Arzneimittel und Therapie

Polypharmazie bei Senioren

Analyse und Optimierung der Arzneimitteltherapie geriatrischer Patienten

Von Martina Wegener, Klaus Peter Weber, Georgi Peychinov und Jürgen Bludau | Mit zunehmender Multimorbidität im Alter steigt die Anzahl der verordneten Arzneimittel an. Häufig werden ältere Patienten von mehreren Ärzten gleichzeitig behandelt, was zu dem Problem Polypharmazie beitragen kann. Hinzu kommt, dass oftmals zusätzlich noch Arzneimittel im Rahmen der Selbstmedikation eingenommen werden [1]. Das alles führt dazu, dass die Arzneimitteltherapie insbesondere bei geriatrischen Patienten immer komplexer wird und einen Hochrisikoprozess darstellt.

Oft werden unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) nicht als solche erkannt und erneut mit einem weiteren Arzneimittel behandelt, wodurch das UAW-Risiko weiter ansteigt und eine sogenannte Verschreibungskaskade in Gang gesetzt wird [1]. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass zehn bis 30% der Hospitalisierungen bei alten Patienten auf UAW zurückzuführen sind [1].

Altersbedingte Veränderungen in der Pharmakokinetik und der Pharmakodynamik führen dazu, dass unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) bei älteren Patienten häufiger auftreten. Daher ist es gerade bei geriatrischen Patienten wichtig, jegliche nicht indizierte Medikation zu vermeiden, um schwerwiegende UAE zu verhindern.

Zur Optimierung der Arzneimitteltherapie bei geriatrischen Patienten wurden sogenannte Negativlisten erstellt, in denen Arzneistoffe zusammengefasst werden, die für diese Altersgruppe als ungeeignet gelten. Dazu zählt u. a. die amerikanische „Beers-Liste“, die alle im höheren Lebensalter potenziell inadäquaten Medikationen (PIM) auflistet [2]. Da die „Beers-Liste“ aufgrund unterschiedlicher Zulassungen und Verschreibungsverhalten der Ärzte nur bedingt auf Deutschland übertragbar ist, wurde 2010 eine für Deutschland gültige Liste, die „Priscus-Liste“, erstellt, die ebenfalls die potenziell inadäquaten Medikationen für ältere Patienten auflistet [3, 4].

Ein weiteres Konzept zur Optimierung der Arzneimitteltherapie von geriatrischen Patienten ist die FORTA-Liste (Fit for The Aged), welche an der Medizinischen Fakultät Mannheim entwickelt wurde. In dieser Liste werden die am häufigsten, chronisch verwendeten Pharmaka je nach Indikationsgebiet und Alterstauglichkeit in vier Kategorien von A bis D klassifiziert [5].

Foto: Alexander Raths – Fotolia.com
In der geriatrischen Pharmakotherapie kann weniger mehr sein. Besonders wichtig ist es, unangemessene Arzneimittel oder Dosierungen zu entdecken.

Insbesondere bei geriatrischen Patienten wird mittlerweile empfohlen, die Evidenz für die Multimedikation zu hinterfragen und zu überprüfen, ob diese Patienten eher von weniger Arzneimitteln profitieren [6].

Bereits 2010 hat der israelische Geriater Dorn Garfinkel nachgewiesen, dass bei geriatrischen Patienten bis zu 50 Prozent der Arzneimittel abgesetzt werden können, ohne dass sich der Gesundheitszustand verschlechtert; in den meisten Fällen kam es durch das Absetzen von Arzneimitteln sogar zu einer Verbesserung des Zustandes [7].

Studie bei geriatrischen Patienten

Die Autoren dieses Beitrags – zwei Geriater, ein Chirurg und eine Pharmazeutin – prüfen in der im Januar 2016 gegründeten Interdisziplinären Alterstraumatologie/Geriatrie des DRK Krankenhauses in Hachenburg die Medikation der Patienten hinsichtlich arzneimittelbezogener Probleme (ABP). Unter ABP versteht man „Ereignisse oder Umstände bei der Arzneimitteltherapie, die tatsächlich oder potenziell das Erreichen angestrebter Therapieziele verhindern“ [8]. Dazu zählen u. a. Interaktionen, Doppelmedikationen, ungeeignete Einnahmezeitpunkte, zu hohe oder zu niedrige Dosie­rungen, ungeeignete Darreichungsformen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen und mangelnde Compliance des Patienten.

Die wichtigsten Ergebnisse der Medikationsanalyse aller 119 Patienten, die im Zeitraum von Juni bis August 2016 in die Interdisziplinäre Alterstraumatologie/Geriatrie in Hachenburg stationär aufgenommen wurden, sind im Folgenden zusammengefasst.

Interaktionscheck

Die bei der Arzneimittelanamnese erfasste Medikation der Patienten wurde zunächst auf mögliche Interaktionen überprüft, wobei die Datenbanken Drugdex® Micromedex® und die Scholz Datenbank jeweils parallel eingesetzt wurden. Demnach waren bei 16 Patienten (13,5%) schwerwiegende Interaktionen möglich.

Die häufigsten Interaktionen betrafen

  • die gleichzeitige Einnahme von β-Adrenozeptor-Agonisten und β-Adrenozeptor-Antagonisten sowie
  • die gleichzeitige Einnahme von mehreren Arzneistoffen, die – in den Serotoninstoffwechsel eingreifen, – mit dem Cytochrom-P450-System interagieren oder – das Blutungsrisiko erhöhen können.

