Arzneimittel und Therapie

Genitale Taubheit nach SSRI und SNRI

Sexuelle Funktionsstörungen können über Jahre nach Therapieende anhalten

rr | Die Gebrauchsinformationen von Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) und selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) warnen schon lange vor sexuellen Störungen während der Therapie. Neu aufgenommen werden soll nun der Hinweis, dass die Beschwerden auch nach dem Absetzen bestehen bleiben ­können. Vieles erinnert an das Post-­Finasterid-Syndrom – gibt es mög­licherweise Parallelen?

Auf Veranlassung der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) müssen die Produktinformationen von Arzneimitteln aus der Klasse der SSRI und SNRI demnächst folgenden neuen Warnhinweis enthalten: „… können Symptome einer sexuellen Funktionsstörung verursachen. In bestimmten Fällen bleiben diese Symptome nach Beendigung der Behandlung bestehen.“ Die Maßnahme betrifft im Speziellen die SNRI Desvenlafaxin, Duloxetin, Milnacipran und Venla­faxin sowie die SSRI Citalopram, ­Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin. Clomipramin und Vortioxetin, ebenfalls selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, sind aktuell nicht von der Änderung betroffen.

Foto: lassedesignen – stock.adobe.com

Frust statt Lust

Ejakulationsstörungen und Impotenz sind bekannte Nebenwirkungen von SSRI und SNRI. Doch ging man lange davon aus, dass diese mit dem Absetzen verschwinden – ohne wissenschaftliche Beweise. In den vergangenen Jahren häuften sich Berichte, dass die sexuellen Störungen auch über das Therapieende hinaus bestanden und teilweise sogar erst danach auftraten. Sowohl Männer als auch Frauen beschrieben unter anderem genitale Anästhesie, unbefriedigenden und später oder ausbleibenden Orgasmus (Anorgasmie) und Libidoverlust.

Die ersten Fallberichte wurden in den frühen 2000er-Jahren dokumentiert. Seit 2011 enthält die US-amerikanische Produktinformation von Fluoxetin den Hinweis, dass sexuelle Funktionsstörungen „gelegentlich persistieren“ können. Das niederländische Pharmakovigilanzzentrum (Lareb) informierte im selben Jahr über 19 Verdachtsmeldungen zur PSSD (post-­SSRI sexual dysfunction, persistierende sexuelle Funktionsstörung nach SSRI/SNRI-Absetzen). 2013 wurde die Störung in die fünfte Edition des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) aufgenommen, das in den USA zur Definition von psychischen Erkrankungen herangezogen wird.

Eine Arbeitsgruppe um den Psychiater und Psychopharmakologen David Healy publizierte im Jahr 2018 eine Studie mit 300 Fällen von anhaltender sexueller Dysfunktion, darunter 221 im Zusammenhang mit SSRI. Die Berichte wurden über die von Healy begründete, als unabhängig deklarierte Website RxISK.org gesammelt, auf der Patienten unerwünschte Arzneimittelwirkungen direkt melden können. Die Betroffenen stammen aus 34 verschiedenen Ländern. Acht von ihnen leiden seit mehr als zehn Jahren unter den unerwünschten Wirkungen. Die PSSD kann die Lebensqualität stark beeinträchtigen und Beziehungen erheblich gefährden. Um bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) dieses Problem zu verdringlichen, rief Healy eine Petition ins Leben.

In Europa hat man bereits reagiert und im September 2018 ein Risiko­bewertungsverfahren gestartet. Bei seinem Meeting im Mai 2019 sprach sich der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) für eine Aktualisierung der Gebrauchsinformationen aus.

Weitere „Post“-Störungen der Sexualfunktion

Berichte über eine langfristige Störung der Sexualfunktion gibt es auch im Zusammenhang mit Finasterid, einem selektiven Inhibitor der Steroid-5α-Reduktase zur Behandlung der androgenetischen Alopezie und benignen Prostatahyperplasie (siehe beispielsweise „Haarwuchs mit Folgen“, DAZ 2018, Nr. 16, S. 26). Während sich das „Post-Finasterid-Syndrom“ (PFS) in der wissenschaftlichen Literatur etabliert hat, ist das Problem bei dem ebenfalls unter Verdacht stehenden Isotretinoin noch namenlos. Die Website RxISK.org schlägt „post-retinoid sexual dysfunction (PRSD)“ vor.

Hogan et al. machten 2014 in einer Studie deutlich, dass sich das Profil der drei Arzneistoffklassen in puncto sexuelle Störungen stark überschneiden, unabhängig von Geschlecht und Herkunftsland der Betroffenen. Ihrer Ansicht nach spricht die Verfügbarkeit von 120 Berichten aus über 20 Ländern für die Gültigkeit eines Syndroms. Der Mechanismus dahinter ist jedoch noch unklar.

Serotonin als Schlüssel?

Zumindest im Fall der SSRI kommt die Fähigkeit, das Genitalgefühl zu reduzieren, nicht nur wenig überraschend, sie wird sogar therapeutisch genutzt: Der Vertreter Dapoxetin (Priligy®) ist seit April 2009 in Deutschland zur Behandlung des vorzeitigen Samenergusses (Ejaculatio praecox) zugelassen. Aber auch bei der Einnahme anderer SSRI setzt die mit der Wirkung von Lidocain vergleichbare Betäubung oft innerhalb von 30 Minuten nach der ersten Einnahme ein. Serotonin spielt im komplexen Gefüge des Ejakulationsreflexes eine zentrale, hemmende Rolle. Es besteht kein Zweifel, dass Arzneimittel, die auf das serotonerge System wirken, endokrine Effekte ­haben können, mit möglichen Folgen wie einer Verringerung der Spermienzahl und -funktionalität sowie der Schrumpfung der Eierstöcke. Diese Änderungen dürften den Verlust der Libido im Zusammenhang mit dem längerfristigen Einsatz von SSRI unterstützen.

