (mOPV1 bzw. mOPV3). Alle Impfstoffe wurden gut vertragen.

Die globale Polioeradikationsinitiative

Seit Beginn der globalen Polioeradikationsinitiative 1988 wurden in weiten Teilen der Welt große Erfolge bei der Bekämpfung dieser Infektionskrankheit erzielt. Die Zahl der weltweit registrierten Fälle konnte um 99,5% gesenkt werden; drei von sechs WHO-Regionen wurden bereits als poliofrei zertifiziert (Amerika 1994, Westpazifik 2000 und Europa 2002). In diesem Jahr traten erstmalig wieder Poliofälle in der WHO-Region Europa auf: Durch aus Indien eingeschleppte Wildtyp-Polioviren vom Typ 1 kam es in Tadschikistan zu dem größten Polioausbruch in diesem Jahr. Das Virus wurde nachfolgend aus Tadschikistan in die Russische Föderation, nach Kasachstan und Turkmenistan importiert. Insgesamt wurden bei der WHO offiziell 475 Fälle von Wildtyp-Polioviren vom Typ 1 registriert, es gab 19 Todesfälle (4%). Insgesamt konnte die Zahl der weltweiten Poliofälle weiter reduziert werden: Sie sank von 1165 im vergleichbaren Zeitraum 2009 auf 717 im Jahr 2010. Die Zahl der registrierten Fälle von Wildtyp-Polioviren vom Typ 3 sank um 90%. Insbesondere in den Endemieländern Indien und Nigeria wurden beachtliche Erfolge erzielt, dort sank die Zahl der Neuerkrankungen. Pakistan ist das einzige Endemieland, in dem die Polioinzidenz im Jahr 2010 im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist: Hier wurden mehr Fälle (69) registriert als in den anderen drei Endemieländern zusammen (65).

Im Juni 2010 wurde der neue Strategische Plan der globalen Polioeradikationsinitiative für 2010 bis 2012 eingeführt. Neue Ansätze beinhalten gebietsspezifische Bekämpfungsstrategien, spezielle Strategien für bislang unterversorgte Bevölkerungsgruppen wie Nomaden und den Einsatz neuer bivalenter Impfstoffe.

[Quelle: Epidemiologisches Bulletin des Robert Koch-Instituts (2010) 42: 411 – 412]

In Indien wird der neue Impfstoff bereits erfolgreich eingesetzt, in diesem Jahr wurden bislang nur 39 Fälle registriert, verglichen mit 431 Fällen 2009. Die Eliminierung der Poliomyelitis ist nach wie vor erklärtes Ziel nationaler und internationaler Gesundheitspolitik. Es bleibt zu hoffen, dass die Impfungen jetzt auch tatsächlich zu einer Eradikation der Poliomyelitis führen wird. Für eine Meldung "Kinderlähmung vor der Ausrottung" ist es allerdings wohl noch zu früh.

Quelle Wieder Poliofälle in der WHO-Region Europa. Epidemiologisches Bulletin des RKI (2010) 42: 411 – 412, www.rki.de Sutter, R.W.; et al.: Immunogenicity of bivalent types 1 and 3 oral poliovirus vaccine: a randomised, double-blind, controlled trial. Lancet (2010) doi: 10.1016/S0140-6736(10)61230-5; Comment: Poliomyelitis eradication: another step forward. Lancet (2010) DOI:10.1016/S0140-6736(10)61427-4

 


Dr. Hans-Peter Hanssen

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