Arzneimittel und Therapie

Orphan Diseases: Die Waisenkinder des Medizinbetriebs

Die Zeitenwende begann 1962 mit der Contergan-Katastrophe. Während man den Umgang mit Arzneimitteln vorher mit einiger Berechtigung als eher lax bezeichnen konnte, wurden die Sicherheitsmaßnahmen in der Zeit "nach Contergan" von Jahr zu Jahr weiter verschärft. Dies führte auf der einen Seite zu einer deutlich verbesserten Arzneimittelsicherheit - auf der anderen Seite verteuerte sich die Arzneimittelentwicklung aber so sehr, daß von der Pharmaindustrie alle jene Entwicklungsprojekte auf Eis gelegt werden mußten, die keine hohen Umsätze versprachen. Dies traf insbesondere auf Arzneimittel für seltene Erkrankungen zu, sogenannten Orphan Diseases (orphan: Waisenkind, diseases: Krankheiten).

Von den 30000 Krankheiten, die die moderne Medizin kennt, sind etwa 4000 bis 5000 so extrem selten, daß den unter diesen Gesundheitsstörungen leidenden Individuen selbst in den wohlhabenden modernen Industriestaaten nicht die Hilfe zuteil wird, die nach dem Stand der Wissenschaft möglich wäre und die in der jeweiligen Gesellschaft ansonsten Standard ist.

Seltene Leiden Werden Leiden wie das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, das Rett-Syndrom, das Cornelia-de-Lange-Syndrom, die Amyotrophe Lateralsklerose und die Gaucher-Krankheit von Betroffenen oder deren Familienangehörigen und Freunden erwähnt, so lösen diese Begriffe selbst bei vielen Ärzten fragende Blicke aus.

EU-weite Regelung notwendig Im Gegensatz zu den USA gibt es im Bereich der EU bis zum heutigen Tag keine länderübergreifenden gesetzlichen Hilfen, die die ausschließlich erfolgsorientierte pharmazeutische Industrie motivieren könnten, Orphan Drugs zu entwickeln. So werden die Medikamente genannt, die bei den seltenen Krankheiten eingesetzt werden. Lediglich in Frankreich und Spanien existiert eine entsprechende nationale gesetzliche Regelung. Damit sich die noch unbefriedigende Situation in Zukunft im Bereich der gesamten EU ändert, wurde dem Europäischen Parlament kürzlich ein entsprechender Gesetzesentwurf vorgelegt, der aber abgelehnt wurde. Die Abgeordneten konnten sich nicht in der Frage einigen, welche Krankheiten als "Orphan Diseases" anerkannt werden sollten.

Orphan Drug Act in den USA In den USA legt ein Gesetz (Orphan Drug Act) seit 1983 die Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln fest, die den unter extrem seltenen Gesundheitsstörungen leidenden Menschen zugute kommen sollen. Die Anerkennung als Orphan Drug sorgt dafür, daß sich das finanzielle Risiko bei der Entwicklung von Orphan Drugs stark vermindert hat. So werden bei Orphan Drugs beispielsweise die extrem strengen amerikanischen Zulassungsbedingungen gelockert. Steuergutschriften erleichtern den Pharmafirmen ein sozial erwünschtes Engagement auf diesem Gebiet. Außerdem werden im gleichen Indikationsgebiet sieben Jahre lang keine vergleichbaren Präparate zugelassen. Zusätzliche Präparate für dieselbe Krankheit werden nur zugelassen, wenn sie nicht mit dem bestehenden Orphan Drug vergleichbar sind, zum Beispiel einem anderen Wirkprinzip folgen, besser wirken oder weniger Nebenwirkungen aufweisen. Während in den USA alle jene Krankheiten zu einer Orphan Disease erklärt werden, die weniger als 200000 Amerikaner befallen, denkt man im europäischen Bereich an wesentlich strengere Maßstäbe, um Mißbräuche des Orphan-Drug-Status zu vermeiden.

Ein Krankheitsfall auf 5000 bis 1 Million Geburten In Europa rechnet man bei den seltenen Leiden je nach Krankheitsbild mit einem Krankheitsfall auf 5000 bis 1 Million Geburten. Damit werden bei den etwa 320 Millionen Europäern pro Jahr nur zwischen 4 und 800 Kinder geboren, die an den betreffenden seltenen Krankheiten leiden. Etwa 90% der seltenen Krankheiten werden sich noch lange jeglicher ärztlicher Behandlung entziehen. Für die verbleibenden 500 Orphan Diseases könnten aber theoretisch wirksame Arzneimittel zur Verfügung gestellt oder entwickelt werden.

