Experten fordern Weiterentwicklung

Brauchen innovative Arzneimittel innovative Zulassungsverfahren?

Remagen - 22.06.2018, 15:45 Uhr

Arzneimittelentwicklung hat sich verändert, müssen sich deswegen auch die verfahren zur Zulassung ändern? (Foto: imago)

Arzneimittelentwicklung hat sich verändert, müssen sich deswegen auch die verfahren zur Zulassung ändern? (Foto: imago)


Der Trend geht weg von Therapien für große Kollektive hin zu spezifischen, heterogenere Indikationen und viel kleineren Patientenpopulationen. Sind damit unsere etablierten Verfahren für die Entwicklung und Verkehrsgenehmigung neuer Arzneimittel ein Auslaufmodell? Manche Experten halten zumindest das derzeitige System für nicht flexibel und effizient genug. Kritiker halten eine Aufweichung der geltenden Standards für bedenklich. 

Ein neues Biologikum zur Marktreife zu bringen, dauert heute etwa zehn bis fünfzehn Jahre. Die damit verbundenen Kosten sind sprunghaft angestiegen, auf einen Durchschnitt von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar an Auslagen und Opportunitätskosten. Seit Jahren klaffen die Investitionen in F&E und die Zahl der neu zugelassenen innovativen Arzneimittel weit auseinander (Innovation gap). Das Branchenportal Pharma Boardroom fragt nach den Hintergründen dafür und lässt Experten mit ihren Ideen zu Wort kommen, wie man es besser machen könnte. Einige glauben, es sei am einfachsten, auf eine weitgehende Deregulierung zu setzen und die Einmischung von Kontrollinstanzen zurückzuschrauben. Andere fordern ein generelles Umdenken für den Regulierungsprozess.

Auf Probe billiger zu haben

Tim Shannon zum Beispiel, Gesellschafter bei dem Venture Capital-Unternehmen Kanaan, hat eine recht revolutionäre Idee. Er könnte sich vorstellen, dass einige verschreibungspflichtige Medikamente zunächst für einen bestimmten Zeitraum, in dem nur ihre Sicherheit nachgewiesen ist, zu einem ermäßigten Preis auf den Markt kommen könnten. Stellt sich bei einem solchen kontrollierten Einsatz heraus, dass sie wirken, so könnten die Preise entsprechend erhöht werden. „Das System, das wir jetzt haben, ist fünfzig bis siebzig Jahre alt“, moniert Shannon, „und es ist unerschwinglich teuer geworden.“ Es sei an der Zeit, die Spielregeln zu überdenken, so seine Forderung. 

Sind adaptive Studien die Zukunft?

Mit dieser Auffassung ist Shannon nicht alleine. Eine wachsende Zahl von Akteuren der Branche kritisiert laut Pharma Boardroom die zunehmende Überalterung des Standard-Regimes für die klinische Entwicklung. „Ein großer Teil des Kostenanstiegs ist der Navigation durch die traditionellen Phase I bis Phase IV-Studien zuzuschreiben“, sagt Steve Cutler von der klinischen Forschungsorganisation ICON, die sich besonderen Kompetenzen auf dem Gebiet der Durchführung von sogenannten „adaptive trials“ erworben hat. „Adaptive klinische Studien können die Zeiträume bis zum Markteintritt reduzieren, Entwicklungskosten von Millionen Dollar sparen und den Patienten zu einem schnelleren Zugriff auf neue Therapien verhelfen“, meint Cutler. „Deshalb glauben wir, dass sie die Zukunft sind.“

Vorteile eines strengen regulatorischen Systems

Interessanterweise forderten jedoch viele große Hersteller von Originalarzneimitteln einen gemäßigteren Kurs, schreibt Pharma Boardroom weiter. Die Pharmaindustrie sehe auch klare Vorteile eines effizienten, strengen regulatorischen Systems, wie das der FDA, denn damit kämen Therapien mit einem gewissen Maß an Sicherheit und Wirksamkeit auf den Markt. „Die Menschen argumentieren häufig, die FDA sei zu restriktiv“, erklärt Roger Perlmutter, Leiter der Abteilung für Forschung und Entwicklung von MSD. „Aber wir haben eigentlich das Gefühl, dass die Balance stimmt, denn wir halten es für ausnehmend wichtig, dass die Arzneimittel ein gut charakterisiertes Nutzen-Risiko-Profil besitzen.“ 

