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Infektiologie

Immer noch nicht poliofrei

Wissenswertes rund um die Kinderlähmung

Polio ist eine hochansteckende Infektionskrankheit, die zu schweren bleibenden Beeinträchtigungen führen kann. Da trotz intensiver Bemühungen seitens der Weltgesundheitsorganisation WHO immer noch nicht alle Länder der Welt poliofrei sind, bleibt die Impfung auch in Deutschland weiterhin wichtig. Wo kommt Polio noch vor? Welche Symptome treten auf? Und was sollte man über die Impfung wissen? | Von Sabine Fischer

Poliomyelitis, oft kurz Polio oder auch Kinderlähmung genannt, ist eine durch Polioviren hervorgerufene Infektionskrankheit, die vor allem im Kindesalter auftritt. Polioviren sind kleine, sphärische, unbehüllte Einzelstrang-RNA-­Viren. Sie gehören zur Familie der Picornaviridae, Genus Entero­virus. Das einzige Reservoir der drei Typen von Polioviren (Typ 1, 2 und 3) ist der Mensch. Polioviren sind sowohl bei pH-Werten kleiner drei als auch gegen lipidlösliche Sub­stanzen (z. B. Chloroform und Detergenzien) sowie gegenüber vielen proteolytischen Enzymen stabil. Die Über­tragung erfolgt in erster Linie fäkal-oral und wird unter schlechten hygienischen Bedingungen begünstigt. Die Virus­ausscheidung beginnt im Allgemeinen zwei bis drei Tage nach Infektion und kann bis zu sechs Wochen anhalten. Da es zu einer starken Virusvermehrung im Rachen­epithel kommt, ist eine Übertragung über die Luft kurz nach der Infektion ebenso möglich [1].

Seit 20 Jahren keine Fälle in Europa

1988 verabschiedete die 41. Weltgesundheitsversammlung eine Resolution zur weltweiten Ausrottung von Polio. Diese markierte den Start der Global Polio Eradication Initiative (GPEI), die von nationalen Regierungen, der WHO, Rotary International, den US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und UNICEF angeführt wurde. Insgesamt sind die Fallzahlen seit Einführung der GPEI um über 99% gesunken: von damals geschätzten 350.000 Fällen in mehr als 125 endemischen Ländern auf 33 gemeldete Fälle im Jahr 2018. Bereits 1999 wurde das Polio-Wildvirus Typ 2 ausgerottet, seit November 2012 wurde kein Fall des Polio-Wildvirus Typ 3 gemeldet. Die WHO-Region Europa gilt seit dem Jahre 2002 als poliofrei. Insgesamt leben mittlerweile 80% der Weltbevölkerung in zertifizierten poliofreien Regionen. Durch die Impfkampagne wurden über 18 Millionen Menschen vor einer Lähmung und schätzungsweise mehr als 1,5 Millionen vor dem Tod im Kindesalter bewahrt. Allerdings kommt es immer noch zu endemischen Übertragungen von Polio in den Grenzgebieten von Afghanistan und Pakistan. Gelingt es nicht, Polio in diesen Gebieten zu stoppen, könnte dies innerhalb von zehn Jahren weltweit zu bis zu 200.000 neuen Fällen pro Jahr führen [2].

Leichte bis tödliche Verlaufsformen möglich

Liegt aufgrund der klinischen Symptome der Verdacht auf eine Polio-Erkrankung vor, so erfolgt die diagnostische Absicherung am nationalen Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren. Dazu sind vor allem Stuhlproben geeignet, aus denen in den ersten 14 Tagen der Erkrankung der Erreger­nachweis erfolgt [1].

Poliovirus-Infektionen können zu einem Spektrum klinischer Erscheinungen führen, die von subklinischen Infektionen bis hin zu Lähmungen und Tod reichen. Die Mehrheit der Poliovirus-Infektionen verläuft asymptomatisch; bis zu 70% der infizierten Personen haben keine, etwa 25% leichte Symptome. Verläuft die Infektion ohne Beteiligung des zentralen Nervensystems (ZNS), bezeichnet man dies als Abortive Poliomyelitis. Nach einer Inkubationszeit von sechs bis neun Tagen treten bei 4 bis 8% der Infizierten kurzzeitig unspezifische Symptome auf, z. B. Fieber, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Übelkeit, Gastroenteritis oder Myalgien.

Liegt eine ZNS-Beteiligung vor, wird die nicht-paralytische Poliomyelitis (aseptische Meningitis) von der paralytischen Form unterschieden. Bei einer nicht-paralytischen Polio­myelitis kommt es etwa drei bis sieben Tage nach der abortiven Poliomyelitis zu Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen.

