Zwei Jahre Krieg

Das Gesundheitssystem in der Ukraine steht vor dem Kollaps

Stuttgart - 23.02.2024, 17:45 Uhr

Zum zweiten Jahrestag verschlechtern sich Gesundheitswesen und Infrastruktur zunehmend. (Foto: imago images/Itar-Tass)

Zum zweiten Jahrestag verschlechtern sich Gesundheitswesen und Infrastruktur zunehmend. (Foto: imago images/Itar-Tass)


Am 24. Februar 2022 überfiel Russland sein Nachbarland Ukraine und entfesselte einen brutalen Angriffskrieg, unter dem besonders auch die Zivilbevölkerung – und das Gesundheitssystem zu leiden hat. Die DAZ hat zusammengestellt, was sich seit dem letzten Jahrestag verändert hat.

Die Welt ist nicht ruhiger geworden in den vergangenen 365 Tagen – der Terror der Hamas und der Gaza-Krieg, Erdbeben in der Türkei und Syrien, Dürren, Waldbrände, Überschwemmungen – da rückte der Krieg in der Ukraine zeitweise in den nachrichtlichen Hintergrund.

Und doch jährt sich der brutale völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf seinen Nachbarn, die Ukraine, am 24. Februar 2024 bereits zum zweiten Mal – und geht mit unveränderter Grausamkeit weiter. Im vergangenen Jahr hatten wir nachgefragt, wie es den Apothekern und Gesundheitsberuflern im angegriffenen Land ergangen ist. 

In den Apotheken fehlt es besonders an Personal und Strom

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Über 4000 Apotheken hatten zu dem Zeitpunkt bereits schließen müssen, mittlerweile dürften es viele weitere mehr sein, genaue Zahlen gibt es nicht. Und auch der Mangel an Personal und Strom, von dem im Februar 2023 bereits Apotheker und Gesundheitsberufler aus der Ukraine berichteten, hat sich seitdem weiter verschlechtert.

1000 Angriffe auf Einrichtungen des Gesundheitswesens

Der Aggressor Russland hat zwischenzeitlich mit gezielten Angriffen auf die Infrastruktur des Landes noch für eine Verschärfung der Situation auch des Gesundheitswesens gesorgt. Allein bis Mitte vergangenen Jahres zählte die Weltgesundheitsorganisation WHO mehr als 1000 gezielte Angriffe auf Einrichtungen des Gesundheitswesens der Ukraine, darunter Gebäude, Versorgungsgüter und Transportmittel, einschließlich Krankenwagen, erklärte das WHO-Regionalbüro für Europa. Aktuell, Stand Februar 2024, wird die Zahl der Angriffe sogar auf mehr als 1500 geschätzt.

Dr. Jarno Habicht, Repräsentant der WHO in der Ukraine, stellte damals fest: „Die Angriffe gegen das Gesundheitswesen stellen einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar. Sie entziehen den Menschen den Zugang zur Versorgung, die sie brauchen, und haben weitreichende langfristige Folgen.“

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Eine dieser Folgen ist auch die Verbreitung von antibiotikaresistenten nosokomialen Infektionen unter anderem mit dem Lungenentzündungs-Erreger Klebsiella pneumoniae. Eine im Vergleich zu Europa 300-mal höhere Inzidenz dieser Infektionen stellte zuletzt im Dezember 2023 die US-Gesundheitsschutzbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) fest.

Militärische Gesundheitsversorgung aktuell im Fokus

Nicht zuletzt, weil sich etwa durch die von den US-Republikanern blockierte US-Militärhilfe die Lage für die Ukraine aktuell deutlich verschärft, sind Ansprechpartner in der Ukraine derzeit nicht zu erreichen. Auch hat sich der Fokus der dringendsten Probleme der medizinischen Versorgung derzeit verschoben, erklärt etwa die Pharmazeutin Yevgeniya Dranova aus Baden-Württemberg, selbst Ukrainerin und gut vernetzt und engagiert in der Hilfe für das ukrainische Gesundheitssystem. „Die aktuellen Fragen im Gesundheitssektor drehen sich eher um die Versorgung und Schulung von Medizinern im Militär. Bluttransfusionen und psychologische Betreuung im Militär sind dabei aktuell die wichtigsten Schlagwörter“, sagt sie.

Hilfe für das ukrainische Gesundheitswesen gibt es unterdessen insbesondere auch aus Deutschland – von der Bundesregierung und von zahlreichen Hilfsorganisationen. So unterzeichneten erst Anfang Februar der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach und sein ukrainischer Amtskollege Viktor Liashko eine gemeinsame Erklärung, die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen zu vertiefen.

