Brexit um Mitternacht

„No Deal-Brexit“ ist nicht aufgehoben, sondern vielleicht nur aufgeschoben

Remagen - 31.01.2020, 17:30 Uhr

Das Vereinigte Königreich tritt am morgigen Samstag aus der EU aus. Auf der Straße vor dem Buckingham Palace in London wurden Union Jacks aufgehängt. (Foto: imago images / ZA Images)

Das Vereinigte Königreich tritt am morgigen Samstag aus der EU aus. Auf der Straße vor dem Buckingham Palace in London wurden Union Jacks aufgehängt. (Foto: imago images / ZA Images)


Pharmahandel zwischen EU und UK jetzt schon geschrumpft

Laut einem aktuellen Markteinblick von Germany Trade and Invest (GTAI) gehört Großbritannien zu den zehn größten Pharmamärkten weltweit. Nach der Automobilbranche ist der Arzneimittelsektor der zweitgrößte Industriezweig im Land. In der nationalen Forschungslandschaft soll die Pharmabranche sogar das „Flaggschiff“ sein. Analysten von Fitch Solutions geben laut GTAI zu bedenken, dass ein EU-Austritt ohne Freihandelsabkommen schwerwiegende Folgen für den britischen Pharmamarkt und die lokalen Unternehmen hätte. Schon jetzt wirke sich das „Hin und Her um den Brexit“ negativ auf den deutsch-britischen Pharmahandel aus, schreibt GTAI weiter. Nach Analysen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln sollen die gegenseitigen Pharmaimporte im Zeitraum 2015 bis 2018 bereits deutlich gefallen seien. Dabei sei die deutsche Abhängigkeit von Einfuhren aus UK geringer ist als umgekehrt.

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Sorgen und Wünsche der Pharmahersteller

Die Branchenverbände der Pharmaunternehmen bleiben allerorten alarmiert. Der Verband der britischen pharmazeutischen Industrie (ABPI) befürchtet einen erschwerten und kostspieligen Zugang zum europäischen Markt nach dem Austritt, sollte es keine Vereinbarung geben. Ähnliche Sorgen treiben auch die deutschen Pharmaproduzenten um. In einer aktuellen Pressemitteilung fordert der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) von den Verhandlungspartnern, die kommenden elf Monate dazu zu nutzen, praktikable Regularien für eine sichere Arzneimittelversorgung zu vereinbaren.

„Für Arzneimittelhersteller ist die Phase des Übergangs in einen hoffentlich geregelten finalen Brexit ab dem 1. Januar 2021 maßgeblich für die künftigen Handelsbeziehungen mit Großbritannien“, betont Elmar Kroth, BAH-Geschäftsführer Wissenschaft. Auf der Wunschliste der Pharmaindustrie steht ein umfassendes gegenseitiges Anerkennungsabkommen (Mutual Recognition Agreement - MRA). Darin sollen beispielsweise die Anerkennung von Zertifikaten für die Herstellung und Freigabe von Arzneimitteln ebenso geregelt werden wie weitergehende Abmachungen zum Import und Export von Fertigarzneimitteln, deren Zwischenprodukten sowie von Wirk- und Hilfsstoffen.

„Hoffnungen ruhen auf einem soliden Handelsabkommen“

„Beide Länder sind Schrittmacher unserer Branche in Europa“, betont der Präsident des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) Han Steutel. „Das wird auch nach dem Brexit so bleiben. Und deshalb haben auch beide Länder ein vitales Interesse daran, neue Formen der Zusammenarbeit zu finden. Jetzt ruhen alle Hoffnungen auf einem soliden Handelsabkommen zwischen London und Brüssel."

„Jetzt wird es erst richtig kritisch“

Laut dpa schauen auch führende deutsche Wirtschaftsforscher weiter mit Sorge auf den Austritt Großbritanniens aus der EU. „Das Brexit-Drama wird nach dem 31. Januar leider nicht vorbei sein - eher im Gegenteil: Jetzt wird es erst richtig kritisch“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher gegenüber der dpa. Er hält den Zeitplan für viel zu ambitioniert. Bestenfalls hätten beide bis zum Jahresende einen notdürftigen Freihandelsvertrag ausgehandelt, so seine Mutmaßung. Ansonsten komme der harte No-Deal-Brexit, und der dürfte teuer werden, denn er bedeute höhere Preise, weniger Handel und weniger Arbeitsplätze. Auch der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) Michael Hüther rechnet laut dpa bis Dezember allenfalls mit einem einfachen Freihandelsabkommen über den Warenverkehr. Das werde aber Finanz- oder Transportdienstleistungen ebenso wenig regeln wie zum Beispiel den Datenaustausch, gibt er zu bedenken. Hüther verweist in diesem Zusammenhang auf das Abkommen der EU mit Kanada, über das fünf Jahre lang verhandelt worden sei. Die notwendige Ratifizierung in jedem EU-Land habe noch weitere zwei Jahre in Anspruch genommen.

Zeit für ein möglichst umfassendes Abkommen nehmen

Derzeit stehen die Zeichen zwischen der EU und UK weiterhin eher auf Konfrontation. „Wenn beide sich nicht bewegen, wird es kein Abkommen geben“, glaubt Hüther. Der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo Clemens Fuest rät beiden Seiten dringend, sich Zeit zu nehmen, um ein möglichst umfassendes Abkommen auszuhandeln. In dieser Zeit sollten die Briten im Binnenmarkt bleiben. Eine Verlängerung der Übergangszeit sei schließlich möglich.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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