60 Jahre Pille in Deutschland

Ethinylestradiol und Co.: Diese Wirkstoffe werden heute verwendet

Stuttgart - 01.06.2021, 07:00 Uhr

Am 1. Juni 1961 brachte Schering mit „Anovlar“ die erste Pille auf den westdeutschen Markt. (Foto: picture alliance / Sina Schuldt / dpa) 

Am 1. Juni 1961 brachte Schering mit „Anovlar“ die erste Pille auf den westdeutschen Markt. (Foto: picture alliance / Sina Schuldt / dpa) 


Heute vor 60 Jahren, am 1. Juni 1961, brachte das Berliner Pharmaunternehmen Schering mit „Anovlar“ die erste Pille auf den westdeutschen Markt. Sie war nur für verheiratete Frauen mit Erlaubnis ihres Ehemannes erhältlich. Die Schwangerschaftsverhütung war auch erstmal nur als Nebenwirkung angegeben. Die offizielle Indikation waren schmerzhafte Regelblutungen. Anlässlich des runden Geburtstags der Pille in Deutschland haben wir uns die heute verwendeten Wirkstoffe noch einmal angesehen.

Spricht man von der „Pille“ sind meist kombinierte orale Kontrazeptiva (KOK) gemeint. Sie enthalten eine Östrogen- und eine Gestagenkomponente. Daneben gibt es noch sogenannte Gestagen-only-Pills (GOP). Bei korrekter Einnahme weisen sie ebenfalls eine hohe kontrazeptive Effektivität auf. Durch die Abwesenheit einer Estrogenkomponente ist der Einfluss auf das Gerinnungssystem und damit das Thromboserisiko geringer als bei der Behandlung mit Kombinationspräparaten, außerdem können sie in der Stillzeit eingesetzt werden. Gerade zu Beginn kommt es allerdings häufiger zu Zwischenblutungen.

Wie wirkt die Pille?

Kombinierte orale Kontrazeptiva vermitteln ihre kontrazeptiven Eigenschaften im Wesentlichen durch drei Mechanismen:

  • Hemmung der Ovulation durch Suppression der FSH- und LH-Sekretion: Die erhöhte Estrogen-/Gestagen-Konzentration führt durch eine negative Rückkopplung auf die Hypothalamus-Hypophysen-Achse zu einer Senkung der Gonadotropin-Ausschüttung (LH und FSH) aus der Hypophyse. Infolgedessen wird der Eisprung, und somit auch die Befruchtung, verhindert.
  • Erschwerung/Hemmung der Einnistung: Da die Stimulation durch das luteinisierende Hormon fehlt, wird weniger Progesteron ausgeschüttet. Voraussetzung für eine erfolgreiche Nidation ist aber der Progesteron-induzierte drüsige Umbau des Endometriums. Des Weiteren kommt es auch zur Downregulation der Estrogen-Rezeptoren am Endometrium und somit auch zur Hemmung der Proliferation der Uterusschleimhaut.
  • Erhöhung der Viskosität des Zervixschleims: Die Zusammensetzung und Konsistenz des Zervixschleims verändert sich und erschwert so die Penetration und Einnistung der Spermien.

Reine Gestagenpräparate wirken auch über letzteren Mechanismus. Die meisten Gestagenpillen verhindern darüber hinaus auch den Eisprung und wirken somit, ähnlich wie die Kombinationspillen, als Ovulationshemmer.

Die Estrogenkomponente

Mestranol ist ein Prodrug des Ethinylestradiols und war in der weltweit ersten Pille „Enovid“ enthalten. Zurzeit ist kein Kombinationspräparat mit Mestranol auf dem Markt.

Ethinylestradiol (EE) ist das mit Abstand am häufigsten verwendete synthetische Estrogen in kombinierten Pillen. Sie enthalten in der Regel 20 bis 35 µg Ethinylestradiol. Bei einer Ethinylestradiol-Konzentration unter 50 µg nennt man die kombinierten oralen Kontrazeptiva auch Mikropillen.

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Es handelt sich dabei um ein Derivat des natürlich vorkommenden Estradiols, das an der 17α-Position eine Ethinylgruppe trägt. Das in der ersten Pille eingesetzte Mestranon ist ein Prodrug von EE. Im Unterschied zum natürlich vorkommenden weiblichen Sexualhormon Estradiol hat es eine höhere orale Bioverfügbarkeit und eine verstärkte biologische Aktivität. Letztere basiert zum einen auf einem verlangsamten Abbau durch die 17-β-ol-Dehydrogenase und zum anderen auf einer stabileren Bindung von Ethinylestradiol an Estrogenrezeptoren. Die 17-β-ol-Dehydrogenase katalysiert den Abbau von Estradiol zu Estron. Estron zeichnet sich durch eine geringere Affinität zum Estrogenrezeptor aus und somit durch eine geringere biologische Aktivität. Die höhere Stabilität von Ethinylestradiol führt somit zu einer höheren biologischen Aktivität.

