Arzneimittel und Therapie

Analgetika-Niere – bald nur noch Medizingeschichte?

Missbrauch von Analgetika kann zu terminaler Niereninsuffizienz führen, die eine Dialyse oder Transplantation erforderlich macht. Das war bis vor kurzem Lehrbuchmeinung. Insbesondere Kombinationen mit dem Phenacetin-Metaboliten Paracetamol standen im Verdacht, eine Analgetika-Nephropathie auszulösen. Doch über 20 Jahre nach dem Verschwinden Phenacetin-haltiger Präparate vom Markt lässt sich die Diagnose Analgetika-Nephropathie kaum noch stellen.

Die einfachen Analgetika, zu denen Salicylsäure, Pyrazolone und Phenacetin zählen, wurden Ende des 19. Jahrhunderts in die Therapie eingeführt. Schon bald danach wurde klar, dass Überdosierungen zu Funktionsstörungen der Nieren führen konnten. So lange sie als Monosubstanzen verwendet wurden, standen akute Komplikationen im Vordergrund.

Langzeitnebenwirkungen waren die Ausnahme. Die Situation änderte sich, als in den 1940er und frühen 1950er Jahren Analgetika zunehmend untereinander und mit Coffein kombiniert wurden. Der Analgetika-Konsum stieg und damit auch der Missbrauch. 1950, 1953 und 1955 wurden erstmals ungewöhnliche Formen von chronischer interstitieller Nephritis beschrieben und zunächst mit Sulfonamiden in Verbindung gebracht. Später stellte sich heraus, dass ein exzessiver Gebrauch von Phenacetin-haltigen Analgetika für die in der Dialysepflicht mündenden Nierenschäden verantwortlich war.

Hauptverdächtiger: Paracetamol

Der Verdacht lag nahe, dass auch andere Kombinationsan–algetika, insbesondere solche, die den Phenacetin-Metaboliten Paracetamol enthielten, ähnlich fatale Folgen für die Nieren haben könnten. Einige Experten sahen in Paracetamol durchaus den Hauptschuldigen. Aus der Phenacetin-Niere wurde daraufhin die Analgetika-Niere bzw. die Analgetika-Nephropathie. Im Focus der Warnungen standen Kombinationen aus

  • Phenacetin oder Paracetamol mit

  • Salicylaten oder anderen Substanzen wie Phenazon oder Pyrazolen und

  • Coffein, Codein oder Barbituraten.

Steigende Inzidenz ab 1950

Die Inzidenz der Analgetika-Nephropathie stieg seit den 1950er Jahren stetig an und erreichte um 1980 einen traurigen Höhepunkt. Mihatsch und Mitarbeiter führten damals in der Schweiz eine Nieren-Autopsiestudie durch und stellten fest, dass über 25 % aller Fälle von Niereninsuffizienz im Endstadium auf eine Analgetika-Nephropathie zurückzuführen waren. In Schweden war dagegen Phenacetin schon 1960 vom Markt genommen worden. Hier registrierte man zu diesem Zeitpunkt eine deutliche Abnahme der Analgetika-Nieren-Inzidenz.

20 Jahre später ...

In der Schweiz stehen Phenacetin-haltige Präparate seit 1983 nicht mehr zur Verfügung, in Deutschland wurde 1986 auf die Zulassung verzichtet. Dagegen waren und sind Paracetamol und Paracetamol-haltige Kombinationsanalgetika weiter frei erhältlich. Trotzdem wurde eine Abnahme der Analgetika-induzierten Nephropathien beobachtet. Grund genug, die alte Hypothese zu überprüfen. Mihatsch und seine Mitarbeiter haben erneut eine Autopsiestudie unter den gleichen Bedingungen wie 1980 durchgeführt und am Basler Institut für Pathologie zwischen November 2000 und Februar 2002 616 Autopsien vorgenommen.

Das Ergebnis war verblüffend. In keinem einzigen Fall konnten sie makroskopisch die für die Analgetika-Niere charakteristischen Papillennekrosen feststellen. Lediglich bei einer Patientin ließ sich histologisch eine klassische Analgetika-Nephropathie nachweisen. Sie hatte 14 Jahre vor ihrem Tod ein Nierentransplantat erhalten. Damit scheint mit der Marktrücknahme von Phenacetin Mitte der 1980er Jahre auch die klassische Analgetika-Niere nur noch historisch von Bedeutung zu sein. Paracetamol kann demnach nicht als Auslöser für die Nierenschäden in Frage kommen und auch der weit verbreitete Konsum von Kombinationsanalgetika wird nach diesen Ergebnissen nicht zu einer klassischen Analgetika-Nephropathie, die doch besser als Phenacetin-Niere zu bezeichnen ist, führen. Für die Phenacetin-Niere selber werden direkte toxische Eigenschaften anderer Metaboliten verantwortlich gemacht.


Quelle:
Mihatsch, J.M.; et al.: Obituary to analgesic nephropathy - an autopsy study. Nephrol. Dial. Transplant 1-7 (2006).


