Bericht

Fachliteratur des Apothekers: Pharmaziehistorische Biennale 98 in Ulm

Daß der Apotheker bestimmte Bücher zur Ausübung seines Berufs benötigt oder daß er mit ihrer Hilfe seinen Beruf besser ausüben kann, diese Erfahrungen sind jahrhundertealte und lassen sich sogar bis in die Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks zurückverfolgen. Umfang und Inhalt, Quantität und Qualität der apothekenrelevanten und apothekenspezifischen Fachliteratur unterlagen im Laufe der Jahrhunderte zahlreichen Wandlungen. Diese Entwicklung in großen Zügen aufzuzeigen und zu diskutieren war das Ziel der Pharmaziehistorischen Biennale 98, die vom 24. bis 26. April in Ulm stattfand und an der etwa 150 Personen teilnahmen.

Grußworte Dr. Klaus Meyer aus Oelde eröffnete in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (DGGP) die Tagung. Den Apothekerkammern und -verbänden bot er an, daß die DGGP sich in Zukunft an deren Fortbildungsveranstaltungen beteiligen wolle. Die Fachhistoriker seien dazu berufen, den Kollegen in Erinnerung zu rufen und immer wieder bewußt zu machen, daß ihr Beruf in einer bestimmten Ethik wurzele. In Anspielung auf die aktuelle Diskussion über die "Beratungsecke" in der Apotheke meinte Meyer, daß Apotheker doch schon immer über Arzneimittel beraten hätten. Das dafür erforderliche Wissen bezogen sie aus Arzneibüchern, Arzneimitteltaxen, aus pharmazeutischen Lehr- und Handbüchern, Fachzeitschriften und anderer Literatur. Aufgabe des Kongresses sei es, dieses Spektrum an Fachliteratur in seinem jeweiligen historischen Kontext und im Hinblick auf die Art der praktischen Berufsausübung zu untersuchen. Prof. Dr. Peter Dilg aus Marburg, Vorsitzender der DPhG-Fachgruppe "Geschichte der Pharmazie", erinnerte daran, daß die Forderung nach Fachliteratur in der Apotheke älter ist als der Buchdruck: Schon vor 450 Jahren empfahl der italienische Mediziner Saladin von Ascoli in seinem "Compendium aromatariorum" (um 1448), einem Leitfaden sowohl für die pharmazeutisch-praktische Tätigkeit als auch für das ethische Verhalten des Apothekers, daß dieser sechs Fachbücher besitzen sollte.

Die fünfte "Säule der Pharmazie" Der Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, Prof.Dr. H.P.T. Ammon, bekannte sich in seiner Ansprache zur Pharmaziegeschichte als integralem Bestandteil der pharmazeutischen Wissenschaften. Sein Vorvorgänger im Amt, Rudolf Schmitz, habe die Pharmaziegeschichte - ergänzend zur Pharmazeutischen Chemie, Pharmazeutischen Biologie, Pharmazeutischen Technologie und Pharmakologie - mit Recht als fünfte Säule der Pharmazie bezeichnet. Wenn an einem pharmazeutischen Institut oder Fachbereich einer Universität keine Pharmaziegeschichte gelehrt wird, sei dies ein Defizit. Die DPhG werde sich daher entschieden für den Erhalt der Pharmaziegeschichte in Forschung und Lehre einsetzen. Geschichte sei nicht nur die Wurzel eines jeden Volkes, sondern auch jeder Wissenschaft. Sie sei eine Quelle von Anregungen für aktuelle Forschungen und damit auch zum Fortschritt des ganzen Faches. So könne die Auseinandersetzung mit dem traditionellen Arzneischatz zur Entwicklung neuer Arzneimittel führen. Ein Beispiel dafür sei der einst unter dem Namen "Olibanum" offizinelle Weihrauch, der seit einigen Jahren aufgrund seiner interessanten pharmakologischen Wirkungen Gegenstand intensiver Forschungen ist. Daß jeder Pharmazeut im Laufe der Zeit einem ständigen Wandel der Berufsausübung unterworfen ist und damit selbst Geschichte erlebt, verdeutlichte Ammon am Beispiel der Arzneitherapie des hohen Blutdrucks. Anfang der 50er Jahre wurde Reserpin, ein Inhaltsstoff der in Südasien traditionell arzneilich verwendeten Schlangenwurzel (Rauwolfia), als Antihypertonikum eingeführt. In den 60er Jahren folgten Calciumantagonisten, Betablocker und Clonidin, in den 80er Jahren ACE-Hemmer und neuerdings Aniotensin-II-Rezeptorantagonisten - alles in allem ein rasanter Fortschritt. Auch die Präsidenten der Apothekerkammer und des Apothekerverbandes von Baden-Württemberg, Dr. Christoph Beck und Dr. Günter Theurer, bekundeten durch ihre Anwesenheit ihren Einsatz für die Pharmaziegeschichte. Beck führte aus, daß auch die Standespolitik in die Berufsgeschichte eingebunden sei und daß die aktuelle Politik die "Geschichte von morgen" sei.

