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Blick in die Zukunft: Zwei konträre Szenarien

BÜHL (im). Der Umsatz mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird in den kommenden Jahren unterdurchschnittlich wachsen, während die Selbstmedikation (SM) überdurchschnittlich zulegen wird. Dies schätzten Dr. Christoph von Rothkirch und Silvia Wieseler von der Unternehmensberatung Prognos auf einer Veranstaltung des Unternehmens SmithKline Beecham am 15. Mai in Bühl. Dort skizzierten sie zwei extreme Szenarien - das dynamische, das auf die Eigenverantwortung des Einzelnen setzt, und das bewahrende, solidarische System - welche Denkanstöße für künftige Entwicklungen geben sollten.

In der Grundsatzstudie, die die Prognos-Mitarbeiter im Auftrag von SmithKline Beecham erarbeiteten, wird ein Wachstum des Arzneimittelmarktes auf rund 70 Milliarden Mark bis zum Jahr 2010 erwartet. Dabei werde der GKV-Sektor mit dann 54,7 Milliarden Mark Umsatz größter Bereich bleiben, aber nicht so schnell wachsen wie der Selbstmedikationsmarkt mit seinem Umsatzvolumen von dann 14,7 Milliarden Mark. In der Prognos-Studie werden zur Selbstmedikation neben den OTC-Präparaten nichtapothekenpflichtige Arzneimittel und "Gesundheitsmittel" wie Nahrungsergänzungsmittel gezählt. Einen Anstieg werde es bei den Selbstkäufen aufgrund der Mitbehandlung etwa von Herz-Kreislauferkrankungen geben oder zur Prävention, um das Wohlbefinden zu steigern. Veränderte Lebensgewohnheiten im privaten und beruflichen Bereich werden zum Beispiel ein Wachstum bei den Schlaf- und Beruhigungsmitteln bewirken. Nach Ansicht der Marktforscher bleibt die Apotheke 2010 der zentrale Ort zur Abgabe von Selbstmedikationspräparaten, wird aber mit dann 89 Prozent Anteil einen minimalen Abstrich gegenüber heute (90 Prozent) hinnehmen müssen. Drogeriemärkten wird im gleichen Zeitraum ein leichtes Wachstum von sieben auf neun Prozent prognostiziert, den großen Verbrauchermärkten jedoch ein leichter Verlust von drei auf zwei Prozent. Versandhandel und Bestellung über das weltweite Computernetz Internet tauchen in der Vorhersage nicht auf, da sie heute verboten sind.

Was beeinflußt die Zukunftsszenarien? Parameter für die Entwicklung von Zukunftsszenarien sind die Globalisierung, die neue Absatzmärkte schafft, der sich fortsetzende Strukturwandel und zunehmender Wettbewerb in einem größer werdenden Europa, in dem die Osterweiterung eine wichtige Frage wird. Von Rothkirch und Wieserer erinnerten an die Bedeutung der demographischen Entwicklung, da 2010 mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung älter als 60 Jahre sein wird. Die Morbiditätsrate steigt demnach, das Spektrum von Krankheiten verschiebt sich hin zu chronisch-degenerativen, "zivilisatorischen" Krankheiten, für die krankmachende Lebensstile sowie Umweltbelastungen ursächlich sind. Bei der Bekämpfung von Krankheiten gewinnen neue Technologien wie minimalinvasive Chirurgie, bildgebende Verfahren sowie der Ersatz von Körperorganen ebenso an Bedeutung wie das Genom-Projekt, da die Erforschung der Erbanlagen konkrete Behandlungsansätze erlaube. Aufgrund der enormen Verfügbarkeit von Wissen für Experten und Laien benötigen beide Gruppen Hilfe bei der Informationsspeicherung.

Gesundheit an zentraler Stelle Weiterhin werde Gesundheit einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaft einnehmen, wobei eine risikoarme Selbstmedikation akzeptiert wird. Prävention gewinnt noch mehr als bisher an Bedeutung, aber auch Wellness und Genuß.