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FDA zum Umdenken bereit

Wie auch immer, die Einsicht, dass es so wohl nicht weiter gehen kann, ist auch bei den Zulassungsbehörden vorhanden: „Wir müssen dringend etwas tun, um den gesamten Prozess kostengünstiger und effizienter zu gestalten“, sagt FDA Commissioner Scott Gottlieb. „Andernfalls werden wir den praktischen Nutzen des wissenschaftlichen Fortschritts in Form von neuen und besseren Medikamenten nicht realisieren können. Wir akzeptieren, dass Business as usual keine Lösung mehr ist und dass wir uns als Organisation entwickeln müssen, um mit den neuesten Trends Schritt zu halten“, fügt der Chef der US-Zulassungsbehörde an. Deshalb engagiere sich die FDA für die Modernisierung der Art und Weise, in der klinische Daten erhoben werden. Hierbei hält Gottlieb den vermehrten Einsatz adaptiver Ansätze mit kombinierten Studien-Phasen oder nahtlose Studien ebenfalls für vorstellbar. 

Auch in Europa ist diese Idee übrigens nicht neu. So hat die Europäische Arzneimittelagentur bereits im März 2014 ein Pilotprojekt zu adaptiven Wegen (adaptive pathways) für die Arzneimittelentwicklung und die Generierung klinischer Daten auf den Weg gebracht. Hiermit sollen zunächst Arzneimittel für einen ungedeckten medizinischen Bedarf schneller zum Patienten kommen.

Kritiker wie beispielsweise der stellvertretende Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Stefan Lange, warfen ein, dass hiermit der bestehende Zulassungs-Konsens aufgekündigt würde und hoch verzerrte Daten entstehen könnten.  Wenn die Arzneimittelbehörden mit Konzepten wie „Adaptive Pathways“ schnelle Zulassungen zum Regelfall machen wollen, gefährdeten sie die Sicherheit, so Lange im Interview mit DAZ.online.

Freie Forschung im „Sandkasten” und Kritik an schnellen Zulassungen

Einen interessanten regulatorischen Ansatz gibt es in Singapur. Hier soll zur Förderung von Innovationen eventuell ein “regulatorischer Sandkasten” etabliert werden. In diesem Sandkasten sollen Unternehmen Innovationen für einen gewissen Zeitraum in einer gesicherten „lebendigen Umgebung“ ohne die volle Belastung der üblichen rechtlichen Einschränkungen erproben können. Für den Verbraucherschutz soll dabei gesorgt sein. Die Versuchsphase soll durch Kliniker, praktische Ärzte, die Industrie und andere Stakeholder sowie die Behörden begleitet werden, die bei dieser Gelegenheit dann auch gleich die passenden Vorgaben entwickeln könnten, um die Innovation zur Marktreife zu bringen.  

Kritik an aktuellen Verfahren für schnelle Zulassung

Bereits heute haben Behörden die Möglichkeit, Arzneimittel schneller zuzulassen, wenn sie zu dem Schluss kommt, es handle sich um einen Therapiedurchbruch (Breakthrough-Status). Allerdings bemängelten Wissenschaftler von der „London School of Economics“ (LSE) zusammen mit US-amerikanischen Kollegen der University of Pennsylvania und der Universität Stanford im vergangenen Jahr, dass aufgrund schneller Zulassungsverfahren in vielen Fällen Arzneimittel auf den Markt kämen, für die es keine ausreichende Evidenz gebe.

Vor knapp zweieinhalb Jahren war die FDA auch stark kritisiert worden, da sie bei schnellen Zulassungen nicht ausreichend ihren Prüfpflichten nachkam: Eigentlich ist die Behörde beispielsweise verpflichtet, vierteljährliche Berichte zu Sicherheitsproblemen herauszugeben, doch im Jahr 2015 war dies offenbar kein einziges Mal erfolgt. Ein im Januar 2016 von einer US-Behörde vorgelegter Bericht des GAO bestätige größte Sorgen, „dass der FDA die grundlegenden Mittel und Aufsichtsmöglichkeiten fehlen, um sicherzustellen, dass schnell auf den Markt gebrachte Arzneimittel tatsächlich sicher und effektiv sind“, hatte die demokratische Kongressabgeordnete Rosa DeLauro damals erklärt. 



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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