Finanzierung über die Krankenkassenbeiträge Allerdings gibt es zwischen den USA und Europa einen gravierenden Unterschied: Während in den USA etwa 45 Millionen Einwohner keine Krankenversicherung haben und daher im Regelfall selbst dann Orphan Drugs nicht bezahlen könnten, wenn sie von den Firmen angeboten würden, werden die Kosten für die teuren Medikamente in Europa meist völlig von der Sozial- bzw. Krankenversicherung übernommen. Dies würde eine weitgehende Finanzierung der Entwicklungskosten für die Orphan Drugs über die Krankenkassenbeiträge möglich machen.

Beispiel Morbus Gaucher Ein typisches Beispiel ist der Morbus Gaucher. Dieses oft tödlich verlaufende Erbleiden wurde erstmalig 1882 beschrieben. Es ist die häufigste der heute bekannten Speichererkrankungen des Fettstoffwechsels und tritt in Mitteleuropa bei einer von etwa 40000 Geburten auf. In bestimmten jüdischen Volksgruppen kommt diese Krankheit sogar bei einem von 400 Menschen vor. Ursache ist ein angeborener Mangel an dem Enzym Glucocerebrosidase. Durch dieses Defizit kommt es bei den Gaucher-Patienten zu einer massenhaften Einlagerung des die Krankheit verursachenden Zellabbauproduktes Glucocerebrosid in Leber, Milz und Knochenmark. Wird den Kranken das fehlende Enzym in Form von Infusionen zugeführt, verschwinden alle Krankheitszeichen innerhalb relativ kurzer Zeit. Erst 1991 wurde das aus menschlicher Plazenta gewonnene Enzym Glucocerebrosidase, ein typisches Orphan-Medikament, für den allgemeinen Einsatz bei Morbus Gaucher freigegeben. Bis heute sind von den in Deutschland vermuteten 4000 Patienten erst einige hundert bekannt. Dies ist erstaunlich, da der Morbus Gaucher vor 1991 bei bestimmten Verlaufsformen eine nahezu hoffnungslose Prognose hatte oder mit so schweren Krankheitszeichen einherging, daß für die Patienten ein halbwegs normales Leben nicht möglich war. Sobald aber das fehlende Enzym in Form einer 14täglich zu verabreichenden Infusion zugeführt wird, normalisiert sich das Befinden der Patienten innerhalb weniger Monate. Seit die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA die gentechnisch von dem Unternehmen Genzyme hergestellte rekombinante Variante des Medikaments Ceredase zugelassen hat, steht der Wirkstoff erstmalig in unbegrenzter Menge zur Verfügung.

Amyotrophe Lateralsklerose Ähnlich wichtig war die Entwicklung des Arzneimittels Riluzol (Rilutek® von Rhone-Poulenc Rorer) für jene Patienten, die unter der Amyotrophen Lateralsklerose leiden - einer Nervenkrankheit, die meist innerhalb von 2 bis 3 Jahren nach der Diagnose zum Tode führt. In Europa sind etwa 12 von 100000 Einwohnern befallen. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 1600 Menschen. Diese Zahl reicht nicht aus, um die Entwicklung eines speziellen Medikaments wirtschaftlich zu rechtfertigen. Ursache des seltenen Leidens ist eine Störung des glutamatergen Systems, die zu einer Auflösung jener Nervenfasern führt, die die Körperbewegungen steuern. Mit Riluzol kann das relative Krankheitsrisiko um rund 40% gesenkt werden, die Kranken bleiben länger in einem Frühstadium, und die Überlebenszeit verlängert sich.

Wann "lohnt" sich die Entwicklung eines Orphan Drug? Diese Nische des Pharmamarktes ist wirtschaftlich völlig uninteressant, denn die Kosten für die Entwicklung eines Orphan Drug sind genauso hoch wie bei Arzneimitteln gegen sogenannte Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Stoffwechselstörungen. Professor Drews, Direktor der Forschungsabteilung des Schweizer Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche, zählt die Bedingungen auf, unter denen sich in Europa noch Arzneimittel für seltene Krankheiten entwickeln lassen:
• wenn sie sich aus profitablen Projekten als unerwartetes Nebenprodukt ergeben,
• wenn ihre Entwicklung einfach und billig ist,
• wenn das neue Produkt zu den Fähigkeiten und Erfahrungen der jeweiligen Firma paßt,
• wenn die Entwicklung dieses unwirtschaftlichen Arzneimittels zu einer sichtbaren Zunahme der wissenschaftlichen und medizinischen Reputation der Firma führt. Doch selbst wenn diese Bedingungen zutreffen, ist eine Unterstützung von seiten prominenter Wissenschaftler und des Gesetzgebers bzw. der zuständigen Behörden unabdingbar.