Die sogenannte paralytische Poliomyelitis tritt bei weniger als 1% aller Infektionen auf. Die Krankheit wird traditionell in spinale und bulbäre Typen eingeteilt, abhängig von der Stelle der betroffenen Motoneuronen. Die spinale Poliomyelitis beginnt mit Symptomen der Meningitis, gefolgt von schwerer Myalgie und lokalisierten sensorischen (Hyper­ästhesie, Parästhesie) und motorischen (Krämpfe, Faszikulationen) Symptomen. Nach ein bis zwei Tagen treten Schwäche und Lähmungen auf. Klassischerweise kommt es zu einer asymmetrischen, schlaffen Lähmung, die Bein- (am häufigsten), Arm-, Bauch-, Thorax- oder Augenmuskeln betreffen kann und nach 48 Stunden ihren Höhepunkt erreicht. Die Lähmungen bilden sich teilweise, aber nicht vollständig zurück.

Seltener tritt die bulbäre Form auf, die durch eine Lähmung der von den Hirnnerven innervierten Muskeln verursacht wird und zu Dysphagie, nasalem Sprechen, Sekretansammlungen und Atemnot führen kann. Aufgrund der Schädigung von zerebralen bzw. vegetativen Nervenzentren besteht hier eine schlechte Prognose.

In seltenen Fällen kann Polio als Enzephalitis auftreten, die klinisch nicht von anderen Ursachen einer viralen Enzephalitis zu unterscheiden ist. Die Sterblichkeitsrate bei einer akuten paralytischen Kinderlähmung liegt zwischen 5 und 15%.

Das Post-Polio-Syndrom ist durch das Einsetzen von Müdigkeit, Muskelschwäche und einer Zunahme von Paresen Jahre oder Jahrzehnte nach der akuten Erkrankung gekennzeichnet. Da die nicht-geschädigten Motoneurone nach schweren Erkrankungen fünf- bis zehnmal so viele Muskelzellen versorgen müssen wie beim Gesunden, geht man davon aus, dass es infolge chronischer Überlastung zu dieser progredient verlaufenden Muskelschwäche kommt [1, 3].

Auf einen Blick

  • Poliomyelitis ist eine durch Polioviren hervor­gerufene Infektionskrankheit.
  • Die Erkrankung verläuft oft symptomlos oder mit milden unspezifischen Symptomen.
  • Bei ZNS-Beteiligung kommt es zu schlaffen Lähmungen, die nicht vollständig reversibel sind.
  • Die Therapie erfolgt ausschließlich symptomatisch.
  • Die Impfung mit inaktivierten Polioviren gehört zur Standardimpfung der STIKO.

Vakzine zum Schlucken und Spritzen

Eine spezifische antivirale Therapie ist nicht verfügbar, sodass die Behandlung ausschließlich symptomatisch erfolgt. Je nach Verlauf sind nach der akuten Behandlung physio­therapeutische und orthopädische Therapien nötig [1].

Die Impfung gegen Polio gehört gemäß den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) zu den Standardimpfungen. Jeder Säugling sollte nach Vollendung des zweiten Lebensmonats eine Grundimmunisierung erhalten. Die Gabe von drei Impfdosen erfolgt gemäß Impfkalender im Alter von zwei Monaten, vier Monaten und elf Monaten [4]. Frühgeborene sollen aufgrund des noch nicht ausgereiften Immunsystems eine zusätzliche Dosis im Alter von drei Monaten erhalten. Zwischen den beiden letzten Gaben sollte generell ein Mindestabstand von sechs Monaten liegen. Die Auffrischung erfolgt im Alter zwischen neun und 16 Jahren. Eine routinemäßige Auffrischung im Erwachsenenalter wird nicht empfohlen. Lediglich Reisende in Regionen mit potenziellem Infektionsrisiko oder Länder, für die von der WHO temporäre Empfehlungen ausgesprochen werden, sollten eine Auffrischimpfung gemäß der jeweiligen aktuell geltenden Bestimmung erhalten. Ungeimpfte Erwachsene erhalten drei Impfungen zur Grundimmunisierung, sowie eine weitere Impfung zur Auffrischung. Bei Personen mit fehlender oder unvollständiger Immunisierung gegen Poliomyelitis, sollten die jeweils fehlenden Impfstoffdosen verabreicht werden. In Deutschland werden nur inaktivierte Poliovirus-Vakzine (IPV) von der STIKO empfohlen [1, 5].

Orale Polio-Impfstoffe (OPV) werden mit lebenden attenuierten Polio-Viren hergestellt, die bei etwa 1 von 2,7 Millionen OPV-Dosen zu impfstoffassoziierter paralytischer Polio (VAPP) führen können. VAPP wird durch einen Poliovirus-Stamm verursacht, der sich im Darm gegenüber dem ursprünglichen attenuierten Impfstamm genetisch verändert hat, der in oralen Polio-Impfstoffen enthalten ist.