Estradiolvalerat ist ein Prodrug von Estradiol, das zu Estradiol und Valeriansäure metabolisiert wird. Die Veresterung mit Valeriansäure erhöht die orale Bioverfügbarkeit. Im Vergleich zu ethinylestradiolhaltigen Präparaten führen Estradiol und Estradiolvalerat zu geringerer Leberenzyminduktion und geringerer Beeinflussung der Hämostase. Pillen, die diese als „natürlich“ beworbene Estrogenkomponente haben, sollen ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen. Die verfügbaren Daten reichen aber für eine finale Aussage zum Thromboembolierisiko nicht aus.

Estetrol: sonst nur in der Schwangerschaft nachweisbar, jetzt zur Verhütung zugelassen

Estetrol ist das neueste Mitglied in der Familie der synthetischen Estrogene. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) hat im Ende März eine positive Stellungnahme für ein neues, kombiniertes orales Kontrazeptivum mit 15 mg Estetrol (E4) und 3 mg Drospirenon (DRSP) abgegeben. Die Europäische Kommission hat am 20. Mai 2021 Drovelis (Drospirenon und Estetrol) die Zulassung erteilt. 

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Die belgische Firma Mithra, die es entwickelt hat, wirbt für Estetrol als eine „Answer from Nature“, da es sich um ein natürlich vorkommendes Estrogen handelt – es wird aber nur in der Schwangerschaft nachgewiesen. Das Hormon zeichnet sich im Vergleich zu den anderen im weiblichen Organismus vorkommenden Estrogenen durch eine zusätzliche Hydroxyl-Gruppe an der Position 15 aus. Nach oraler Einnahme hat es mit 20 bis 24 Stunden eine deutlich längere Halbwertszeit als beispielsweise Estradiol (ein bis zwei Stunden bzw. zehn bis zwölf Stunden für mikronisiertes Estradiol), außerdem ist die Affinität zum Estrogenrezeptor geringer. 

Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass zudem Estetrol nur unwesentlich in beispielsweise Estradiol oder Estriol umgewandelt, sondern lediglich glucuronidiert bzw. sulfatiert und über die Nieren ausgeschieden wird. Diese günstige Pharmakokinetik in Kombination mit dem schwachen Agonismus machten Estetrol daher zu einem interessanten Kandidaten, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis von hormonellen estrogenhaltigen Präparaten zu verbessern.

Die Gestagenkomponente

Die Gestagenkomponente spielt eine wesentliche Rolle bei der Auswahl des Präparats, zum einen hat sie – neben der Estrogendosis – Auswirkungen auf das Thrombosrisiko. Zum anderen nutzt man die Nebenwirkungen der Gestagenkomponente gezielt aus, indem man beispielsweise Wirkstoffe mit antiandrogener Komponente bei starker Akne, Seborrhoe oder Androgenisierungserscheinungen, wie Hirsutismus, einsetzt. Um die Sicherheit und Verträglichkeit der oralen hormonellen Kontrazeptiva zu optimieren, wurden in den vergangenen rund 50 Jahren zahlreiche neue Gestagene entwickelt.

Von androgen bis antimineralcorticoid: Gestagene und ihre Wirkprofile

Pillen-Gestagenandrogenantiandrogenestrogenantiestrogenantimineralcorticoid
Norethisteronacetat+++
Levonorgestrel++
Desogestrel++
Gestoden++
Norgestimat++
Dienogest++
Chlormadinonacetat++
Cyproteronacetat++++
Drospirenon++++

Thromboserisiko ­– eine Generationenfrage

Gestagene werden üblicherweise in Generationen eingeteilt:

1. 
Generation
2. 
Generation
3.
Generation
Unklassifiziert
NorethisteronLevonorgestrelDesogestrelDrospirenon
NorethisteronacetatNorgestrelEtonogestrelCyproteronacetat
LynestrenolNorgestrionGestodenChlormadinonacetat
Dienogest Norgestimat 

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Das Thromboserisiko zwischen den „Generationen“ ist durchaus unterschiedlich, wie mehrere Studien zeigen. Als risikoarm gelten Pillen mit Levonorgestrel und Norethisteron. Bei Kombipillen mit Gestagenen der dritten Generation (Desogestrel, Gestoden, Norgestimat) wurde hingegen ein höheres Thromboserisiko als bei solchen der zweiten Generation festgestellt. Die EMA hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Kombinationen unter die Lupe genommen.

Das BfArM rät insbesondere bei Frauen unter 30 Jahren, Levonorgestrel-haltige kombinierte orale Kontrazeptiva zu bevorzugen und weist in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, dass Verhütungspillen keine Lifestyle-Produkte sind, sondern Arzneimittel, die mit Risiken verbunden sein können. Die Verordnung dürfe nicht aus kosmetischen Gründen erfolgen.



Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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