Recht

D. Walluf-Blume Orphan Drugs – FuE im Dienst der P

Mit dem Inkrafttreten der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in der Europäischen Union (EU) am 22. Januar 2000 ist Bewegung in diesen Nischenbereich gekommen. Innerhalb von zwei Jahren wurden schon 78 Arzneimittel für seltene Leiden in den Europäischen Gemeinschaften ausgewiesen (Stand 8. Februar 2002), und zwei haben bereits eine europäische Zulassung erhalten. Das Hauptanliegen dieser Verordnung ist es, verbesserte Rahmenbedingungen für die Pharmaindustrie und ihre Forschungseinrichtungen zu schaffen, um die Erforschung und Entwicklung dieser Medikamente zu fördern.

Manche Krankheiten treten so selten auf, dass die Kosten für die Entwicklung und Vermarktung eines Arzneimittels nicht durch die Gewinnerwartungen in einem vertretbaren Zeitraum abgedeckt werden. Dies erschwert die Bereitschaft, in diesem Bereich zu forschen.

Wegen dieser Umstände werden Arzneimittel für seltene Krankheiten auch als "Waisenarzneimittel" oder Orphan Drugs (syn.: Orphan Medicinal Products) bezeichnet. "Sie sind wie Kinder, die keine Eltern haben und die deshalb eine besondere Aufmerksamkeit für ihre Entwicklung benötigen", beschreibt das US-Kongressmitglied Henry Waxman die Situation der Orphan Drugs.

Die moderne Medizin kennt heute ca. 30 000 Krankheiten, wovon etwa 5000 sehr selten auftreten (Rare Diseases). Für die meisten dieser zwar seltenen, aber schwer verlaufenden Krankheiten gibt es bis heute keine hinreichende oder gar lebensrettende medikamentöse Therapie. An einer seltenen Krankheit leiden einerseits sehr wenige Patienten, andererseits sind durch die große Zahl von seltenen Erkrankungen so viele Menschen betroffen, dass die effektive Behandlung dieser Patientengruppe im öffentlichen Gesundheitsinteresse liegt.

Günstiges Klima für Orphan Drugs

Die Erforschung und Entwicklung (FuE) eines neuen Arzneimitteln erstreckt sich über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Jahren und kostet Schätzungen zufolge 450 Millionen US Dollar. Diese Investitionen können am Markt nur dann in einer angemessenen Zeitspanne erwirtschaftet werden, wenn die Arzneimittel für eine große Zahl von Patienten bestimmt sind, wie dies z. B. bei Volkskrankheiten der Fall ist.

Der Zeitaufwand für die FuE eines Orphan Drugs kann mit bis zu sechs Jahren wesentlich kürzer ausfallen. Entsprechend verringern sich auch die Entwicklungskosten. Dennoch ist mit einer Amortisation der Forschungskosten aufgrund der kleinen Patientenzahlen – teils weniger als 100 Patienten – unter den üblichen Marktbedingungen nicht zu rechnen. Es sind also gesundheitspolitische und ökonomische Beweggründe, die den Gesetzgeber veranlassen, für die Entwicklung von Orphan Drugs ein günstiges Klima zu schaffen.

Die pharmazeutische Industrie hat eine geeignete Regelung für diesen Forschungsbereich schon seit Jahren für die EU gefordert, um bestehende Defizite für Patienten zu beseitigen und den Anschluss an Länder wie die USA, Japan und Australien zu bekommen. Hier sind bereits seit längerer Zeit entsprechende Orphan-Drug-Gesetzgebungen in Kraft.

Anreize für die Erforschung und Entwicklung

Die Eckpfeiler der EU-Verordnung bestehen in der Festlegung eines Gemeinschaftsverfahrens für die Ausweisung von Arzneimitteln als Orphan Drugs nach einheitlichen Kriterien und in der Schaffung von Anreizen für die Erforschung, Entwicklung und Vermarktung solcher Präparate.

Dass Anreize wirksam sind, zeigt eindrucksvoll die amerikanische Situation. Seit Verabschiedung der US-Orphan-Drug Gesetzgebung 1983 hat die dortige Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) über 900 Forschungsprojekte mit einem Orphan Drug Status versehen und bereits mehr als 220 Arzneimittel für seltene Leiden zugelassen. Der Erfolg ist offensichtlich, denn über 550 seltene, bislang nicht behandelbare Krankheiten können mit diesen Medikamenten therapiert werden.

