Arzneimittel und Therapie

Diabetes mellitus: Insulin glargin auf dem Prüfstand

Vor zwei Jahren kam mit Insulin glargin (Lantus®) das erste langwirksame Insulinanalogon auf den Markt. Vorteilhaft erscheint dessen im Vergleich zu humanem Basalinsulin gleichmäßigere Blutzuckersenkung über 24 Stunden. Studien zeigen eine verringerte Rate schwerer Hypoglykämien unter Lantus®. Harte Endpunktdaten, die einen größeren Nutzen von Insulin glargin in Bezug auf die Häufigkeit von Spätkomplikationen, den HbA1c-Wert oder die Lebensqualität belegen könnten, fehlen noch. Da die Insulinanaloga zur lebenslangen Therapie einer chronischen Erkrankung eingesetzt werden, muss neben der Kosten-Nutzen-Relation auch das Risikoprofil einer kritischen Überprüfung standhalten.

Insulin glargin ist ein rekombinantes Humaninsulin-Analogon, das gentechnisch unter Verwendung eines nicht pathogenen Escherichia coli-Stammes hergestellt wird. Durch zwei zusätzliche Arginin-Moleküle am N-terminalen Ende der B-Kette des Insulins verschiebt sich der isoelektrische Punkt von einem pH-Wert von 5,4 auf 6,7. Das natürliche Asparagin in Position A 21 der A-Kette wird durch die neutral geladene Aminosäure Glycin ersetzt, sodass eine stabile Hexamerform entsteht.

Im sauren Milieu der Ampulle (pH 4,0) ist Insulin glargin löslich. Nach der Injektion fällt es im neutralen Milieu des Subkutangewebes aus und bildet Mikropräzipitate, aus denen konstant geringe Mengen Insulin glargin freigesetzt werden. Zur besseren Kristallisation und für eine weitere Verzögerung des Wirkeintritts wird Insulin glargin eine geringe Menge Zink zugesetzt.

Immunsystem bleibt stumm

Die Strukturveränderung am Humaninsulinmolekül hat offenbar keinen Effekt auf die Immunreaktion. Bisher fanden sich keine Hinweise auf eine ausgeprägtere immunogene Reaktion auf Insulin glargin im Vergleich zu NPH-Insulin (Neutral Protamin Hagedorn, Verzögerungsinsulin). In einer 52-wöchigen Studie war der Anstieg der Antikörperspiegel in der NPH-Insulin-Gruppe sogar stärker als unter Insulin glargin. Auch hinsichtlich anderer unerwünschter Arzneimittelwirkungen wie Reaktionen an der Injektionsstelle, Schmerzen im Brust- und Magen-Darm-Bereich oder Schwächegefühl unterschied sich die Behandlung mit dem Insulin-Analogon nicht von der Therapie mit NPH-Insulin.

Insulin glargin versus konventionelle Therapie

Das Auftreten schwerer Hypoglykämien als gefürchtetste Nebenwirkung aller Insulintherapien sollte aufgrund des gleichmäßigeren Wirkprofils unter Insulin glargin reduziert sein. Dessen klinische Wirksamkeit in Bezug auf die glykämische Kontrolle im Nüchternzustand wurde in mehreren randomisierten, multizentrischen Studien mit Typ-1- und Typ-2-Diabetikern und einer Dauer zwischen 4 und 52 Wochen untersucht. Eine doppelte Verblindung war nicht möglich, da sich das klar gelöste Insulin glargin vom trüben NPH-Insulin optisch unterscheidet.

Als primärer Endpunkt der Studien wurde die bessere Blutzuckereinstellung anhand der mittleren Nüchternplasmaglucose und der mittleren Differenz der HbA1c-Werte bestimmt. Da der HbA1c-Wert Auskunft über den mittleren Blutzuckerspiegel der letzten zwei bis drei Monate gibt, ist er in kürzer laufenden Studien nicht aussagekräftig.

Fünf Uhr nachts höchste Gefahr für Hypoglykämien

Die Ergebnisse der bereits veröffentlichten Studien sind inkonsistent. Der HbA1c-Wert, der als wichtigster Endpunktparameter der Diabeteseinstellung gilt, konnte durch Insulin glargin im Vergleich zu konventionellem NPH-Insulin nicht signifikant gesenkt werden. Im Rahmen der 37. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft in Dresden stellte Dr. Fritsche von der Abteilung Endokrinologie, Stoffwechsel und Pathobiochemie des Universitätsklinikums Tübingen die Ergebnisse der noch nicht veröffentlichten "One Pill One Shut"-Studie vor.

Diese europaweite, multizentrische Studie mit über 4000 Typ-2-Diabetikern verglich die Wirksamkeit von Insulin glargin morgens bzw. abends mit NPH-Insulin abends, wobei in allen drei Armen zusätzlich morgens eine Tablette Glimepirid 3 mg genommen wurde. Nach 28 Wochen sank der HbA1c-Wert durchschnittlich in allen drei Gruppen von anfänglich 9,1% um ein Prozent. Der HbA1c-Unterschied zwischen NPH-Insulin abends (8,3%) und abendlicher Insulin-glargin-Gabe (8,1%) war nicht signifikant. Die Differenz um 0,4% zwischen NPH-Insulin und morgendlicher Insulin-glargin-Injektion war leicht signifikant.