Ist der Botenstoff Serotonin also die Gemeinsamkeit der drei Syndrome PSSD, PFS und PRSD? Während Isotretinoin tatsächlich eine Wirkung auf das Serotonin-System hat, konnte eine solche für Finasterid bisher nicht beobachtet werden. Hier führt man die unerwünschten Wirkungen eher auf Veränderungen im Neurosteroid-Stoffwechsel zurück. PFS und PSSD haben die Gemeinsamkeit, mit grenzwertigen Testosteron-Spiegeln einhergehen zu können. Jedoch kann dies auch eine Folge der Erkrankung und nicht deren Ursache sein.

Was tun?

Da die Ursache für die anhaltenden ­sexuellen Funktionsstörungen nicht geklärt ist, gestaltet sich eine Therapie schwierig. Eine Behandlung mit Testosteron brachte keine Besserung. Im Fall des PFS werden bei nachgewiesenem Mangel entsprechende Vorläuferhormone wie Androstendion, Dehydroepiandrosteron (DHEA) oder humanes Choriongonadotropin (hCG) eingesetzt. Bei der PSSD konzentriert man sich auf die Manipulation des serotonergen und dopaminergen Systems, beispielsweise mit 5-HT1-Agonisten wie Buspiron sowie 5-HT2- und 5-HT3-Ant­agonisten wie Trazodon und Mirt­azapin – bisher allerdings mit wenig Erfolg. Auch Hemmer der Phosphodiesterase 5 (PDE-5) wie Sildenafil stießen an ihre Grenzen. Betroffene Personen probierten Dop­amin-Agonisten wie Pramipexol und Cabergolin zusammen mit Buproprion, Dexamphetamin und anderen Stimulanzien sowie Ketamin, Donepezil und Metformin. Eine Besserung der Beschwerden blieb aber aus. Derzeit ist nicht bekannt, wie viele Menschen nach der Anwendung von SSRI/SNRI, Finasterid und Isotretinoin ihre Libido und andere Bereiche der Sexualfunktion vollständig wiedererlangen.

Das Gegenteil: PGAD

Wie paradox die Wirkung allein bei SSRI ausfallen kann, beweist das Phänomen der anhaltenden genitalen Erregung (persistent genital arousal disorder, PGAD). Fälle wurden unter anderem in Verbindung mit Fluvoxamin und Escitalopram beschrieben, fast ausschließlich bei Frauen. PGAD äußert sich als eine ungewollte genitale Erregung ohne Gefühl sexuellen ­Verlangens, die zum Teil Schmerzen auslöst, Stunden oder Tage anhalten kann und nach einem Orgasmus nicht komplett abklingt. Bereits geringe ­mechanische Irritationen wie Vibrationen beim Autofahren können die Beschwerden hervorrufen oder verstärken. Es ist versucht worden, die Dauererregung mit Duloxetin zu behandeln, das mit dem Risiko verbunden ist, ein PSSD auszulösen. |

Literatur

PRAC-Mitteilung vom 11. Juni 2019, verfügbar unter https://www.ema.europa.eu/en/documents/other/new-product-information-wording-extracts-prac-recommendations-signals-adopted-13-16-may-2019-prac_de.pdf

Healy D. Citizen petition: Sexual side effects of SSRIs and SNRIs. International Journal of Risk & Safety in Medicine 29 (2018) 135–147

Healy D, Le Noury J, Mangin D. Enduring Sexual Dysfunction after Treatment with Antidepressants, 5α-Reductase Inhibitors and Isotretinoin: 300 Cases. Int J Risk Saf Med. 2018. doi:10.3233/JRS180744

Hogan C et al. One hundred and twenty cases of enduring sexual dysfunction following treatment. Int J Risk Saf Med. 2014;26(2):109-16

Jungmayr P: Haarwuchs mit Folgen. DAZ 2018, Nr. 16, S. 26

Neuroaktive Steroide im Visier: Interview mit Prof. Dr. Michael Zitzmann. DAZ 2018, Nr. 16, S. 29

Persistierende genitale Erregung unter SSRI? Arzneitelegramm vom 16. März 2018

Das könnte Sie auch interessieren

Negative Wirkungen ­von Arzneimitteln auf die Zeugungsfähigkeit

Spermien in Gefahr

Beratungstipps für verunsicherte Patienten

Lusträuber Arzneistoffe

Was zur PSSD bekannt ist und was nicht

„Alles sehr nebulös!“

Was Hormone, Neurotransmitter und Psychopharmaka bewirken

Sex & Drugs & Neurobiology

Erfolgreiche Finasterid-Behandlung kann zu dauerhaften Problemen führen

Haarwuchs mit Folgen

Wie groß ist das Risiko für ein Serotonin-Syndrom?

Triptane und Psychopharmaka

Das Post-Finasterid-Syndrom im Spiegel der Wissenschaft

Haarwuchs mit Folgen

Gabapentin hilft gegen Beschwerden im weiblichen Intimbereich

Antiepileptikum unter der Gürtellinie

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.