Das dynamische Szenario (A) Dr. von Rothkirch und Wieseler skizzierten zwei polarisierte mögliche Szenarien der Zukunft. Variante A sieht Deutschland aktiv die Globalisierung angehen, mit Erfolgen in der Wissenschaft. Nach dem Steuerungsprinzip Marktwirtschaft findet Wirtschaftswachstum statt mit einem individuellen Wohlstandswachstum als Folge. Bestehende Ungleichheiten werden nicht ausgemerzt, Solidarität ist hier gleichbedeutend mit der Einhaltung von Gesetzen und privatem Engagement, die staatliche Grundsicherung ist auf einem minimalen Niveau. Das Bruttoinlandsprodukt (der Wert aller in Deutschland produzierten Güter) steigt in diesem Szenario deutlich, bis zum Jahr 2000 um jährlich 1,9 Prozent, bis 2005 um 2,1 und bis 2010 um 2,3 Prozent. Das verfügbare Einkommen in der Bevölkerung nimmt in dem Zeitraum um ein Drittel gegenüber 1995 zu, verbunden mit Mehrausgaben für die Gesundheit durch die privaten Haushalte. Günstige Auswirkungen auf die hohe Arbeitslosigkeit sind demnach jedoch nicht zu erwarten, sie könnte 2010 bei etwa 3,7 Millionen liegen. In diesem Szenario, das auf Selbstverantwortung setzt, ist die Gesundheitsversorgung in ihren Kernbereichen harmonisiert. Es besteht eine Pflichtwahl zur Grundabsicherung, an der sich auch die Arbeitgeber nur noch beteiligen. Darauf aufsetzend decken die im Wettbewerb stehende GKV und private Krankenversicherung (PKV) weitere Risiken ab. Bei unterschiedlich abgesicherten Versicherungsniveaus gibt es finanzielle Anreize für gesundheitsförderndes Verhalten, insgesamt werden hohe Anforderungen an den mündigen Bürger gestellt. Denkbar neben einer Vielfalt von Versorgungsformen sind Managed-Care-Modelle wie Health Maintenance Organizations (HMO), ein Franchise-System von Krankenkassen oder anderen, mit angestellten oder selbständigen Ärzten. Einzelpraxen wären dann für Komfort- oder Spezialangebote zuständig. Bei effizienter Gesundheitsversorgung spielt der Qualitätssicherungswettbewerb eine große Rolle. Die Finanzierung durch die öffentlichen Haushalte steigt wegen des zurückgenommenen Einflusses des Staates unterdurchschnittlich bis 2010 an. Zugleich wenden die privaten Haushalte deutlich mehr für Gesundheit auf. Die Liberalisierung beläßt nur die rezeptpflichtigen Arzneimittel in der Apotheke, alle übrigen sind freiverkäuflich. Da Hersteller und Handel im freien Wettbewerb stehen, bleiben neben globalen Multis nur einzelne große Mittelständler in Nischen bestehen. Die Selbstmedikation wird für Nicht-Arzneimittelhersteller interessant, der Großhandel verliert seine klassische Position. Bei diesem Szenario fällt das Verbot von Fremd- und Mehrbesitz, eine Vielzahl von Vertriebsformen ist die Folge, die Zahl der Apotheken nimmt allerdings deutlich ab. Die verbliebenen Offizinen wandeln sich zum Beispiel zu Gesundheitszentren. Die Selbstmedikation steigt besonders stark bei den "jungen Alten" (über 60 Jahre), die in Wellnessprodukte investieren, kleinere Gesundheitsstörungen selbst behandeln oder auf ärztliche Empfehlung ein Präparat kaufen. Für die Alten (über 80 Jahre) steigt besonders die gesetzliche Zuzahlung. Insgesamt können OTC- und freiverkäufliche ihre Anteile mehr als verdoppeln. Hier handelt es sich um echte Marktzuwächse. Das Wachstumspotential ist größer als bei Szenario B, aber die Herausforderungen auch, die soziale Ungleichheit wächst in dieser Zukunftsprojektion. Für die Pharmazeuten ist bedeutsam, daß bei Abnehmen ihrer klassischen Rolle auch Chancen im System bestehen, sie müssen sich als der Ansprechpartner in Arzneifragen positionieren, Zielgruppen müssen gezielt angesprochen werden. Letzteres gilt auch für die Verbrauchermärkte, Drogerien und den Lebensmitteleinzelhandel, welche offensive Vermarktungsstrategien fahren sollten.

Szenario B: Bewahrung und Solidarität In dieser Projektion ist Deutschland auf Besitzstandswahrung bedacht, der regulierende Staat sichert die soziale Marktwirtschaft, da Ziele Wirtschaftswachstum und soziale Chancengleichheit sind. Das Bruttoinlandsprodukt zeigt im Gegensatz zu "A" eine Wachstumsschwäche, nur um 1,2 Prozent steigt die Produktionsleistung bis 2010. Höhere Arbeitslosigkeit mit rund 5 Millionen Jobsuchenden ist die Folge. Die GKV wird Pflichtversicherung für alle Arbeitnehmer und Beamte, die PKV ist lediglich für Selbständige oder für Zusatzversicherungen zuständig. Bei einheitlichem Leistungskatalog, der zudem eingegrenzt wird, findet praktisch kein Wettbewerb der Krankenkassen untereinander statt, das Anspruchsdenken der Patienten bleibt unverändert. Einzelpraxen dominieren bei einer insgesamt gesunkenen Zahl an Medizinern, mehr Selbstbeteiligung bei allen Leistungen wird eingeführt. Die Beitragssätze bleiben auf hohem Niveau, Leistungsanreize werden nicht gegeben, die Qualität der Behandlung sinkt. Der enge Rechtsrahmen wird nicht liberalisiert, es gibt eine nationale Vertriebsregelung, alle Arzneimittel werden ausschließlich in Apotheken abgegeben. Die Arzneimittelpreisverordnung (AMpreisV) bleibt, die Positivliste kommt, die Zuzahlungen der Patienten steigen stark bei den "Etablierten", die die größte Gruppe unter den Versicherten ausmachen, sowie bei den "Jungen Alten" und den Alten. Im begrenzten Markt für Unternehmen und Handel existieren neben globalen Multis viele Mittelständler. Dem Großhandel verbleiben die klassischen Aufgaben, allerdings findet weitere Konzentration in der Branche statt. Da die Apotheken durch die AMpreisV vom Staat geschützt werden, dadurch aber auch von ihm abhängig sind, findet der Wettbewerb nur intern im Berufsstand wegen der abnehmenden Zahl an Offizinen statt. Die Handelsspanne sinkt. Die "Gesundheitsmittel" wie Nahrungsergänzungsmittel überlassen sie dem Lebensmitteleinzelhandel oder Verbrauchermärkten. Die Selbstmedikation kann nur im Rahmen des Einkommenszuwachses steigen, sie ist häufig erzwungen durch Selbstbeteiligungen bei Arzneimitteln, bietet kaum reale Zuwächse.

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