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EU-Kommission: Krankenkassen unterliegen Vergaberecht

STUTTGART (hst). In dem Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Abschlüsse von Rabattverträgen ohne europaweite Ausschreibung liegt nun die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 6. Mai 2008 vor. Nach Auffassung der Kommission hat Deutschland gegen die EG-Vergaberichtlinie 2004/18/EG verstoßen. Dass die Krankenkassen dort im Anhang ausdrücklich als öffentliche Auftraggeber genannt sind, dürfte es für die Bundesregierung sehr schwierig machen, sich auf Dauer der Anwendung des Vergaberechts bei Rabattverträgen zu entziehen.

Mit der Stellungnahme hat die EU-Kommission die zweite Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet. Die Bundesregierung hat nun zwei Monate Zeit, den Forderungen der Kommission nachzukommen.

In der Stellungnahme setzt sich die Kommission ausführlich mit der Praxis beim Abschluss von Rabattverträgen und der im Vertragsverletzungsverfahren eingereichten Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 22. Februar 2008 auseinander.

Einrichtungen öffentlichen Rechts

Entgegen der Auffassung der deutschen Stellen seien die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland Einrichtungen des öffentlichen Rechts und damit öffentliche Auftraggeber im Sinne von Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18/EG, heißt es in dem Dokument. Sie seien gegründet worden, um eine im Allgemeininteresse liegende Aufgabe nicht gewerblicher Art – nämlich die Sicherstellung der Versorgung der Versicherten mit Gesundheitsleistungen – zu erfüllen.

Weiter führt die Kommission aus, die Krankenkassen würden überwiegend durch Pflichtbeiträge der obligatorisch Versicherten finanziert, deren Höhe sich allein nach dem Einkommen richte. Die Pflicht zur Leistungserbringung sei von der tatsächlichen Zahlung der Versicherungsbeiträge unabhängig, so dass diese nicht als eine spezifische Gegenleistung angesehen werden könnten. Die Festsetzung und Einziehung der Beiträge sei gesetzlich geregelt. Eine solche indirekte Finanzierung durch Zwangsbeiträge, die auf gesetzlicher Grundlage erhoben werden, sei als Finanzierung durch den Staat im Sinne von Artikel 1 Abs. 9 Unterabs. 2 Buchstabe c der Richtlinie 2004/18/EG anzusehen, stellt die Kommission fest.

Auch das Tatbestandsmerkmal der staatlichen Aufsicht hinsichtlich der Leitung sei erfüllt, meint die Kommission. Die Krankenkassen unterlägen entgegen der Darstellung der deutschen Stellen nicht nur einer bloßen Rechtsaufsicht. Vielmehr bestünden weitreichende Mitwirkungsvorbehalte und Weisungsbefugnisse der Aufsichtsbehörden, z. B. die Überprüfung der Geschäfts- und Rechnungsführung oder die Pflicht der Krankenkassen, den Haushaltsplan vorzulegen. Die Aufsichtsbehörde genehmige z. B. gemäß § 220 SGB V Vorstandsbeschlüsse über Beitragserhöhungen. Darüber hinaus bestünden im Rahmen des SGB V im Detail staatlich geregelte Verpflichtungen, die den Rahmen der Tätigkeiten der Krankenkassen festlegen.

Keine Substitutionsfreiheit für Apotheker

Auch der EuGH habe in früheren Entscheidungen festgehalten, dass die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland an der Verwaltung des Systems der sozialen Sicherheit mitwirkten. Besonders hebt die Kommission hervor, dass die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet sind, ihren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen anzubieten, die unabhängig von der Beitragshöhe seien. Die Krankenkassen haben nach Ansicht der Kommission somit keine Möglichkeit, auf diese Leistungen Einfluss zu nehmen.

Außerdem, so die Kommission, werde die Einordnung der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland als Einrichtungen des öffentlichen Rechts dadurch bestätigt, dass sie im Anhang III der Richtlinie 2004/18/EG ausdrücklich als Einrichtungen des öffentlichen Rechts aufgeführt seien.

Rabattverträge legten die Bedingungen für die Abgabe von Arzneimitteln im Hinblick auf die Auswahl des Lieferanten und des Arzneimittels sowie auf die von den Krankenkassen zu zahlenden Preise fest, führt die Kommission weiter aus. Die Verordnungsautonomie der Ärzte werde eingeschränkt. Ebenso sei eine Substitutionsfreiheit der Apotheker nicht erkennbar. Im Ergebnis wertet die Kommission den Abschluss von Rabattverträgen als Beschaffungsvorgänge, da nur noch Arzneimittel mit Rabattvertrag abgegeben werden könnten. Sie stellten damit Rahmenvereinbarungen im Sinne von Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2004/18/EG dar. Daher hätten die Krankenkassen als öffentliche Auftraggeber beim Abschluss von Rahmenvereinbarungen (Rabattverträgen) die Verfahrensvorschriften der Richtlinie in allen Phasen des Verfahrens zu beachten. Rahmenvereinbarungen seien daher grundsätzlich im offenen oder nicht offenen Verfahren mit europaweiter Ausschreibung zu vergeben. Der Abschluss von Rabattvereinbarungen ohne Durchführung dieser Verfahren verstoße gegen Art. 32 Abs. 2 der EG-Vergaberichtlinie, so das Fazit der Kommission.

Vergaberecht bietet kleinen Herstellern Schutz

Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) begrüßte den Standpunkt der Kommission und wertete das Dokument als überzeugend begründete Stellungnahme. Der BAH sieht seine Auffassung bestätigt, dass die gesetzlichen Krankenkassen öffentliche Auftraggeber sind und bei dem Abschluss von Rabattverträgen die Vorgaben des Kartellvergaberechts zu beachten haben. Das Vergaberecht biete durch die Vorgabe transparenter Rahmenbedingungen insbesondere kleinen und mittelständischen Unternehmen Schutz vor der Marktmacht der Krankenkassen.

In der Pressemitteilung über die Einleitung der zweiten Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens hatte auch die EU-Kommission ausdrücklich darauf verwiesen, dass die rechtswidrige Vergabepraxis der Krankenkassen kleine und mittlere Arzneimittelhersteller der Gefahr aussetze, dauerhaft vom Markt verdrängt zu werden.

Die Kommission hat die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 226 Abs. 1 EGV aufgefordert, binnen zwei Monaten die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit Rabattverträge künftig nur noch in Übereinstimmung mit der Vergabe-Richtlinie 2004/18/EG zustande kommen. Dies wäre möglich, indem die gesetzlichen Krankenkassen gesetzlich verpflichtet werden, Rabattverträge nur im offenen oder nicht offenen Verfahren mit europaweiter Ausschreibung zu vergeben. Sollte das – wovon Beobachter derzeit ausgehen – nicht erfolgen, kann die EU-Kommission den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anrufen.

Beim EuGH ist bereits seit Mai 2007 ein vom Oberlandesgericht Düsseldorf initiiertes Vorlageverfahren hinsichtlich der öffentlichen Auftraggebereigenschaft der gesetzlichen Krankenkassen anhängig. Die EU-Kommission sah keinen Grund, das Vertragsverletzungsverfahren bis zu einer Entscheidung in diesem Verfahren auszusetzen.

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