Ulmer Apotheker Als Organisator der Tagung gab Prof.Dr. Armin Wankmüller, Tübingen, einen Überblick über die 650jährige Apothekengeschichte Ulms. Die ersten Apotheker übten ihren Beruf nur befristet aus und zogen danach häufig in eine andere Stadt. Aufgrund dieser Mobilität ist das Schicksal vieler Apotheker ungeklärt. Rätsel gibt auch die Apothekerin Margareta auf, deren Sandstein-Epitaph von 1383 im Ulmer Münster aufgestellt ist. 1491 erließ der Rat der Stadt eine Art Apothekengesetz mit einer Taxe, die vielen anderen schwäbischen Städten als Vorbild diente. Eine alte Klosterapotheke in der Stadt verschwand mit der Reformation. Andererseits siedelten sich wegen ihres protestantischen Glaubens vertriebene Apotheker in Ulm an, z. B. Villinger und Zeämann. Immer wieder sind einzelne Ulmer Apotheker durch ihr unternehmerisches, kulturelles oder kommunalpoltisches Engagement hervorgetreten. Genannt sei Karl Hermann Wacker (1837-1908), der die Trinkwasserversorgung und das Feuerlöschwesen von Grund auf neu organisierte.

Arzneibücher Das Arzneibuch darf als die älteste und bis heute ununterbrochen bestehende Gattung der pharmazeutischen Fachliteratur gelten. Seine Wurzeln gehen in die Antike zurück und hängen unmittelbar mit der Arzneimitteltherapie zusammen. Die griechischen Wörter "pharmakon" (Gift, Arneimittel) bzw. "Pharmazeutik" als Kunst der Arzneimittelherstellung haben interessanterweise kein Pendant im Lateinischen und wurden deshalb von den Römern als Fremdwörter übernommen. Der römische Enzyklopädist Celsus bezeichnete die Pharmazeutik als "rechte Hand" der praktischen Medizin, die Chirurgie entsprechend als "linke Hand". Mit dem Zerfall des Römischen Reiches setzte im Abendland ein Schwund an Fremdsprachenkenntnissen ein, der zur Folge hatte, daß im 11. und 12. Jahrhundert in Süditalien, unmittelbar vom arabischen Kulturkreis beeinflußt, eine neue medizinische Fachsprache entwickelt wurde. Neben der pharmazeutischen Rezeptliteratur entstanden Werke zur Drogenkunde, zur Pharmakologie und Synonymenverzeichnisse. Die Pharmakopöe als amtliches Arzneibuch ist eine humanistische Neuschöpfung. Während die Pharmakopöen anfangs noch Hinweise zur Rezeptur und zur Indikation enthielten, entwickelten sie sich im Laufe der Zeit zum reinen Analysenbuch. Im Barockzeitalter machten sich keineswegs alle Staaten die Mühe, eine eigene Pharmakopöe einzuführen. Insofern spielten auch nicht-amtliche Werke damals eine große Rolle in der Pharmazie. Die "Pharmacopoeia medico-chymica" des Frankfurter Stadtarztes Johann Schröder, die 1641 erstmals in Ulm erschien, erfreute sich etwa 100 Jahre lang in verschiedenen Bearbeitungen großer Beliebtheit. Manchmal war es allerdings auch eine Frage des Prestiges, daß selbst Kleinstaaten eine Landespharmakopöe erarbeiten und drucken ließen. So erschien 1779 die erste und einzige Braunschweiger Pharmakopöe nach einer rund 30jährigen Vorbereitungszeit im Druck. Der dafür getriebene Aufwand stand in keinem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen, weil das Werk bei seiner Publikation bereits inhaltlich überholt war.