Bei 34 Patienten (28,6%) waren notwendige Dosisanpassungen, z. B. wegen eingeschränkter Nierenfunktion, unterblieben. Dies betraf insbesondere Protonenpumpeninhibitoren, Diuretika, ACE-Hemmer und Statine (CSE-Hemmer).

In sechs Fällen (5%) waren die Einnahmezeitpunkte un­geeignet. So wurde z. B. das Statin morgens eingenommen oder das perorale Glucocorticoid abends.

Immerhin 34 Patienten (28,6%) erhielten Arzneimittel ohne eine entsprechende Indikation. Protonenpumpeninhibitoren, Statine und Opioid-Analgetika waren am häufigsten nicht indiziert.

Prüfung auf PIM

Die Medikation der Patienten wurde mithilfe der Priscus-Liste und der FORTA-Liste hinsichtlich potenziell inadäquater Medikamente bei geriatrischen Patienten (PIM) überprüft [3, 5]. Demnach erhielten 32 Patienten (26,9%) mindestens ein PIM. Die häufigsten PIM waren trizyklische Anti­depressiva und nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) zur Langzeittherapie.

Diagnostisch festgestellte Medikationsmängel

Bei 23 Patienten (19,3%) konnten UAW labordiagnostisch festgestellt werden. Am häufigsten fanden sich Elektrolytverschiebungen unter der Einnahme von Diuretika.

Elf Patienten (9,2%) erhielten trotz Indikation keine Therapie mit Levodopa.

Zudem zeigte sich bei vielen Patienten eine Unterversorgung mit Vitaminen. 86 Patienten (72,3%) erhielten trotz erniedrigtem Vitamin-D3 -Spiegel keine Substitution, obwohl gerade geriatrische Patienten zur Muskelkräftigung und Sturzprophylaxe auf eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung angewiesen sind.

24 Patienten (20,2%) wiesen eine Unterversorgung an Vitamin B12 auf.

Optimierung der Therapie

Immer, wenn arzneimittelbezogene Probleme identifiziert wurden, wurden diese gelöst:

  • Zur Vermeidung der Interaktionen wurden einzelne ­Arzneistoffe durch solche ersetzt, die diese Interaktionen nicht aufweisen.
  • Bei zu hohen Dosierungen (v. a. Protonenpumpeninhibitoren, Diuretika, ACE-Hemmer und Statine) wurden die ­jeweiligen Dosen reduziert.
  • Die ungeeigneten Einnahmezeitpunkte wurden ­korrigiert.
  • Bei den Patienten, die Arzneimittel ohne eine entsprechende Indikation einnahmen, wurden diese erfolgreich abgesetzt, d. h. dass es zu keiner Verschlechterung ihres Zustandes kam.
  • Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen konnten bei 17 von 23 Patienten durch Absetzung oder Dosisreduktionen gelindert werden.
  • Alle potenziell inadäquaten Medikamente konnten erfolgreich durch Alternativen ersetzt werden.
  • Auch die Unterversorgung an Vitamin D3 , Vitamin B12 und Levodopa wurde in allen Fällen behoben.

Im Entlassungsbrief der Patienten für den Hausarzt wurde gegebenenfalls darauf hingewiesen, wann einzelne Medi­kamente wieder abgesetzt werden können, um unnötige Dauertherapien nach dem Übergang vom stationären zum ambulanten Bereich zu verhindern. Diese Vorgehensweise entspricht auch den aktuellen Empfehlungen der Hausärzt­lichen Leitlinie Multimedikation [9].

Insgesamt konnte die Arzneimitteltherapie der Patienten bis zu ihrer Entlassung deutlich optimiert werden.

Fazit: Diese Studie zeigt, dass durch die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pharmazeut die komplexe Arzneimitteltherapie geriatrischer Patienten optimiert werden kann, d. h. dass die Therapie sicherer und wirksamer wird. |

Literatur

[1] Jaehde U, Radziwill R, Kloft C (Hrsgg). Klinische Pharmazie. 3. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2010

[2] American Geriatrics Society 2015 Updated Beers Criteria for Potentially Inappropriate Medication Use in Older Adults. J Am Geriatr Soc 2015;63:2227-2246

[3] Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste. Dtsch Ärztebl Int 2010;107(31-32):543-51

[4] Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Priscus-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen; http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf

[5] Forta-Liste; www.umm.uni-heidelberg.de/ag/forta/FORTA_Liste_2015_deutsche_Version.pdf

[6] Thürmann PA. Weniger wäre tatsächlich mehr – die Arzneimittel­versorgung alter Menschen. Z Evid Fortbild Qual Gesundh Wesen (ZEFQ) 2013;107:148-152

[7] Garfinkel D, Mangin D. Feasibility study of a systematic approach for discontinuation of multiple medications in older adults: adressing ­polypharmacy. Arch Intern Med 2010;170(18):1648-54

[8] ABDA - Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Grundsatzpapier zur Medikationsanalyse und zum Medikationsmanagement; www.abda.de/uploads/tx_news/Grundsatzpapier.pdf

[9] Hausärztliche Leitlinie Multimedikation. AWMF-Registernummer 053-043, Stand 16.4.2014


Autoren

Martina Wegener studierte Pharmazie in Bonn und ist Apothekerin.

Klaus Peter Weber ist Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie und Leitender Arzt der Alterstraumatologie.

Georgi Peychinov ist Internist und Geriater.

Dr. med. Jürgen Bludau ist Internist/Geriater und Chefarzt Geriatrie.

Interdisziplinäre Alterstraumatologie/Geriatrie im DRK Krankenhaus Altenkirchen-Hachenburg

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