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Seltene Krankheiten: Entwicklung von Orphan Drugs kommt langsam in Gang

FRANKFURT (hb). Die Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln ist heute außerordentlich kostenintensiv. Kaum ein Pharmaunternehmen ist bereit und in der Lage, ein solches Unterfangen einschließlich des aufwendigen Zulassungsverfahrens auf sich zu nehmen, wenn absehbar ist, dass das Präparat nachher nur an wenige Patienten abgegeben wird. Um die Therapiechancen für die Betroffenen, die an seltenen Krankheiten leiden, zu erhöhen, hat die Europäische Union es sich zur Aufgabe gemacht, spezielle Anreize für die Entwicklung von sogenannten "Orphan Drugs" zu schaffen.

Die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden

Ein wesentliches Instrument, das zu diesem Zweck auf der europäischer Ebene geschaffen wurde, ist die Verordnung Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden. Sie wurde am 6. Dezember 1999 verabschiedet und trat am 27. April 2000 mit der Annahme der dazugehörigen Durchführungsverordnungen durch die Kommission in Kraft. Die Verordnung (siehe Kasten) etabliert ein Verfahren für die Ausweisung eines Arzneimittels als Orphan Drug. Hiermit verbunden ist die Möglichkeit der Befreiung von den Zulassungsgebühren (derzeit max. 50% Reduktion) einschließlich der Gebühren für die Unterstützung bei der Erstellung des Prüfplans und für die wissenschaftliche Beratung (protocol assistance, derzeit max. 80% Reduktion). Hauptanreiz ist jedoch das zehnjährige Marktexklusivrecht.

Bedingungen für die Einstufung als Orphan Drug

Um als Orphan Drug anerkannt zu werden, muss ein Arzneimittel folgende Bedingungen erfüllen: Es dient entweder der Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines Leidens, das lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht. Die Patientengruppe umfasst zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr als 5 von 10 000 Personen in der EU (epidemiologisches Kriterium) oder es dient der Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines lebensbedrohenden Leidens, eines zu schwerer Invalidität führenden oder eines schweren und chronischen Leidens in der EU. Das Inverkehrbringen in der EU bringt vermutlich nicht genügend Gewinn, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen (ökonomisches Kriterium).

Neben dem epidemiologischen oder dem ökonomischen Kriterien kommt eine weitere Bedingung hinzu: Es darf noch keine andere zufriedenstellende Methode, die demselben Zweck dient, zugelassen sein. Ist dies der Fall, so muss das neue Arzneimittel für die betroffenen Patienten von erheblichem Nutzen sein.

Anerkannte Orphan Drugs werden in ein gesondertes Gemeinschaftsregister (Orphan Drug Register) aufgenommen. Bisher wurden nach diesem Schema zum Beispiel Arzneimittel zur Behandlung des Fabry-Syndroms, der akuten myeloischen Leukämie und des Gaucher-Syndrom ausgewiesen.

Beurteilung durch das COMP

Bei der EMEA wurde ein Ausschuss für Orphan Medicinal Products (COMP) eingesetzt, der die Anträge auf Klassifizierung von Arzneimitteln als Orphan Drug prüft und die Kommission bei der Erarbeitung einer europäischen Politik sowie in der internationalen Zusammenarbeit und bei der Erarbeitung von Leitlinien in Bezug auf Arzneimittel für seltene Krankheiten unterstützt und berät (www.eudra.org/Humandocs/humans/COMP.htm).

Bemerkenswert ist, dass im COMP auch Vertreter von Patientenorganisationen vertreten sind. Das COMP arbeitet seit April 2000. Es hat bereits eine Reihe von Sachverständigen für spezielle Leiden ernannt und eine Datenbank mit den bislang zusammengetragenen Erkenntnissen eingerichtet.

Spezielle Forschungsanreize der Gemeinschaft

Die Generaldirektion Forschung der Kommission ist in ihrem Programm "Lebensqualität und Management lebender Ressourcen" auch bezüglich der Förderung der Erforschung von Arzneimitteln für seltene Leiden aktiv. Sie gewährt derzeit Forschungsbeihilfen für insgesamt 13 Projekte im Bereich chronischer, degenerativer und seltener Krankheiten, die mit 21% einen erheblichen Anteil dieser Aktionslinie ausmachen. Krankheiten, zu denen geförderte Projekte durchgeführt werden, sind u. a. Myopathien, infantiler Hyperinsulinismus, Glykosylierungsstörungen, Parkinson-Plus-Syndrome, Chorea Huntington, zystische Fibrose, angeborene nephrotische Syndrome, kraniofaziale Anomalien, Wiskott-Aldrich-Syndrom und Mantelzellen-Lymphom.

