Arzneimittel und Therapie

Was bei neuropathischen Schmerzen hilft

Aktualisierte S2k-Leitlinie nimmt erstmals auch Cannabinoide unter die Lupe

Neuropathische Schmerzen unterscheiden sich sowohl in ihrer Pathogenese als auch in ihrer Therapie deutlich von anderen Schmerz­arten. Eine sorgfältige Diagnostik und die passende Auswahl medikamentöser und nichtmedikamentöser Maßnahmen sind daher essenziell. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat ihre Empfehlungen dazu in ihrer aktualisierten S2k-Leitlinie „Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“ zusammengefasst.

Seit 2017 unterscheidet die International Association for the Study of Pain (IASP) drei Arten von Schmerzen nach ihrer Entstehung: Nozizeptive Schmerzen, noziplastische Schmerzen und neuropathische Schmerzen. Nozizeptive Schmerzen treten durch Aktivierung von Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) auf; noziplastische Schmerzen entstehen durch eine veränderte Wahrnehmung des Schmerzreizes, ohne dass dabei eine Gewebsschädigung droht oder besteht. Beiden Arten liegt also eine nozizeptive Stimulation zugrunde, das somatosensorische System ist prinzipiell intakt. Dagegen werden neuropathische Schmerzen durch Schädigungen oder Läsionen des Nervensystems hervorgerufen. Die resultierenden plastischen Veränderungen im peripheren und zentralen Nervensystem stören das Gleichgewicht zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Mechanismen sowie die absteigende Hemmung der Schmerzweiterleitung. Je nach Entstehungsort werden neuropathische Schmerzen in periphere und zentrale Schmerzen eingeteilt.

Neuropathische Schmerzen haben eine geschätzte Prävalenz von 6,9 bis 10% in der Gesamtbevölkerung. Oft treten bei den betroffenen Patienten sowohl „negative“ Symptome wie Taubheitsgefühl als auch „positive“ Symptome auf. Dazu zählen eine Schmerzüberempfindlichkeit (Hyperalgesie, Allodynie) sowie der Schmerz an sich. Der meist brennende Schmerz tritt spontan, insbesondere in Ruhe auf und ist typischerweise unabhängig von Belastung oder Bewegung. Das Vorliegen einer neuropathischen Komponente schließt jedoch nicht aus, dass zusätzlich eine nozizeptive Komponente besteht („mixed pain“).

Foto: k_yu – stock.adobe.com

Umfassende Anamnese nötig

In der Diagnose wird zwischen sicheren, wahrscheinlichen, möglichen und unwahrscheinlichen neuropathischen Schmerzen unterschieden. Die Einordnung erfolgt anhand des Vorliegens folgender Kriterien:

  • Ist die Anamnese mit einer relevanten Läsion oder Erkrankung des somato­sensorischen Systems ver­einbar?
  • Ist die Schmerzlokalisation neuroanatomisch plausibel?
  • Gibt es mindestens einen pathologischen Sensibilitätsbefund innerhalb des plausiblen Areals der Schmerz­ausbreitung?
  • Ließ sich eine relevante Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems mittels mindestens eines Untersuchungsverfahrens nachweisen?

Den Ausgangspunkt der Diagnostik bildet somit eine umfassende Anam­nese mit Erfassung von Beginn und Dauer der Schmerzen, zeitlichem Verlauf, Schmerzcharakter, Schmerzlokalisation, Schmerzstärke und auslösenden Faktoren sowie Komorbiditäten und Chronifizierungsgrad.

Die Leitlinie empfiehlt, dass zur qualitativen und quantitativen Charakterisierung der Schmerzen standardisierte Fragebögen eingesetzt werden. Zudem wird eine komplette neurologische Untersuchung als Grundlage für die weitere Diagnostik empfohlen. Weitere Untersuchungen wie quan­titative sensorische Testung, Haut­biopsien, Messung von Laser- und Schmerz-evozierten Potenzialen, korneale konfokale Mikroskopie und Axonreflextests können zusätzlich eingesetzt werden.