Hilfsorganisationen arbeiten weiter vor Ort

Unter den Hilfsorganisationen, die unermüdlich im Einsatz für die Menschen in der Ukraine sind, ist auch Apotheker Helfen mit Sitz in München (die aktuell 25-jähriges Bestehen feiert). „Seit dem unmittelbaren Angriffskrieg sendet Apotheker Helfen e.V. Arzneimittel und medizinische Hilfsgüter vor allem an Krankenhäuser und Geburtshäuser“, erklärt der Geschäftsführer von Apotheker Helfen, Dr. Andreas Wiegand.

„Zu Beginn trafen sehr viele Anfragen, mitunter sogar mehrfach von denselben Kliniken über unterschiedliche Kanäle bei uns ein. Daneben gab es unzählige Privatinitiativen. Wir haben unsere Hilfe immer beibehalten und setzen diese auch dieses Jahr fort“, sagt er.

Habe man zu Beginn zahlreiche Hilfslieferungen selbst beschafft und den Transport meist mit Partnerorganisationen wie etwa LandsAid e.V. und NAVIS e.V. bewerkstelligt, arbeite man jetzt intensiv mit action medeor zusammen. „Dort arbeitet eine ukrainische Fachkraft, sodass keine Sprachbarriere besteht. Wir bündeln die Anfragen und senden regelmäßig weiterhin Hilfsgüter in die Ukraine an Gesundheitseirichtungen“, sagt Wiegand.

Verändert habe sich aber, dass insbesondere private Anfragen mittlerweile verschwunden seien. Es seien jetzt meist Gesundheitseinrichtungen, wenige andere Organisationen, die Anfragen stellten, sagt er. Verändert habe sich im vergangenen Jahr allerdings auch das Spendenaufkommen: „Die Spendenbereitschaft beziehungsweise der Spendeneingang mit dem Verwendungszweck Ukraine ist bis auf wenige Ausnahmen kaum noch messbar“, sagt er. Insgesamt bedauert er diese wohl nachlassende Unterstützung der Ukraine aus verschiedenen Ländern. „Die Ukraine kann alleine nicht überleben, nicht finanziell, nicht ohne materielle Hilfe und vermutlich auch nicht militärisch“, stellt er fest.

Starker Rückgang bei den Spenden

Auch Apotheker ohne Grenzen sieht einen starken Rückgang der Spenden: „Die Spendeneinnahmen für die Ukrainehilfe sind stark rückläufig. Ein Großteil der finanziellen Mittel stammt nach wie vor aus dem großen Spendenaufkommen aus dem Jahr 2022“, sagt Max Haselbach, Referent für Projektkoordination bei Apotheker ohne Grenzen Deutschland e.V.

In den vergangenen zwei Jahren habe man in Zusammenarbeit mit einem Netzwerk von Partnerorganisationen die ukrainische Zivilbevölkerung vor allem mittels bedarfsgerechten Medikamentenlieferungen unterstützt, sagt er. „In rund 200 Transporten wurden Arzneimittel und medizinische Verbrauchsmaterialien, welche kostengünstig bei pharmazeutischen Großhändlern, Klinikapotheken oder öffentlichen Apotheken in Deutschland beschafft wurden, an medizinische Einrichtung innerhalb der Ukraine geliefert. Damit hat Apotheker ohne Grenzen auf durch den Krieg verursachte Versorgungsengpässe reagiert, um dem medizinischen Personal vor Ort die Mittel für die Aufrechterhaltung einer adäquaten Behandlung der Patienten zur Verfügung zu stellen.“

Hoher Verbrauch von Arzneimitteln für Traumatherapie

Allein im Jahr 2023 haben man so Medikamente im Wert von rund 700.000 Euro geliefert. Die Zielorte reichten dabei von Charkiw und Sumy im Norden, über Lwiw und Kiew bis hin zu Odessa, Cherson und Isjum im Süden sowie in frontnahe Städte im Osten der Ukraine.

„Die Bedarfe an Arzneimitteln waren und sind weiterhin hoch“, sagt Haselbach über die Entwicklung in den vergangenen 365 Tagen. Sie hätten jedoch zeitlich und regional stark variiert, was eine kontinuierliche Anpassung der Lieferungen notwendig gemacht habe. „Allgemein ist zu beobachten, dass neben dem konstant hohen Verbrauch von Medikamenten für die Traumatherapie, innerhalb des letzten Jahres die Nachfrage von Arzneimitteln für chronische Erkrankungen, speziellen Krankheitsmustern wie Epilepsie oder Krebs sowie von speziellen Antibiotika gestiegen ist“, sagt er.