Das Aktionsprogramm betreffend seltene Krankheiten

Politisch gestützt werden die Bemühungen außerdem durch das Aktionsprogramm der Gemeinschaft betreffend seltene Krankheiten, das sich über den Zeitraum von 1. Januar 1999 bis 31. Dezember 2003 erstreckt. Vier Maßnahmen sind in dem Programm festgeschrieben:

  • Der Aufbau eines europäischen Netzes von Informationen über seltene Krankheiten auf Basis vorhandener Datenbanken (Bezeichnung und Beschreibung der jeweiligen Krankheit, Symptome, Ursachen, epidemiologische Daten, vorbeugende und therapeutische Maßnahmen, klinische Versuche, Diagnoselabors, Forschungsprogramme, etc.),
  • Die ständige Aktualisierung der Kenntnisse mit dem Ziel, die Erkennung, Früherkennung, Behandlung und Prävention zu verbessern,
  • Die Förderung der länderübergreifenden Zusammenarbeit der Fachkreise und der Vernetzung von Gruppen von Betroffenen,
  • Die Unterstützung der Kontrolle seltener Krankheiten auf der Gemeinschaftsebene und der Frühwarnsysteme für Cluster und die Fortbildung der hiermit befassten Sachverständigen.

Verzeichnis gibt Aufschluss über nationale Maßnahmen

Um die Transparenz zu erhöhen, hat die Kommission ein Verzeichnis erstellt, das neben den Aktivitäten auf Gemeinschaftsebene Aufschluss über diejenigen Maßnahmen gibt, die die Mitgliedstaaten national zur Förderung der Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten erlassen haben. Hieraus wird ersichtlich, dass auf diesem Sektor offenbar noch lange nicht alle "mit im Boot" sind, und auch bei vorhandenen Ansätzen bleiben noch Wünsche offen. So fordert der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie für Deutschland unter anderem zusätzliche Steuernachlässe auf die F&E-Aufwendungen, die im Rahmen von Orphan-Drug-Projekten anfallen.

Kastentext: Ziel der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden (Orphan Drugs)*

  • Etabliert ein europäisches Verfahren für die Ausweisung eines Arzneimittels als sog. "Orphan Drug".
  • Dieses schafft besondere Anreize für die pharmazeutischen Unternehmen zur Erforschung und Zulassung solcher Arzneimittel, insbesondere durch ein Alleinvertriebsrecht von 10 Jahren, aber auch in Form eines Nachlasses bei den Zulassungsgebühren.
  • Schafft ein besseres Wettbewerbsklima für die pharmazeutische Industrie zur Erforschung der Behandlung von seltenen Krankheiten.
  • Die praktischen Erfahrungen der Pharmaunternehmen mit der Einordnung eines Arzneimittels als Orphan Drug sind bislang gut.
  • Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, ihrerseits ebenfalls Anreize für die Entwicklung von Orphan Drugs zu schaffen, insbesondere durch Forschungshilfen für kleine und mittlere Unternehmen.

*Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. EG Nr. L 18 vom 22. 1. 2000, S. 1 - 5

Kastentext: Fakten zu Arzneimitteln für seltene Krankheiten

Die Zahl der seltenen, aber schwer verlaufenden Krankheiten wird auf ca. 5000 geschätzt. Etwa 80% davon sind genetischen Ursprungs. In den Jahren 2000 und 2001 hat die Europäische Kommission bislang insgesamt 43 Arzneimittel als Orphan Drugs nach der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden anerkannt.

In den USA wurden seit 1983 (Einführung des Orphan Drug Act) 222 Arzneimittel für seltene Krankheiten zugelassen, die 10 Millionen amerikanischen Patienten zugute kommen (geforderte maximale Erkrankungshäufigkeit: 7,5 auf 10 000 Personen).

Quelle: Nach Vorträgen von Patrick Cabri, Naarden/Niederlande, Prof. Dr. Alfred Hildebrandt, Bonn und Dr. Dagmar Walluf-Blume, Franfurt bei einer Veranstaltung von Colloquium Pharmaceuticum, Klinische Prüfung an Kindern und Entwicklung eines "Orphan Drug" Arzneimittels am 5. Juli 2001 in Frankfurt/Main.

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