Frühe Nutzenbewertung

Pharmaindustrie will Patientenperspektive in der Nutzenbewertung

Berlin - 13.06.2017, 10:10 Uhr

Pharmahersteller sorgen sich um ihre Forschung – werden ihre neuen Arzneimittel die frühe Nutzenbewertung bestehen? (Foto: Bayer)

Pharmahersteller sorgen sich um ihre Forschung – werden ihre neuen Arzneimittel die frühe Nutzenbewertung bestehen? (Foto: Bayer)


Die 2011 eingeführte frühe Nutzenbewertung für neue Arzneimittel sollte aus Sicht der Pharmaindustrie dringend überarbeitet werden: Das Verfahren ist hoch komplex und die Grenzen der Methodik sind erreicht, erklärten Experten aus Ökonomie und Wirtschaft auf einer Veranstaltung des Pharmakonzerns Bayer. Der Gesundheitsökonom Axel Mühlbacher plädiert insbesondere dafür, Entscheidungskriterien aus Patientensicht stärker einzubeziehen. 

Die mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eingeführte frühe Nutzenbewertung galt von Anbeginn als „lernendes System“ und ist im Laufe der vergangenen Jahre bereits einige Male nachjustiert worden. Der Ruf nach Nachbesserung lässt auch weiterhin nicht nach. Das zeigte ein von Bayer veranstaltetes Pressegespräch zum Thema „Arzneimittel-TÜV auf dem Prüfstand“ am gestrigen Montag in Berlin. Der Pharmakonzern Bayer, der selbst einige onkologische Präparate in der Entwicklungs-Pipeline hat, hat selbstverständlich auch Interesse daran, dass seine neuen Arzneimittel eine Chance auf dem deutschen Markt bekommen.

Axel Mühlbacher, Professor für Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement an der Hochschule Neubrandenburg, betonte, dass die Grenzen der vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) aufgestellten Methoden erreicht seien. Das Problem: Die Kriterien für die Bewertung mögen noch transparent sein – doch wie werden sie gewichtet? Wie viel zählt die verlängerte Lebenszeit, wie stehen dazu möglicherweise stärkere Nebenwirkungen und was wiegt eine einfachere Anwendung – zum Beispiel eine Tablette statt einer Spritze? Ein Dossier, das der Hersteller für die Nutzenbewertung einreichen muss, sei keine klinische Studie, für die klar definierte wissenschaftliche Standards gelten. 

Frühe Nutzenbewertung als Zehnkampf

Mühlbacher verglich die Frühe Nutzenbewertung mit einem Zehnkampf, bei dem der Sportler den Algorithmus der Bewertung nicht kennt. „Niemand würde hierfür trainieren“, erklärte er. Jeder Sportler wolle wissen, wie die einzelnen Disziplinen gewichtet sind. Auch für die Frühe Nutzenbewertung lasse sich sagen: Allein das Messen von Daten ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine transparente Entscheidungsfindung. Dabei ist zu bedenken, dass die Bewertung von Arzneimitteln hochkomplex ist. Hier sind mehrere Stakeholder beteiligt – und die Entscheidungen werden überwiegend aus der Expertenperspektive beurteilt. Nicht immer können dabei alle Informationen und Teilaspekte berücksichtigt werden. Das macht es schwer, optimale Lösungen zu finden.

Insbesondere ist Mühlbacher überzeugt, dass eine Frage bislang weitgehend unbeantwortet bleibt: Welche Entscheidungskriterien sind aus Patientensicht wichtig und wie werden diese gegeneinander gewichtet? Denn diese seien nicht zwangsläufig deckungsgleich mit denen der  Experten. Dabei solle bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien der zu erzielende Patientennutzen eine zentrale Größe sein. Schließlich haben die Patienten möglicherweise nicht nur eine um einige Monate verlängerte Lebenszeit vor Augen, wenn sie ein neues Arzneimittel einnehmen, sondern müssen gegebenenfalls auch mit erschwerten Nebenwirkungen rechnen.

In den USA werde dieser Ansatz zunehmend diskutiert, erklärte Mühlbacher. In Deutschland sei man jedoch noch weit entfernt von einer regelhaften und systematischen Berücksichtigung von wissenschaftlichen Studien zu Patientenpräferenzen – auch wenn das IQWiG schon drei Pilotstudien durchgeführt habe, die sich mit der Bewertungsmethodik verschiedener Kriterien befassen.

Auch der Einfluss auf das Fortschreiten der Erkrankung zählt

Auch Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, verwies darauf, dass sich in der Diskussion über Bewertungsverfahren für neue Arzneimittel die unterschiedlichen Vorstellungen und Sichtweisen von Arzneimittelentwicklern, gemeinsamer Selbstverwaltung und Klinikern widerspiegeln. Wie die Endpunkte gewichtet werden, hält er für besonders essenziell, wenn an dem Verfahren nachjustiert wird. Als problematisch hätten sich immer wieder die Wahl der zweckmäßigen Vergleichstherapie und die zur Bewertung herangezogenen unterschiedlichen klinischen Endpunkte wie krankheitsfreies Überleben, progressionsfreies Überleben, Lebensqualität und Gesamtüberleben erwiesen.

Gerade das progressionsfreie Überleben findet seines Erachtens nach zu wenig Aufmerksamkeit. Dabei sei für den Arzt oft schon ein Erfolg, wenn das Arzneimittel das Wachstum des Tumors, also das Fortschreiten der Erkrankung, beeinflussen kann – das Überleben an sich sei nicht unbedingt sein erster Zielpunkt. Deshalb fordert Bruns, „wenn es bei einem Medikament aus der Zulassung Hinweise darauf gibt, dass es das progressionsfreie Überleben verbessert, dann ist das ein Grund, seinen Einsatz in Erwägung zu ziehen."

Doch bei der in Deutschland praktizierten frühen Nutzenbewertung stehe die Kostenperspektive im Vordergrund. Ein Zusatznutzen werde erst anerkannt, wenn ein neues Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Standard das Gesamtüberleben deutlich verbessere. Diese Diskrepanz mache deutlich, dass die Perspektiven in der konkreten Versorgungssituation oft nur sehr schwer mit Kostenüberlegungen vereinbar sind. „Für das Auseinanderdriften der gesetzlich geforderten Zulassung und der Erfüllung von Ansprüchen für die Kostenerstattung eines Medikamentes muss eine Lösung gefunden werden“, sagte Bruns.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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