Arzneimittel und Therapie

Faltenfrei und sorgenlos?

Antidepressive Wirkung von Botulinumtoxin erneut untersucht

Bekannt ist Botulinumtoxin vor allem aus der kosmetischen Medizin, wo das neurotoxische Protein aus Stämmen der Bakterienspezies Clostridium botulinum zur Behandlung von Falten eingesetzt wird. Publikationen der letzten Jahre deuteten auf einen antidepressiven Effekt des Nervengiftes hin. In einer aktuellen Studie wurde dieser Effekt nun im großen Maßstab untersucht.

Mit einer Lebenszeitprävalenz in den Industrieländern von 8 bis 12% trägt die Depression einen sehr großen Beitrag zur globalen Gesundheitslast bei. Neben der Psychotherapie gehören vor allem Antidepressiva zur Standardbehandlung. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen, verspäteter Wirkungs­­­­eintritt, Angst vor Arzneimittelabhängigkeit und limitierte Wirksamkeit führen immer wieder zu schlechter Adhärenz und Therapieabbruch. Aber auch bei guter Verträglichkeit und ­Adhärenz kann die Symptomatik bei ca. einem Drittel der Patienten durch die Arzneimittel nicht oder nicht ausreichend verbessert werden. Ein vielversprechender neuer Therapieansatz könnte die Injektion von Botulinumtoxin (Botox®) sein. Im letzten Jahrzehnt deuteten Studien auf eine antidepressive Wirkung von Botulinumtoxin-Injektionen in die Stirnregion depressiver Patienten hin. Einige Faktoren limitieren jedoch die Aussagekraft dieser Studien. Die Gesamtzahl der Patienten ist gering, und eine verlässliche Verblindung ist aufgrund des offensichtlichen kosmetischen Effekts einer Botulinumtoxin-Injektion nicht möglich. Letzteres hat die Ergebnisse sehr wahrscheinlich zum einen durch die Erwartung (Placebo-Effekt), aber auch durch Enttäuschung (Nocebo-Effekt) auf der anderen Seite verzerrt. Auch ist nicht klar, wie groß der Einfluss des kosmetischen Effekts auf die Verbesserung der Symptomatik ist.

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Von den acht bekannten Botulinumtoxin-Subtypen werden derzeit nur die Typen A und B therapeutisch genutzt.

Die Facial-Feedback-Theorie

Über den Wirkmechanismus des Botulinumtoxin in Bezug auf Depressionen ist wenig bekannt. Die meisten Studien in der Vergangenheit konzentrierten sich auf die sogenannte Facial-Feedback-Theorie, die ein Zusammenspiel zwischen Emotion und Mimik beschreibt. Der Wirkstoff soll die Rückkopplungsschleife zwischen Mimik und negativen Emotionen unterbrechen. Ausgehend von dieser Theorie wurde Botulinumtoxin in den meisten Studien in die Stirn injiziert, um die Schlüsselmuskeln für den Ausdruck negativer Emotionen zu lähmen und dadurch das ­propriozeptive Feedback vom Gesicht zum Gehirn zu unterbrechen, wo die Emotionen sonst aufrechterhalten und verstärkt werden.

Eliminierung von Erwartungseffekten

In einer Studie wurde genau diese ­Limitationen thematisiert: In die Analyse flossen klinische Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen nicht nur von kosmetischen Botulinumtoxin-Behandlungen, sondern auch von der Behandlung einer ganzen Reihe anderer Indikationen ein. Dadurch wurde eine deutlich größere Patientenzahl eingeschlossen, die Erwartungseffekte im Hinblick auf antidepressive Effekte wurden eliminiert und weitere Injektionsorte eingeschlossen. Als Datengrundlage diente das FDA adverse event reporting System (FEARS), in dem weltweite klinische Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen gesammelt werden. Knapp 12,2 Millionen Berichte wurden hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen Behandlung mit Botulinumtoxin und Auftreten einer Depression oder depressiver Symptome analysiert.

Es scheint zu funktionieren

Die Patienten wurden abhängig von der behandelten Indikation in acht Kohorten geteilt: Kosmetische Behandlung, Migräne, Gliederkrämpfe oder Spasmen, Nackenschmerzen, unfreiwilliges Zwinkern, Hyperhidrose, übermäßiger Speichelfluss und Blasenfunktionsstörungen. In jeder Kohorte wurde dann die Unterkohorte, die mit Botulinumtoxin behandelt worden war, mit der Unterkohorte verglichen, die eine andere Behandlung für die gleiche Indikation erhalten hatte.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Patienten, die Botulinumtoxin erhielten, ein signifikant gesenktes Risiko für Depressionen hatten. Dieser Effekt zeigte sich nicht nur in der Kohorte für kosmetische Behandlungen (reporting odds ratio, [ROR] = 0,46; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,27 bis 0,78), sondern auch für Migräne (ROR = 0,6; 95%-KI 0,48 bis 0,74), Gliederkrämpfe oder Spasmen (ROR = 0,28; 95%-KI 0,18 bis 0,42), Nackenschmerzen (ROR = 0,3; 95%-KI: 0,20 bis 0,44), unfreiwilliges Zwinkern (ROR = 0,13; 95%-KI: 0,05 bis 0,39) und Hyperhidrose (ROR = 0,12; 95%-KI: 0,04 bis 0,33). Die Kohorten mit übermäßigem Speichelfluss und Blasenfunktionsstörungen zeigten ebenfalls eine Reduktion des Risikos, die Ergebnisse waren jedoch statistisch nicht signifikant.

