Arzneimittel und Therapie

Ist Titandioxid schädlich oder nicht?

Was über das Weißpigment bekannt ist

Manche Hersteller werben neuerdings damit, dass ihre Produkte frei von Titandioxid (TiO2) sind. Dabei wird die Substanz seit Langem in vielfältiger Weise eingesetzt. Bisher galt Titandioxid als harmlos, woher also dieser plötzliche Wandel? Grund dafür ist eine Neubewertung des Stoffes durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, die zu dem Schluss kommt, dass ­Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff nicht mehr als sicher gelten kann. Welche neuen Daten liegen dieser Einschätzung zugrunde?

Als Lebensmittelzusatzstoff (E171), in Kosmetika wie Zahncreme (CI 77891), als UV-Filter in Sonnencreme, als weißes Pigment PW6 in Farben und Lacken und auch als Hilfsstoff in Arzneimitteln: Die Liste der Anwendungen für Titandioxid ist lang. Rund fünf Millionen Tonnen werden jedes Jahr weltweit produziert. In der Natur kommt es in den drei Modifikationen Anatas, Rutil und Brookit vor. E171 besteht aus Anatas und/oder Rutil. Die internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) stuft Titandioxid als möglicherweise karzinogen für den Menschen (Gruppe 2B) ein [1].

Foto: Anton84/AdobeStock

Partikelgröße ist entscheidend

Diese Einstufung beruht allerdings auf Inhalationsstudien mit Ratten, die lebenslang gegenüber fein verteilten ­Titandioxid-Nanopartikeln exponiert wurden. Die Tiere entwickelten ab ­Titandioxid-Konzentrationen von 10 mg/m3 in der Atemluft Lungentumore, hervorgerufen durch überschießende entzündliche Reaktionen ihres Körpers im Kampf gegen eine Überladung der Lunge mit den unlöslichen Titandioxid-Partikeln (siehe auch DAZ 2020, Nr. 7, S. 38: „TiO2 zu Unrecht verdächtigt?“). In einem oralen oder dermalen Expositionsszenario sind ähn­liche Effekte bisher nicht beobachtet worden. Titandioxid wird im Gastrointestinaltrakt kaum aufgenommen. Die systemische Absorption in Ratten und Mäusen beträgt weniger als ein Prozent. Da Titandioxid kaum abgebaut wird, kann es jedoch zu einer Akkumulation in manchen Geweben kommen. Entscheidend dafür ist auch die Partikelgröße, denn je kleiner ein Partikel ist, desto leichter kann er in Zellen eindringen. Eine genaue Charakterisierung des verwendeten Materials ist daher für die Aussagekraft einer toxikologischen Studie von kritischer Bedeutung. E171 hat keine einheitlich definierte Partikelgröße. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) schlug vor, dass E171 weniger als 50% Partikel mit einer Größe unter 100 nm enthalten darf [2].

Folgeuntersuchungen gefordert

In der letzten Bewertung aus dem Jahre 2016 sah die EFSA keinen Grund zur Besorgnis bei der Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff. Allerdings identifizierte das Gremium Datenlücken, die in den folgenden Jahren geschlossen werden sollten. Unter anderem sollte die Reproduktions- und Entwicklungstoxizität genauer untersucht werden. Kurz darauf veröffentlichten französische Toxikologen eine Studie, in der sie Ratten mit dem Trinkwasser gegenüber E171 exponierten. Die Tiere erhielten 100 Tage lang Titandioxid in Dosen von 0,2 mg/kg oder 10 mg/kg Körpergewicht. In der 10-mg/kg-Gruppe stellten die Forscher eine signifikant erhöhte Anzahl aberranter Krypten fest, also Veränderungen der Darmschleimhaut, die die ­Vorstufe einer Krebserkrankung sein können. Die Exposition rief bei den behandelten Tieren außerdem leichte Entzündungsreaktionen der Darmschleimhaut hervor. Das verwendete Titandioxid hatte eine Größenverteilung zwischen 20 und 340 nm, dabei waren 44,7% der Partikel kleiner als 100 nm [3]. In einer zwei Jahre später publizierten Studie konnten amerikanische Wissenschaftler diese Ergebnisse nicht reproduzieren. Bezüglich der Partikelgröße des von ihnen verwendeten Testmaterials herrscht allerdings Unklarheit. Der mittlere Partikeldurchmesser wird mit 110 bis 150 nm angegeben. Je nach Messmethode waren entweder 36% oder 1 bis 2 Prozent der Partikel kleiner als 100 nm [4].

