Arzneimittel und Therapie

Antidepressiva als Co-Analgetika sinnvoll?

Individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung bei chronischen Schmerzen ratsam

Ob die Mehrzahl an Schmerzpatienten von Antidepressiva profitiert, ist fraglich: Ausschließlich für Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) konnte eine Wirksamkeit mit moderater Evidenz bei Rückenschmerzen, Fibromyalgie, postoperativen und neuropathischen Schmerzen belegt werden. Dies geht aus einer Übersichtsarbeit eines Forscherteams der University of Sydney hervor. Die am häufigsten bei chronischen Schmerzen verschriebenen Antidepressiva – Tri­zyklika – waren nur mit niedriger Evidenz bei drei Schmerzzuständen wirksam.

Etwa 20% der Weltbevölkerung leiden unter chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen, zu denen am häufigsten Rücken- und Kopfschmerzen zählen. Ein wirksames Schmerzmanagement ist angesichts der Vielfalt an Schmerzzuständen eine komplexe, interdisziplinäre Herausforderung. In zunehmendem Maße kommen Anti­depressiva, teilweise off label, zum Einsatz, bei denen es sich in drei Viertel der Fälle um Trizyklika handelt [1]. In Deutschland sind vereinzelt Anti­depressiva bei chronischen Schmerzen indiziert (siehe Kasten „Gegen chronische Schmerzen zugelassene Antidepressiva“).

In der britischen Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) wird ausdrücklich von einer Analgetika-basierten Behandlung chronischer primärer Schmerzen abgeraten. Eine Therapie mit Antidepressiva könne nach einer Nutzen-­Risiko-Abwägung in Betracht gezogen werden [2].

Foto: sebra/AdobeStock

Schmerzen gelten als chronisch, wenn sie länger als drei Monate bestehen.

Umbrella Review liefert komprimierten Überblick

Die australischen Wissenschaftler nahmen dies zum Anlass, die Wirksamkeit von Antidepressiva bei einem breiten Spektrum an chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzarten zu überprüfen [1]. In Form eines Umbrella Reviews bündelten sie die Ergebnisse bereits publizierter systematischer Übersichtsarbeiten aus den Jahren 2012 bis 2022. Ein­geschlossen wurden alle systematischen Reviews, die placebokontrollierte Antidepressiva-Therapien bei einem chronischen Schmerzzustand beinhalteten.

Als primärer Endpunkt galt die Wirksamkeit gegen Schmerzen, quantifiziert auf einer Skala von 0 (keine Schmerzen) bis 100 (stärkste Schmerzen), dargestellt als Mittelwertdifferenz (MD) oder als relatives Risiko (RR) bei dichotomen Ergebnissen.

Zu den sekundären Endpunkten zählten Sicherheit und Verträglichkeit der Behandlung. Die Bewertung der Evidenzqualität erfolgte nach den GRADE-Kriterien (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation). Moderate Qualität der Evidenz bedeutet, dass der be­obachtbare Effekt wahrscheinlich den wahren Effekt abbildet. Eine niedrige Evidenzqualität besagt dagegen, dass der beobachtbare Effekt wesentlich vom wahren Effekt abweichen kann [3].

26 Reviews wurden zur Auswertung zugelassen. Diese umfassten 156 Studien mit insgesamt mehr als 25.000 Probanden und lieferten 42 Verum-Placebo-Vergleiche von acht Antidepressiva-Klassen bei 22 chronischen Schmerzzuständen.