Der nachgewiesene langsamere Blutzuckeranstieg und konstanterer Blutzuckerspiegel über 24 Stunden unter Insulin glargin korrelierte nicht mit einem durchschnittlich niedrigeren Risiko für Hypoglykämien. Eine signifikante Reduktion konnte nur beim Auftreten nächtlicher Hypoglykämien gezeigt werden.

Patienten, die unter konventioneller Insulintherapie mit abendlicher Gabe eines NPH-Insulins bereits eine solche lebensbedrohliche Komplikation erlitten haben, könnten von der Umstellung auf Insulin glargin profitieren. Es handelt sich dann um eine individuelle Therapieentscheidung des Arztes unter Risiko-Nutzen-Abwägung.

Nationale Versorgungsleitlinie empfiehlt konventionelle Insulintherapie

Eine generelle Empfehlung zur Umstellung insulinpflichtiger Diabetiker auf langwirksame Insulinanaloga kann zurzeit aufgrund evidenzbasierter Daten nicht gegeben werden. In der von der Bundesärztekammer, der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, der Deutschen Diabetes Gesellschaft, der Fachkommission Diabetes Sachsen, der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in diesem Monat herausgegebenen Nationalen Versorgungsleitlinie Diabetes Mellitus Typ 2 wird festgestellt, dass Wirksamkeitsbelege zur Risikoreduktion klinischer Endpunkte für Insulinanaloga nicht vorliegen.

Zu diesen Endpunktdaten zählt neben dem HbA1c-Wert die Häufigkeit von Spätkomplikationen. Daten, die eine Reduktion mikro- oder kardiovaskulärer Schäden belegen, gibt es bisher ebenso wenig wie aussagekräftige Studien zur verbesserten Lebensqualität von Diabetikern, die den wesentlich höheren Preis der Insulinanaloga rechtfertigen könnten.

Karzinogene Wirkung nicht auszuschließen

Die Sicherheit der Langzeitanwendung strukturell veränderter Insulinmoleküle ist noch nicht restlos aufgeklärt. Manche Strukturveränderungen am Insulinmolekül führen zu Veränderungen der Wechselwirkung mit den Rezeptoren für Humaninsulin und dem insulinartigen Wachstumsfaktor 1 (IGF-1). Die Entwicklung eines Insulinanalogons wurde abgebrochen, als sich im Tierversuch vermehrt Karzinome entwickelten. Vermutlich wird die Karzinogenese durch mitogene Effekt aufgrund einer erhöhten Affinität zu den IGF-1-Rezeptoren oder durch eine längere Bindung am Insulinrezeptor hervorgerufen.

Insulin glargin zeigt in vitro eine 6,5fach erhöhte Affinität zum IGF-1-Rezeptor, aber eine um 50% erniedrigte Affinität zum Insulinrezeptor. Im Tierversuch wurde nach Gabe von Insulin glargin über 24 Monate kein Anstieg beim Mammakarzinom registriert. Ob hier das potenzielle karzinogene Risiko durch die schnellere Dissoziation vom Insulinrezeptor ausgeglichen wird, ist noch nicht bekannt. Die europäische Zulassungsbehörde EMEA hat einen Entwurf für geeignete Verfahren zur Langzeitbeurteilung des karzinogenen Potenzials von Insulinanaloga vorgelegt.

Mikrovaskuläre Komplikationen beobachten

Die erhöhte Affinität zu IGF-1-Rezeptoren könnte sich auch negativ auf die Entwicklung der diabetischen Retinopathie auswirken. Eine retrospektive Analyse klinischer Daten ergab einen signifikanten Anstieg von Makulaödemen, eine Studie wies die Progression der diabetischen Retinopathie um mehr als drei Stufen nach.

Eine neuere Studie, die diesen Befund widerlegen könnte, ist aufgrund zu geringer Probandenzahlen nicht aussagekräftig. Auch hier muss die Anwendungssicherheit durch Langzeitstudien gesichert werden, bevor Insulin glargin Eingang in die evidenzbasierte, rationale Behandlung der Volkskrankheit Diabetes mellitus finden kann.

Kastentext

Internet-Adressen zu den neuen Diabetes-Leitlinien www.leitlinien.de www.akdae.de www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de

Quelle

Prof. Dr. Dr. H.G. Joost, Deutsches Institut für Ernährungsforschung, Berlin; Dr. A. Fritsche, Universitätsklinik Tübingen, 37. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft "Lantus® – Was kann das neue Insulinanalogon", Dresden, 8. Mai 2002, veranstaltet von Aventis Pharma GmbH.

Vor zwei Jahren kam mit Insulin glargin (Lantus®) das erste langwirksame Insulinanalogon auf den Markt. Vorteilhaft erscheint dessen im Vergleich zu humanem Basalinsulin gleichmäßigere Blutzuckersenkung über 24 Stunden. Harte Endpunktdaten, die einen größeren Nutzen von Insulin glargin in Bezug auf die Häufigkeit von Spätkomplikationen, den HbA1c-Wert oder die Lebensqualität belegen könnten, fehlen noch. Da die Insulinanaloga zur lebenslangen Therapie einer chronischen Erkrankung eingesetzt werden, muss neben der Kosten-Nutzen-Relation auch das Risikoprofil einer kritischen Überprüfung standhalten.

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