Nervengift mit breiter Wirkung

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Botulinumtoxin, ein neurotoxisches Protein aus Stämmen der Bakterienspezies Clostridium botulinum, ist eines der stärksten Gifte überhaupt: Nicht einmal 20 Gramm der Substanz würden ausreichen, um die gesamte Erdbevölkerung auszurotten. Doch auch therapeutisch wird das Nervengift genutzt: Erstmals wurde es 1989 für Erkrankungen des Augenmuskels (Strabismus: Schielen und Blepharospasmus: Lidkrampf) zugelassen. Später wurde es für den kosmetischen Einsatz bekannt, und die Zulassung ­wurde um eine Reihe weiterer Indikationen, darunter Hyperhidrose, Migräne und Spasmen, erweitert. Die Wirkung von Botulinumtoxin in den genannten Indikationen beruht primär auf einer Hemmung der präsynaptischen Acetylcholin-Ausschüttung. Die Erregungsübertragung von Nerven- auf Muskelzellen wird folglich gehemmt, und es kommt zur Paralyse. Der Einsatz von Botulinumtoxin in den verwendeten Dosierungen gilt generell als sicher. Bekannte Nebenwirkungen sind lediglich Hypersensitivität oder lokale Reaktionen an der Injektionsstelle.

Verschiedene Mechanismen werden diskutiert

Da die antidepressive Wirkung unabhängig vom Ort der Injektion zu beobachten war, lassen die Ergebnisse einen komplexeren Wirkmechanismus des Botulinumtoxins als den durch die Facial-Feedback-Hypothese beschriebenen vermuten. Denkbar wäre zum Beispiel eine Beeinflussung des zentralen Nervensystems (ZNS) und dessen Einfluss auf unsere Emotionen durch einen zielgerichteten transneuronalen Transport von Botulinumtoxin vom Injektionsort ins ZNS. Ob Botulinumtoxin von allen Injektionsstellen zielgerichtet zu den gleichen ZNS-Strukturen transportiert wird, ist allerdings anzuzweifeln. Alternativ könnte die Botulinumtoxin-Injektion an den unterschiedlichen Körperstellen ähnliche neuroplastische Prozesse auslösen, ohne weit transportiert werden zu müssen. Eine systemische Verteilung des Arzneistoffs über den zentralen Blutkreislauf scheint wenig wahrscheinlich. Die zirkulierenden Mengen sind vermutlich sehr gering, außerdem sollte sich – würde der antidepressive Effekt über diesen Mechanismus verlaufen – eine konzentrationsabhängige Wirkung zeigen. Dies ist nicht zu beobachten, hohe Dosen (z. B. bei Spasmen der Extremitäten) und niedrige Dosen (z. B. bei krampfartigem Lidschluss) lassen sich im Hinblick auf die antidepressive Wirkung nicht unterscheiden. Bei der Interpretation der Ergebnisse stellt sich die Frage, inwieweit die Wirksamkeit des Botulinumtoxins in Bezug auf die primäre Indikation das Ergebnis beeinflusst. Bei allen untersuchten Indikationen handelt es sich um chronische Erkrankungen, die für Patienten sehr belastend sein können. Sekundäre psychische Erkrankungen wie Depression können die Folge sein. Durch eine erfolgreiche Behandlung der primären Erkrankung kann eine Verbesserung der psychischen Symptomatik folgen. Ist Botulinumtoxin in der Behandlung der primären Erkrankung den Vergleichsbehandlungen also überlegen, könnte die antidepressive Wirkung des Botulinumtoxins dadurch überschätzt werden.

Limitationen

Eine wichtige Limitation der Studie ist, dass das Berichtssystem der FDA auf freiwilliger Berichterstattung basiert. Lediglich die Hersteller sind verpflichtet, beobachtete Nebenwirkungen der FEARS-Datenbank zu melden. Die Studie zeigt, dass die antidepressive Wirkung von Botulinumtoxin nicht vom Ort der Injektion und nicht von den medizinischen Bedingungen abhängt. Obwohl weitere Forschung nötig ist, die zum einen die Wirksamkeit bestätigt und zum anderen zum Verständnis des Wirkmechanismus beiträgt, könnte Botulinumtoxin in Zukunft eine möglich Alternative für diejenigen sein, bei denen die heute verwendeten Antidepressiva nicht anschlagen. |

Literatur

Makunts T et al. Postmarketing safety surveillance data reveals antidepressant effects of botulinum toxin across various indications and injection sites. Sci. Rep. 2020;10:1-9

Botulinumtoxin: Nervengift gegen Sorgenfalten und Achselschweiß, DtschApothZtg 2000;140(35):40

Apothekerin Leonie Naßwetter

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