Kleine Unternehmen besetzten Marktnischen Häufig entwickeln auch kleine und junge Unternehmen Orphan Drugs, z.B. die 1990 in Paris gegründete Firma Orphan Europe, eine private Initiative des Schweden William Gunnarson. Nach einer anfänglichen Durststrecke konnten erste Verträge mit Partnern in den USA geschlossen und der europaweite Verkauf begonnen werden. Zur Zeit können über Orphan Europe (Germany) GmbH, Dietzenbach, folgende Arzneimittel bezogen werden:
• Cystagon®-Cysteaminbitartrat (Mercaptaminbitartrat), das einzige europaweit zugelassene Arzneimittel für die Cysteamintherapie bei der nephropatischen Cystinose. Die offizielle Ausbietung für Deutschland wird für April 1998 erwartet.
• Natrium-Phenylbutyrat zur Behandlung von Harnstoffzyklusdefekten. Dieses Arzneimittel ist seit 1996 in den USA unter dem Handelsnamen Buphenyl zugelassen. Für Europa ist die Zulassung beantragt und wird für Ende 1998 erwartet.
• Adagen, eine bovine Pegademase zur Behandlung von Adenosindeaminase-Mangel. Dieser Mangel führt unbehandelt zu schwersten Immundefekten (SCID). Adagen ist als Orphan Drug in den USA zugelassen.
• In der Entwicklung befinden sich unter anderem NTBC für die Behandlung der Tyrosinämie Typ 1, Carbamylglutarat für N-Acetylglutamat-Synthetase-Mangel und Betain für die Homocysteinurie.

Mukoviszidose: auf der "Orphan-Drug-Liste" der amerikanischen Zulassungsbehörde Häufigkeit: ca. 1:2000 bis 5000 (Europa und USA) Betroffene in den USA: ca. 40000 Menschen Ursache: Die Mukoviszidose oder zystische Fibrose gehört zu den häufigsten angeborenen Stoffwechselkrankheiten. Die Patienten leiden unter einem Gendefekt, der eine Störung im Wasserhaushalt der Zellen zur Folge hat. Zu den schwerwiegendsten Folgen gehört, daß sich in den Lungen und im Verdauungstrakt zähflüssiger Schleim bildet. Die Patienten müssen den Schleim in der Lunge regelmäßig qualvoll abhusten und eine strenge Diät einhalten. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patienten liegt derzeit bei knapp dreißig Jahren. Übertragung: Heterozygote Träger der Erbanlage erkranken nicht. Sie können die Anlage aber auf ihre Nachkommen übertragen. Sind beide Elternteile Überträger der Krankheit, beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß Neugeborene krank sind, 50 Prozent. Behandlungsmöglichkeiten: Bisher keine kausalen; ein als Orphan Drug zugelassenes Enzympräparat (Dornase alfa) lindert, indem es den Schleim flüssiger macht; spezielle Gymnastik und Atemübungen sind unerläßlich; inhalierbare Antibiotika werden zur Infektionsprophylaxe gegeben. Projekte mit Orphan-Drug-Status (designiert) der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (Stand: November 1997): 18 Erste Designierung: 10. Mai 1990 Zugelassenes Orphan Drug: 1

Multiple Sklerose: auf der "Orphan-Drug-Liste" der amerikanischen Zulassungsbehörde Häufigkeit: ca. 15 bis 60:10000 (Europa und USA) Betroffene in den USA: ca. 350000 Menschen Ursache und Verlauf: Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit. Durch eine Fehlreaktion des Immunsystems wird körpereigenes Gewebe attackiert, und zwar die Isolierschicht der Nervenfasern. Lähmungen, Seh- und Empfindungsstörungen sind die Folge. Die Ausprägung variiert stark. Bei etwa 60 Prozent der Kranken treten die Symptome schubweise auf und können sich nach einer gewissen Zeit wieder bessern. Übertragung: Nicht bekannt Behandlungsmöglichkeiten: Mit den Beta-Interferonen Interferon beta-1a und 1b, die in den USA als Orphan Drug zugelassen sind, läßt sich die Häufigkeit der Schübe um etwa ein Drittel reduzierten. Bemerkung: Obwohl die Zahl der behandlungsbedürftigen Patienten größer als 200000 ist, wird die Entwicklung entsprechender Präparate in den USA gemäß Orphan Drug Act unterstützt. Ausschlaggebend ist der Nachweis, daß sich die Entwicklungskosten für ein Arzneimittel gegen MS unter "normalen" Umständen nicht erwirtschaften lassen. Projekte mit Orphan-Drug-Status (designiert) der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (Stand: November 1997): 11 Erste Designierung: 2. Juni 1987 Zugelassene Orphan Drugs: 4

Quellen Pressemitteilung der Hoffmann-La Roche AG. Pressemitteilung der Orphan Europe (Germany) GmbH. Orphan Drug Status. Broschüre vom Verband forschender Arzneimittelhersteller (Hrsg.), Bonn 1998.

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