Wirkeintritt oft erst verzögert

Als Therapieziele werden eine Schmerzreduktion von mindestens 30%, eine Verbesserung von Schlaf- und Lebensqualität sowie Funktionalität und die Erhaltung sozialer Aktivität und Arbeitsfähigkeit angestrebt.

Bei allen medikamentösen Optionen gibt es Patienten, die nicht ausreichend auf die Therapie ansprechen oder unter nicht tolerierbaren Nebenwirkungen leiden. Eine komplette Schmerzfreiheit wird häufig nicht erreicht. Zudem tritt die Wirkung erst nach Eindosierung und oft mit zeitlicher Verzögerung ein. Darüber müssen Patienten aufgeklärt werden, um die Compliance zu verbessern.

In der medikamentösen Therapie werden die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin, systemische trizyklische Antidepressiva und der selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSNRI) Duloxetin als Mittel der ersten Wahl eingesetzt. Als zweite Wahl wird die topische Therapie mit Lidocain- oder Capsaicin-Pflastern empfohlen. Opioide sind wegen ihres Nebenwirkungs- und Abhän­gigkeitspotenzials nur dritte Wahl, ebenso wie der Einsatz von Botu­linumtoxin bei fokalen begrenzten Beschwerden. Für Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Ven­lafaxin gibt es nur wenig Evidenz bei neuro­pathischen Schmerzen. Im Einzelfall kann eine Verwendung ­jedoch in Betracht gezogen werden. Auch für Lacos­amid und Alpha-Liponsäure gibt es keine ausreichenden Wirksamkeits­belege.

Arzneimittel als Ursache

Verschiedene Wirkstoffe können Poly­neuropathien begünstigen. Dazu zählen antiretrovirale Substanzen, Chemotherapeutika (Cisplatin, Oxaliplatin, Taxane, Thiouracil, Vincristin), Disulfiram, Antibiotika (Ethambutol, Isoniazid, Nitrofurantoin, Chloramphenicol, Metronidazol), Thalidomid und Gold.

Keine generelle Empfehlung für Cannabinoide

Neu in die Leitlinie aufgenommen wurde die Bewertung der Cannabi­noide (Cannabisblüten, Cannabisextrakte, Dronabinol, Nabilon, Nabiximols): Nach Einschätzung der Leitlinienautoren ist die Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen als eher gering einzustufen und das Verträglichkeitsprofil tendenziell ungünstig. Ein Einsatz kann somit nicht generell empfohlen werden. Erfahren Patienten durch andere Maßnahmen jedoch keine ausreichende Linderung ihrer Beschwerden, so kann im Einzelfall im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts ein Therapieversuch (off label) erwogen werden.

Ausdrücklich abgeraten wird in der Leitlinie vom Einsatz einer ganzen Reihe von Wirkstoffen: Topiramat, Phenytoin, Levetiracetam, Milnacipran, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva wie Mirtazapin, NMDA-­Rezeptor-Antagonisten, Nicht-Opioid-Analgetika (nichtsteroidale Antirheumatika [NSAR], Coxibe, Paracetamol, Metamizol), Baclofen, Benzodiazepine und Amitriptylin-Salbe sollten nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden.

Als nichtmedikamentöse Unterstützung können psychotherapeutische Inter­ventionen und eine multimodale Schmerztherapie (psychologische Betreuung, Physiotherapie, Ergotherapie) angeboten werden. Für eine generelle Empfehlung der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) reicht die Evidenz nicht aus, in Einzelfällen kann der Einsatz jedoch in Betracht gezogen werden. |

Literatur

Schlereth T et al. Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen. S2k-Leitlinie 2019; In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. www.dgn.org/leitlinien; Abruf am 26. November 2019

Apothekerin Sarah Katzemich

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