Entsprechend der europäischen Verordnung über Arzneimittel für seltene Krankheiten kann ein Arzneimittel dann ein Orphan Drug werden, wenn der Nachweis erbracht wird, dass es für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung einer Krankheit bestimmt ist, die lebensbedrohend ist oder zu einer dauerhaften Behinderung führt und von der zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinschaft weniger als fünf von 10 000 Personen (Prävalenz) betroffen sind.

Neben diesem epidemiologischen Kriterium ist auch ein ökonomisches Kriterium vorgesehen. Das Entwickeln von Arzneimitteln soll auch gefördert werden, wenn sie zur Behandlung von lebensbedrohenden oder zu einer dauerhaften Behinderung führenden Krankheit bestimmt sind, die im Prinzip nicht unter die Kategorie seltene Krankheiten fallen, bisher aber noch nicht vom Fortschritt der Medizin profitiert haben. Der Antragsteller muss jedoch nachweisen können, dass diese Arzneimittel ohne Anreiz nicht entwickelt würden, da sie am Markt nicht rentabel sind.

Gewährt wird eine Ausweisung als Orphan Drug jedoch nur, wenn in der EU noch keine zufriedenstellende Methode zur Diagnose, Verhütung oder Therapie der betreffenden Krankheit zugelassen wurde, oder – falls es bereits eine Methode gibt – der Antragsteller belegen kann, dass das betreffende Arzneimittel den Patienten einen erheblichen Nutzen bringt.

Als Anreiz z. B. keine Zulassungsgebühren

Die Verordnung sieht verschiedene Anreize zur Forschungsförderung vor. Diese so genannten Incentives sind an das US-amerikanische Verfahren angelehnt, aber nicht vollständig übernommen. Nach der EU-Verordnung wird beispielsweise dem pharmazeutischen Unternehmer für sein als Orphan Drug ausgewiesenes Arzneimittel entweder ein teilweiser Nachlass oder eine vollständige Befreiung der Zulassungsgebühren gewährt. Diese sind in der EU sehr hoch und betragen im zentralisierten Zulassungsverfahren ca. 400 000 DM.

Ein wesentlicher Anreiz ist das Alleinvertriebsrecht von zehn Jahren. Durch bestimmte, ergänzende Regelungen wird verhindert, dass diese Vorschrift den medizinischen Fortschritt blockiert. Die europäische Arzneimittelzulassungsbehörde EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products) wird verpflichtet, den pharmazeutischen Unternehmer bei der Planung und Durchführung klinischer Studien von Orphan Drugs zu unterstützten. Dies ist sehr bedeutsam, da klinische Studien aufgrund der beschränkten Zahl an Patienten nur sehr schwer durchzuführen sind. Ein mit der Behörde abgestimmtes Prüfdesign gibt mehr Sicherheit bei den Investitionen für ein solches Projekt.

Ausschuss für seltene Leiden entscheidet

Die EU-Kommission hat darüber zu entscheiden, ob ein Arzneimittel den Orphan-Drug-Status erhält. Sie wird von einem Ausschuss für seltene Leiden (Committee on Orphan Medicinal Products, COMP) unterstützt, der die Anträge auf Ausweisung eines Arzneimittels als Orphan Drug prüft und eine Empfehlung abgibt.

Anträge können vom pharmazeutischen Unternehmer zu jedem Zeitpunkt vor der Zulassung des Arzneimittels gestellt werden. Es handelt es sich daher um Entwicklungsprodukte, die sich noch in der klinischen Erprobung befinden.

Der COMP tagt monatlich. Seine erste Sitzung hat im April 2000 stattgefunden. Seit dieser Zeit wurden bereits 78 positive Voten gefasst. Sofern sich die EU-Kommission den Voten des COMP anschließt, werden die Arzneimittel in das Orphan-Drug-Register der EU aufgenommen.

Die Tabelle zeigt das Register, das mit Stand 8. Februar 2002 78 Arzneistoffe mit Orphan-Drug-Status in alphabetischer Reihenfolge auflistet, die Indikation aufführt, für die der Ausweisungsantrag genehmigt ist, und über den Sponsor, d. h. das Antrag stellende pharmazeutische Unternehmen, informiert.