Allgemeine Lehrbücher Solange der Apothekerberuf eine "Kunst", ein gehobenes Handwerk war, bedurfte es zur Ausbildung des Nachwuchses keiner gesonderten Literatur. Apothekerlehrlinge lernten während ihrer praktischen Ausbildung auch diejenigen Bücher zu benutzen, die der Apotheker bei seiner Arbeit zu Rate zog. Ein neues Zeitalter begann mit dem "Lehrbuch der Apothekerkunst" von Karl Gottfried Hagen (zuerst 1778). Es folgten u. a. das "Apothekerlexikon" von Samuel Hahnemann (ab 1793), die "Apothekerschule" von Johann Bartholomäus Trommsdorff, einem Meister der Didaktik (1803), sowie später "der Schlickum", "der Mylius" und schließlich als letzter großer Vertreter dieser Literaturgattung der "Apothekerpraktikant" von Fischer, Kaiser und Zimmermann. Gemäß der Änderung der Approbationsordnungen richteten sich diese Werke sukzessive vornehmlich an Lehrlinge, Gehilfen bzw. Praktikanten und waren den letzteren meistens auch noch während des Studiums und bei der Vorbereitung auf das Staatsexamen von Nutzen. Seitdem die praktische Ausbildung nicht mehr vor, sondern erst nach dem Studium erfolgt, verschwanden diese umfassenden Lehrbücher zugunsten von Lehrbüchern für die einzelnen pharmazeutischen Fächer.

Spezielle Lehrbücher Schon im 19. Jahrhundert befaßte sich der Apotheker mit wissenschaftlicher Literatur, die oft über die pharmazeutische Praxis hinausging. Ein solches Spezialgebiet, das zwischen Pharmazie und Botanik angesiedelt war, war die Pharmakognosie. Der praktische Nutzen dieser Wissenschaft bestand darin, daß der Apotheker in die Lage versetzt wurde, Verwechslungen bzw. Verfälschungen von Arzneidrogen zu erkennen. Dabei waren anatomische und morphologische Kriterien maßgebend, nicht aber analytische Techniken, deren Anwendung damals in den Bereich der Pharmazeutischen Chemie bzw. der wissenschaftlichen Pharmazie im engeren Sinne fiel. Inhalt und Ausstattung der pharmakognostischen Lehrbücher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts - genannt seien diejenigen von Wiggers, Schleiden, Wigand, Flückiger, Arthur Meyer und Karsten - waren recht unterschiedlich, weil die Autoren bei den Benutzern teils bestimmte Kenntnisse oder aber die parallele Benutzung anderer Werke voraussetzten.

Zeitschriften und Handbücher Etwa zeitgleich mit Hagers "Lehrbuch" entstanden auch die ersten pharmazeutischen Fachzeitschriften, die sich sowohl an Ärzte als auch an Apotheker richteten. Sie fanden gerade bei fortbildungswilligen Apothekergehilfen größtes Interesse und boten ihnen auch ein Podium zur Publikation eigener Forschungen - so gab der damalige Apothekergehilfe Sertürner 1805 in Trommsdorffs "Journal der Pharmacie" seine Entdeckung des Morphins bekannt. Da die Fachzeitschriften in pharmazeutischen Lesevereinen kursierten, war ihre Bedeutung noch größer, als sich aufgrund ihrer Auflagenhöhe erwarten ließe. In den 1820er Jahren existierten im deutschsprachigen Raum acht bis neun pharmazeutische Periodika. 1832 begründete Justus Liebig zusammen mit den Apothekern Philipp Lorenz Geiger und Rudolf Brandes die "Annalen der Pharmacie" und leitete damit eine Bereinigung des Marktes ein. "Liebigs Annalen" mutierten bald zu einem Fachblatt der Organischen Chemie und bestanden unter diesem Namen bis Ende 1997. Ein in mancher Hinsicht singuläres Werk war das "Handbuch der pharmazeutischen Praxis" von Hermann Hager (ab 1876). Obwohl Hager der einzige Verfasser war, hatte er sein Handbuch als Nachschlagewerk konzipiert, das über alle theoretischen Grundlagen und praktischen Anwendungen, die in ihrer Gesamtheit die Pharmazie ausmachen, erschöpfend Auskunft gibt. Dem Konzept ist bis in die Gegenwart ein Erfolg beschieden gewesen, zumal ein ständig wachsendes Herausgeber- und Autorenteam in der Lage war, Umfang und Inhalt des Werkes dem Wachstum der pharmazeutischen Wissenschaften immer wieder anzupassen. Referate über die Bibliotheken einzelner Apotheker und über die Fachliteratur der Krankenhausapotheken im Wandel der Zeit rundeten das wissenschaftliche Programm der Pharmaziehistorischen Biennale in Ulm ab.