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Kommentar: Nachruf auf die Analgetika-Nephropathie


Die aktuelle Autopsie-Studie von Prof. Dr. Michael Mihatsch trägt den Titel "Obituary to analgesic nephropathy" – Nachruf auf die Analgetika-Nephropathie. Hier sein ganz persönliches Resümee:

Der Nachruf auf die Analgetika-Nephropathie war wirklich ein Nachruf. Die Analgetika-Nephropathie, wie wir sie vor 10, 20, 30 Jahren noch gekannt haben, gibt es nicht mehr. Diejenigen Patienten, die heute noch zur Autopsie kommen, sind Patienten, die über viele Jahre mit Dialyse bzw. Transplantation behandelt wurden. Das wichtigste Charakteristikum der klassischen Analgetika-Nephropathie und man muss hier besser sagen Phenacetin-Nephropathie, ist die Papillennekrose. Ich habe mich nur auf internationalen Druck hin dazu entschieden, seinerzeit von dem Begriff der Phenacetin-Niere abzuweichen und den der Analgetika-Nephropathie zu benutzen. Ich habe das etwas "contre coeur" gemacht, denn alle die Patienten, die eine klassische Analgetika-Nephropathie entwickelt haben, haben auch Phenacetinhaltige Analgetika eingenommen.

In der Spätphase war ich etwas besorgt, als das Phenacetin durch Par–acetamol in den Kombinationspräparaten ersetzt wurde, weil ich glaubte, Paracetamol könne ebenfalls eine nephrotoxische Wirkung im Zusammenhang mit Salicylaten haben. Doch die Erfahrung zeigt, dass diese Kombinationspräparate nicht zu der klassischen "Phenacetin-Niere" führen. Auch ist mir nicht bekannt geworden, dass Kombinationspräparate zu irgendeiner morphologisch eindeutigen Nephropathie führen würden. Was die nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAID) angeht, haben wir schon früher darauf hingewiesen, dass diese nicht zu einer klassischen Analgetika-Nephropathie/Phenacetin-Niere führen, sondern zu einer akuten interstitiellen Nephritis. Diese Nebenwirkung ist nicht vorhersehbar. Sie kommt bei einem Menschen vor, bei dem anderen nicht. Damit unterscheidet sich nicht nur die Klinik, sondern auch die Pathologie bei Nierenschädigung infolge moderner NSAIDs grundsätzlich von der Phenacetin-Niere. Bei der Phenacetin-Niere konnte man den Schaden voraussagen, das heißt, wenn ein Patient lange genug hohe Dosen eingenommen hat, dann hat er in der Regel auch einen Schaden entwickelt, bei NSAIDs ist das nicht der Fall.


Prof. Dr. Michael Mihatsch


Kommentar: ... bis zum Beweis des Gegenteils!


Analgetika-Missbrauch wird vor allem durch Kombinationsanalgetika gefördert und wenn es um die Gefahren des Analgetika-Missbrauchs geht, dann steht an erster Stelle die Analgetika-Nephropathie. So haben wir das zumindest seit über 20 Jahren immer wieder gehört, gelesen, geglaubt und wir haben, wie es unsere Pflicht ist, davor gewarnt. Die Hypothese klang ja auch so überzeugend, dass ein Infragestellen schon nahezu fahrlässig gewesen wäre. Denn die Phenacetin-Niere gab es nachgewiesenermaßen und wer wollte schon ausschließen, dass insbesondere der in vielen Kombinationsanalgetika enthaltene Hauptmetabolit von Phenacetin, das Paracetamol, in hohen Dosierungen und bei Dauergebrauch nicht die gleichen fatalen Folgen haben wird wie sein Ethylether.

Nun gibt es seit Mitte der 1980er Jahre keine Phenacetin-haltigen Analgetika mehr in Deutschland. Par–acetamol und entsprechende Kombinationsanalgetika standen jedoch trotz aller Kritik immer zur Verfügung und wurden und werden sicher nicht nur lege artis verwendet. Naheliegend war es in jedem Fall, zu prüfen, ob jetzt, Jahre nach der Phenacetin-Rücknahme, die in Verdacht stehenden Kombinations–analgetika dingfest gemacht werden können (s. Bericht). Das Ergebnis hat selbst Experten überrascht und lässt wenig Spielraum für Interpretationen: Die Analgetika-Niere hat es so nie gegeben, die Phenacetin-Niere ist ein Fall für die Geschichtsbücher und die entsprechenden Kapitel in den Lehrbüchern müssen neu geschrieben werden.

Ist das jetzt ein Freispruch für die Kombinationsanalgetika? Wohl nur, wenn es um die Analgetika-Nephropathie geht. Nach wie vor besteht Konsens, dass Analgetika-Missbrauch in erster Linie mit Kombinations- und kaum mit Monopräparaten betrieben wird. Und die Folgen des Missbrauchs haben viele Facetten. Erinnert sei nur an den Medikamenten-induzierten Kopfschmerz, der insbesondere durch analgetische Mischpräparate hervorgerufen werden soll bis zum Beweis des Gegenteils!


Doris Uhl

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