FuE-Anreize: Anwendung noch vor der Zulassung

Mit der Orphan-Drug-Verordnung werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, weitere FuE-Anreize in nationaler Verantwortung bereitzustellen. Der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) setzt sich dafür ein, Steuernachlässe auf die Kosten der klinischen Prüfung über die üblicherweise steuerliche Abschreibung hinaus zu gewähren. In den USA hat dieses Incentive die Erforschung von Orphan Drugs sehr beflügelt.

Aus Sicht des BPI ist es erforderlich, dass Orphan-Drug-Entwicklungsprodukte bereits vor Erteilung der Zulassung, sofern sie Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Prüfungen gezeigt haben, bei den Patienten angewendet werden dürfen. Man bezeichnet diese Art der Anwendung als Compassionate Use, die in Deutschland für weltweit (noch) nicht zugelassene Medikamente fehlt.

In allen EU-Mitgliedstaaten werden bestimmte Compassionate-Use-Programme durchgeführt, allerdings mit unterschiedlichsten Kriterien und Rahmenbedingungen. Bereits in zehn EU-Mitgliedstaaten ist eine Patienten-bezogene Anwendung von Entwicklungsprodukten, die noch in keinem Land der Welt eine Zulassung haben, erlaubt, und fünf dieser Länder sehen unter bestimmten Bedingungen im Rahmen dieser Compassionate-Use-Anwendung die Erstattungsfähigkeit durch die Sozialversicherungsträger vor.

In Deutschland liegt für diesen Fall eine Regelungslücke vor, die nicht selten Probleme aufwirft: Denn zeigt ein Orphan Drug bereits während klinischer Prüfungen Wirksamkeit, besteht ein berechtigtes Interesse der betroffenen Patienten, mit diesem Prüfarzneimittel behandelt zu werden. Ärzte sowie Patienten üben daher Druck auf den Hersteller aus, dieses Entwicklungsprodukt vor der Zulassung für die Therapie zur Verfügung zu stellen.

Der pharmazeutische Unternehmer kann die Anwendung über klinische Studien legal gewähren, die aber insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht immer finanziert werden können. Der BPI fordert daher eine gesetzliche Regelung, die den therapeutischen Einsatz eines solchen Entwicklungsproduktes ermöglicht.

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass diese Arzneimittel für seltene Erkrankungen durch die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) erstattet werden, damit die weitere Entwicklung des Produktes durch das Unternehmen gewährleistet werden kann. Der BPI hat dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet, der sich an ein in Frankreich etabliertes und bewährtes Verfahren anlehnt.

Datenbank über seltene Krankheiten aufbauen

Von besonderer Bedeutung ist auch, eine europäische Datenbank über seltene Krankheiten aufzubauen. Insbesondere werden epidemiologische Daten über die Häufigkeit dieser Erkrankungen benötigt. Der antragstellende pharmazeutische Unternehmer muss im Ausweisungsantrag für ein Orphan Drug die Prävalenz der Krankheit in Europa angeben, die dem Kriterium der Orphan-Drug-Verordnung (weniger als fünf von 10 000 Personen in der EU) entsprechen muss. Dazu müssen in den einzelnen Mitgliedstaaten entsprechende Daten erhoben werden, die in ein europäisches Projekt einfließen.

Einige Länder, wie Frankreich, haben bereits beispielhafte Arbeit geleistet. Orphanet Frankreich unterhält eine Datenbank, die bisher Informationen über 3473 seltene Krankheiten zur Verfügung stellt, über 866 Forschungsprogramme aus diesem Bereich informiert und Links zu 988 Patientenorganisationen aufgenommen hat.

Vor zwei Jahren ist die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in der EU in Kraft getreten. Es handelt sich um Arzneimittel zur Behandlung von Krankheiten, von denen in der EU weniger als 10 000 Personen betroffen sind. Um der Industrie einen Anreiz zur Entwicklung solcher wirtschaftlich nicht interessanter Arzneimittel zu geben, wurde ihre Zulassung erleichtert. Inzwischen sind in der EU 78 Arzneimittel für seltene Leiden – man nennt sie auch Orphan Drugs – ausgewiesen worden, und zwei davon haben eine europäische Zulassung erhalten.

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