Rahmenprogramm Einen nachhaltigen Eindruck von der Geschichte der Reichsstadt Ulm erhielten die Pharmaziehistoriker während einer Führung durch die Innenstadt, die auch den Besuch des Münsters einschloß. Bis auf die Engel-Apotheke sind 1944 alle alten Apothekengebäude zerstört worden. Erhalten blieb auch das Doppelhaus, das bis 1900 die Kron-Apotheke beherbergt hatte; eine an der Fassade angebrachte Gedenktafel erinnert an einen von Ulms bedeutendsten Apothekern, an Gustav Leube, den Begründer der südwestdeutschen Zementindustrie. Im Chor des Ulmer Münsters befindet sich, vom Altar halb verdeckt, ein Sandstein-Epitaph für die Apothekerin Margareta aus dem Jahr 1383, deren Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse noch nicht restlos geklärt sind. Von der Vormacht der Patrizier künden viele Wappenschilde und einige Fresken im Münster. Oberbürgermeister Ivo Gönner, der selbst aus einer Apothekerdynastie stammt, skizzierte bei einem Empfang im historischen Rathaus den Wandel Ulms von der Reichsstadt zur württembergischen Garnisons-, Beamten- und Industriestadt des 19. Jahrhunderts und nun in der Gegenwart zur Wissenschaftsstadt, in der Universität und junge Unternehmen eine zukunftsträchtige Symbiose eingegangen sind. Zum Ende der Pharmaziehistorischen Biennale besuchten die Pharmaziehistoriker das ehemalige Kloster Wiblingen, dessen spätbarocke Bauten einen Teil der Ulmer Universitätsbibliothek beherbergen. Die Deckenfresken der ehemaligen Klosterbibliothek zeigen in einer Gegenüberstellung die antike (heidnische) und die christliche Wissenschaft, während lebensgroße Plastiken die einzelnen Wissenschaften repräsentieren. Sanft, aber bestimmt hindert eine junge Dame, die Allegorie der Geschichtswissenschaft, den alten Gott Chronos daran, eine Seite aus dem Buch der Geschichte herauszureißen. Was für die Geschichte im allgemeinen gilt, das gilt auch speziell für die Pharmaziegeschichte. Sie ist der Wahrheit verpflichtet, sie sichert die Quellen und bemüht sich um eine objektive Interpretation der Fakten. Die nächste Pharmaziehistorische Biennale soll in zwei Jahren in Leipzig stattfinden. Zuvor, im Herbst 1999, richtet die Internationale Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (IGGP), die Dachorganisation mehrerer nationaler Gesellschaften, in Florenz den nächsten Internationalen Kongreß für Geschichte der Pharmazie aus. Bei dieser Gelegenheit will sich die IGGP neu konstituieren.

Referate zum Generalthema hielten Dr. Gabriele Beisswanger, Hildesheim; Sabine Bernschneider-Reif, Marktrodach; Prof.Dr. Christoph Friedrich, Greifswald; Dr. Axel Helmstädter, Dreieich; Andrea Kanold, Bad Dürkheim; Dr. Barbara Rumpf, Marburg; Dr. Ulrich Stoll, Marburg; Andreas Winkler, Innsbruck; Gisela Wurm, Essen.

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