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Einen geringeren Rückgang der Spendenbereitschaft sieht action medeor, das Medikamentenhilfswerk mit Sitz in Tönisvorst. „Wir sehen bei zeitlich eng aufeinander folgenden Krisen einen Rückgang bei den Spenden, den wir aber nicht als ungewöhnlich bewerten. Es ist bei jeder Katastrophe oder Krise zudem so, dass die Spendeneingänge zu Anfang am höchsten sind und danach deutlich nachlassen. So verhält es sich auch mit dem Ukraine-Konflikt“, sagt Dr.​​​​ Markus Bremers, Sprecher der action medeor. Aber es sei notwendig, immer wieder aktiv darüber zu berichten, wie wichtig es ist, die Menschen in der Ukraine weiterhin zu unterstützen, und um entsprechende Geldspenden zu bitten.

Über die Lage vor Ort weiß er zu berichten, dass sich die soziale Lage in der Ukraine im vergangenen Jahr verschlechtert habe. „Binnenvertriebene, Alleinerziehende, Rentner, Arbeitslose, Kinder, Alte und Kranke werden immer weniger durch staatliche Leistungen versorgt, weil der Staat die finanziellen Mittel zur militärischen Sicherung der Bevölkerung einsetzen muss. Daher sind humanitäre Programme im letzten Jahr noch wichtiger geworden“, sagt Bremers.

Ein Haupt-Aktionsgebiet von action medeor liegt im Süden der Ukraine zwischen Odessa im Westen und Cherson im Osten. „In dieser Region leben fast eine halbe Million Binnenvertriebene. Unser Hilfswerk hat seine humanitären Hilfsprojekte innerhalb des Projektgebiets inzwischen weiter nach Osten verlagert, wo die sozialen Bedarfe am höchsten sind. Waren wir im Jahr 2022 noch überwiegend im Raum Odessa tätig, so liegen neue Schwerpunkte unserer Hilfstätigkeit nun eher in Mykolajiw und Cherson, also deutlich näher zur Frontlinie. Die Menschen dort sind besonders vulnerabel, weil sie täglich mit Beschuss rechnen müssen und die öffentliche Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung vielfach zerstört ist. Unsere Hilfsmaßnahmen dort leisten einen wichtigen Beitrag zum Überleben der Menschen in diesen Gebieten“, sagt Bremers.

Die Hilfe ist dabei vielfältig: „Zusammen mit verschiedenen lokalen Partnern versorgen wir zum Beispiel Binnenflüchtlinge und bedürftige Menschen mit Medikamenten, Hygieneartikeln, warmer Kleidung und Material zum Heizen. Wir finanzieren und organisieren zusammen mit unseren lokalen Partnern Mittagstische und Spielenachmittage für Kinder. Wir unterstützen lokale Gesundheitsstrukturen wie Krankenhäuser und Apotheken, in denen die Menschen medizinisch und pharmazeutisch versorgt werden. Mit mobilen Apotheken erreichen wir auch die Menschen in den ländlichen Gebieten und in der Nähe der Front“, sagt der action medeor-Sprecher.

Insgesamt habe man seit Februar 2022 Krankenhäuser in mehr als 80 Orten in der Ukraine mit medizinischen Hilfsgütern versorgt, insgesamt rund 900 Tonnen im Wert von 12 Millionen Euro. „Im Jahr 2022 geschah dies überwiegend durch ein Verteilzentrum in der westukrainischen Stadt Ternopil. Inzwischen beliefern wir die meisten Kliniken, mit denen wir kooperieren, direkt aus Deutschland, ebenso wie das Zentrallager des ukrainischen Gesundheitsministeriums“, erklärt Bremers.

Auch andere Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder das Deutsche Rote Kreuz helfen weiterhin vor Ort. „Es ist ein trauriger Jahrestag, doch für uns ist klar: Wir helfen den Betroffenen in der Ukraine so lange, wie sie Unterstützung benötigen“, sagte etwa Christian Reuter, Generalsekretär des DRK jetzt.

Spenden für die Hilfe in der Ukraine durch die verschiedenen Hilfsorganisationen können gebündelt etwa beim Spendenbündnis Aktion Deutschland hilft eingereicht werden. Auch nach zwei Jahren ist diese Hilfe immer noch wichtig, um die Not der Menschen in der Ukraine zu lindern.


Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Gesundheitskollaps

von Roland Mückschel am 23.02.2024 um 19:50 Uhr

Sehr schlimm, die armen Menschen tun mir leid.
Aber woher hätten unsere Politiker wissen sollen dass bei solchen umfangreichen Hilfslieferungen an Waffen
derartige Verwerfungen entstehen können.
Das konnte keiner ahnen.

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