Gegen chronische Schmerzen zugelassene Antidepressiva

Folgende Antidepressiva sind in Deutschland indiziert zur Therapie von chronischen Schmerzen:

  • Duloxetin (z. B. Cymbalta®) gegen Schmerzen bei diabetischer Polyneuropathie
  • Amitriptylin (z. B. Amineurin®) gegen neuropathische Schmerzen sowie zur Prophylaxe von chronischen Spannungskopfschmerzen und Migräne
  • Clomipramin (z. B. Anafranil®) und Imipramin (Imipramin-neuraxpharm®) zur langfristigen Schmerzbehandlung im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts

[Quelle: Fachinformationen]

Drei Antidepressiva-Klassen sind begrenzt wirksam

Bei 11 Vergleichen konnte eine Wirksamkeit von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen gezeigt werden. Ausschließlich Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) führten zu einer Schmerzreduktion mit moderater Evidenz:

  • Duloxetin bei Rückenschmerzen (MD = -5,3; 95%-Konfidenzintervall [KI] = -7,3 bis -3,3),
  • Duloxetin und Milnacipran bei Fibromyalgie (RR = 1,4; 95%-KI = 1,3 bis 1,6),
  • Duloxetin und Venlafaxin bei postoperativen Schmerzen (MD = -7,3; 95%-KI = -12,9 bis -1,7) und
  • Duloxetin, Milnacipran, Venlafaxin und Desvenlafaxin bei neuropathischen Schmerzen (MD = -6,8; 95%-KI = -8,7 bis -4,8).

Mit nur niedriger Evidenz waren Antidepressiva bei folgenden Schmerz­zuständen wirksam:

Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)

  • Duloxetin bei Schmerzen durch eine Aromatase-Hemmer-Therapie bei Brustkrebs
  • Duloxetin, Venlafaxin und Des­venlafaxin bei Depressionen mit komorbiden Schmerzen
  • Duloxetin und Milnacipran bei Kniearthrose

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

  • Paroxetin, Fluoxetin und Escitalopram bei Depressionen mit komorbiden Schmerzen

Trizyklika

  • Amitriptylin, Nortriptylin, Doxepin und Desipramin bei Schmerzen im Rahmen eines Reizdarmsyndroms
  • Amitriptylin bei chronischen Spannungskopfschmerzen
  • Amitriptylin, Desipramin, Imipramin, Maprotilin und Nortriptylin bei neuropathischen Schmerzen.

Für keine Schmerzart erfolgte die Bewertung der analgetischen Wirkung mit hoher Evidenz.

Bei weiteren 31 Vergleichen war eine Wirksamkeit nicht nachweisbar (fünf Vergleiche) oder nicht schlüssig (26 Vergleiche). Das Sicherheitsprofil bewerteten die Wissenschaftler aufgrund nicht aussagekräftiger Daten als unbekannt. Es zeigten sich jedoch Hinweise für eine erhöhte Inzidenz unerwünschter Ereignisse.

Mögliche Verzerrungen

68% der Studien, welche die Wirksamkeit für Trizyklika belegen, wurden vor über 20 Jahren veröffentlicht und überschätzten wahrscheinlich laut einer neueren Untersuchung die Behandlungseffekte [4].

Zudem waren 68% der Studien, die zur Effektschätzung von SNRI beitrugen, mit der Industrie verbunden.

Mit Blick auf die Studienergebnisse kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass bei der Verschreibung von Antidepressiva gegen chronische Schmerzen „ein differenzierterer Ansatz“ erforderlich ist [1]. |

Literatur

[1] Ferreira GE et al. Efficacy, safety, and tolerability of antidepressants for pain in adults: overview of systematic reviews. BMJ 2023;380:e072415, doi: 10.1136/bmj-2022-072415

[2] Chronic pain (primary and secondary) in over 16s: assessment of all chronic pain and management of chronic primary pain. Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NG193), April 2021

[3] Balshem H, Helfand M, Schünemann HJ et al. GRADE guidelines: 3. Rating the quality of evidence. J Clin Epidemiol 2011;64(4):401-406, doi: 10.1016/j.jclinepi.2010.07.015

[4] Finnerup NB et al. Neuropathic pain clinical trials: factors associated with decreases in estimated drug efficacy. Pain 2018;159(11):2339-2346, doi: 10.1097/j.pain.0000000000001340

Apothekerin Judith Esch

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