DNA-Strangbrüche und Chromosomenschäden

In-vitro-Genotoxizitätsstudien an humanen Zelllinien deuten darauf hin, dass E171 mit einem Anteil von rund 40% Nanopartikeln DNA-Strangbrüche und Chromosomenschäden verursachen kann. Die Schäden traten auch auf, wenn die Zellen nur mit Nanopartikeln oder nur mit Mikropartikeln inkubiert wurden. Welcher Mechanismus die Brüche verursacht, ist unklar, genauso, ob eine unkritische Dosis existiert. Die Untersuchung, die an der Universität Maastricht durchgeführt wurde, zeigte außerdem, dass Titan­dioxid-Mikropartikel in einer zellfreien Umgebung reaktive Sauerstoffradikale erzeugen können [5]. Einen Hinweis, dass Titandioxid in vivo Mutationen erzeugen kann, fand die EFSA nicht. Um zu beurteilen, ob oral aufgenommenes Titandioxid Krebs hervorrufen kann, wären Langzeitstudien notwendig, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen würden. Auch Effekte auf Reproduktion und Entwicklung von Versuchstieren blieben aus.

In Frankreich bereits verboten

Die Datenlage ist also alles andere als eindeutig. Bestehende Unsicherheiten, besonders in Hinblick auf mögliche genotoxische Effekte und deren genaue Ursachen, konnten nicht abschließend aufgeklärt werden. Die EFSA betrachtet den Lebensmittelzusatzstoff Titandioxid daher nicht länger als sicher [6]. In die Bewertung flossen fast 12.000 wissenschaftliche Publikationen ein. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat die Daten ebenfalls gesichtet und kommt zu einer ähnlichen Einschätzung wie die EFSA [7]. In Frankreich wurde die Verwendung der Substanz in Lebensmitteln 2020 bereits verboten. Da Titandioxid in so vielen alltäglichen Produkten vorkommt, ist die Verunsicherung der Verbraucher natürlich groß, wenn Schlagzeilen von einer vermeintlichen Krebsgefahr berichten. Möglicherweise erscheinen in den kommenden Jahren weitere Studien zu dem Thema, die den Verdacht erhärten. Doch selbst wenn neue Erkenntnisse das Informations-Gleichgewicht zugunsten von Titandioxid verschieben und die Vermutung entkräften, das Pigment könnte genotoxisch oder gar krebserregend sein, ist der Ruf des Stoffes in der Öffentlichkeit ruiniert. Die gute Nachricht ist, dass Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff keine unerlässliche Funktion erfüllt, sondern nur als Aufheller dient. Anders sieht es bei Arzneimitteln aus. Hier wird Titandioxid beispielsweise als Bestandteil von Beschichtungen genutzt, um lichtempfindliche Substanzen vor dem Abbau durch UV-Strahlung zu schützen. Wie Zahnpasta gelten Arzneimittel jedoch nicht als Lebensmittel und sind daher von den Warnungen der EFSA nicht betroffen. |

Literatur

[1] IARC Working Group. Monographs on the Evaluation of Carcinogenic Risks to Humans VOLUME 93: Carbon Black, Titanium Dioxide, and Talc. https://publications.iarc.fr/Book-And-Report-Series/Iarc-Monographs-On-The-Identification-Of-Carcinogenic-Hazards-To-Humans/Carbon-Black-Titanium-Dioxide-And-Talc-2010

[2] EFSA Panel on Food Additives and Flavourings (FAF). Scientific opinion on the proposed amendment of the EU specifications for titanium dioxide (E 171) with respect to the inclusion of additional parameters related to its particle size distribution. EFSA J. 2019;17(7):e05760. doi: 10.2903/j.efsa.2019.5760

[3] Bettini S et al. Food-grade TiO2 impairs intestinal and systemic immune homeostasis, initiates preneoplastic lesions and promotes aberrant crypt development in the rat colon. Sci Rep 2017;7:40373. doi: 10.1038/srep40373

[4] Blevins LK et al. Evaluation of immunologic and intestinal effects in rats administered an E 171-containing diet, a food grade titanium dioxide (TiO2). Food Chem Toxicol 2019;133:110793. doi: 10.1016/j.fct.2019.110793

[5] Proquin H et al. Titanium dioxide food additive (E171) induces ROS formation and genotoxicity: contribution of micro and nano-sized fractions. Mutagenesis 2017;32(1):139-149. doi: 10.1093/mutage/gew051

[6] EFSA Panel on Food Additives and Flavourings (FAF). Safety assessment of titanium dioxide (E171) as a food additive. EFSA J. 2021;19(5):e06585. doi: 10.2903/j.efsa.2021.6585

[7] Lebensmittelzusatzstoff Titandioxid (E 171) auf dem Prüfstand: Neubewertung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit. Mitteilung Nr. 014/2021 des BfR vom 6. Mai 2021

Ulrich Schreiber, M. Sc. Toxikologe

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