Das Risiko für eine impfstoffassoziierte paralytische Polio besteht für den einzelnen anfälligen Impfstoffempfänger sowie für enge Kontaktpersonen [6]. Darüber hinaus kann es zum Auftreten von sogenannten circulating vaccine-derived polioviruses (cVDPV) kommen. Da nach oraler Gabe von Lebendviren diese mit dem Stuhl ausgeschieden werden, können durch Schmierinfektionen andere Personen infiziert werden. Diese entwickeln ebenso wie die geimpfte Person keine Symptome (da es sich um Impfviren handelt), sondern bauen selbst einen Schutz gegen die Erkrankung auf. Zirkulieren Impfviren jedoch lange in einer Bevölkerung mit niedrigem Impfschutz, können sie sich verändern und symptomatische Erkrankungen auslösen. Die WHO beabsichtigt daher orale Polio-Impfstoffe weltweit durch inaktivierte Poliovirus-Vakzine zu ersetzen. In Deutschland wird bereits seit 1998 kein oraler Polio-Impfstoffe mehr eingesetzt. Da eine Einschleppung von Polio-Wildviren und cVDPV durch Reiseverkehr und Migration nach Deutschland nicht ausgeschlossen werden kann, muss auch in Deutschland solange weiter gegen Polio geimpft werden, bis die Erkrankung weltweit völlig ausgerottet ist [5]. Zur Verfügung stehen sowohl Monoimpfstoffe als auch IPV-Kombinationsimpfstoffe, die mindestens zusätzlich vor Tetanus und Diphtherie schützen (s. Tab.). |

Tab.: Übersicht über in Deutschland zugelassene Polioimpfstoffe, nicht alle stehen bei uns zur Verfügung (nach [7]).
Impfstoff
schützt vor folgenden Krankheiten
Altersbeschränkung
Boostrix Polio
Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Poliomyelitis
ab drei Jahren
Hexacima
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Hepatitis B, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b
ab sechs Wochen
Hexyon
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Hepatitis B, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b
ab sechs Wochen
Imovax Polio
Poliomyelitis
ab drei Monaten
Infanrix hexa
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Hepatitis B, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b
beide ab zwei Monaten
Infanrix-IPV+Hib
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b
IPV Merieux
Poliomyelitis
ab drei Monaten
Pentavac
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b
ab zwei Monate
Poliovaccine SSI
Poliomyelitis
ab zwei Monaten
Repevax
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis
ab drei Jahren
Revaxis
Tetanus, Diphtherie, Poliomyelitis
ab fünf Jahren
Tetravac
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis
ab zwei Monaten
Vaxelis
Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Hepatitis B, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b
ab sechs Wochen

Literatur

[1] Poliomyelitis. RKI- Ratgeber. Stand 21. Mai 2021, Informationen des Robert Koch-Instituts, www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Poliomyelitis.html

[2] Poliomyelitis (Polio). Stand 27. Juli 2019, World Health Organization, www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/poliomyelitis

[3] Disease factsheet about poliomyelitis. European Centre for Disease Prevention and Control, Stand 15. September 2021, www.ecdc.europa.eu/en/poliomyelitis/facts

[4] Impfkalender der Ständigen Impfkommission 2022. www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Empfehlungen/Aktuelles/Impfkalender.pdf?__blob=publicationFile, erschienen am 27. Januar 2022

[5] Schutzimpfung gegen Poliomyelitis: Häufig gestellte Fragen und Antworten. Stand 10. Juli 2020, Informationen des Robert Koch-Instituts, www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/Poliomyelitis/FAQ-Liste_Poliomyelitis_Impfen.html#FAQId2407434

[6] Vaccine-associated paralytic polio (VAPP) and vaccine-derived poliovirus (VDPV) Factsheet. Stand Februar 2015, World Health Organization, www.who.int/docs/default-source/documents/gpei-cvdpv-factsheet-march-2017.pdf?sfvrsn=1ceef4af_2

[7] Poliomyelitis-Impfstoffe (Kinderlähmung). Informationen des Paul-Ehrlich-Instituts, www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/poliomyelitis-kinderlaehmung/polio-node.html;jsessionid=9CFA3CD340651775FB7162D8D1BE0E3C.intranet221?cms_tabcounter=0&cms_tabcounter=0#anchor

Autorin

Dr. Sabine Fischer ist Apothekerin aus Stuttgart. Seit dem Pharmaziestudium in Freiburg und einer Promotion in Tübingen arbeitet sie an der PTA-Schule und in öffentlichen Apotheken. Nebenbei schreibt sie als freie Journalistin.

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