Schwerpunkt Nieren

Arzneimittel und Niere

Fälle aus der Praxis

Monika Alter und Markus Zieglmeier | Insbesondere beim Einsatz von Arzneimitteln mit geringer therapeutischer Breite muss davor gewarnt werden, die Labormedizin als exakte Wissenschaft zu begreifen, die präzise und allzeit verlässliche Werte liefert. Anhand der folgenden Beispiele wird gezeigt, wie Abweichungen zustande kommen und in welchen Fällen sie therapeutische Konsequenzen haben.

Beispiel 1: Dosisanpassung von Antibiotika

Frau M. ist 58 Jahre alt und seit drei Wochen Patientin der Abteilung für Physikalische Medizin und Frührehabilitation in einem Klinikum der Maximalversorgung. Vorher hat sie nach einer schweren Hirnblutung acht Wochen auf einer neurochirurgischen Intensivstation verbracht und ist mehrmals operiert worden. Die große und früher kräftige und übergewichtige Frau wiegt jetzt nur noch geschätzte 65 kg und erholt sich nur sehr langsam. Sie wird von rezidivierenden Harnwegsinfekten und Pneumonien mit multiresistenten Keimen heimgesucht, die den Einsatz von Reserveantibiotika wie Carbapenemen (Imipenem bzw. Meropenem) erfordern. Bei der Mehrzahl der eingesetzten Antibiotika ist die Dosierung an die Nierenfunktion anzupassen. Es werden folgende Nierenfunktionsparameter bestimmt:

Serum-Kreatinin: 0,7 mg/dl. Daraus errechnet die Klinische Chemie anhand der CKD-EPI-Formel (s. Formeln) im Befundbericht eine Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) von 97 ml/min pro 1,73 m2.

Cystatin C: 2,49 mg/l, entsprechend einer GFR von 25 ml/min pro 1,73 m2.

Vom Stationsarzt auf das extreme Auseinanderklaffen der Nierenfunktionswerte angesprochen, empfiehlt das Labor, mit dem Mittelwert aus beiden Schätzungen zu arbeiten. Der Krankenhausapotheker regt dagegen an, bei dieser Patientin sowie einigen ähnlich gelagerten Fällen eine Kreatininclearance aus dem 24-Stunden-Sammelurin zu machen und diese mit den vorhandenen Werten zu vergleichen. Die Bestimmung ergibt einen Wert von 35 ml/min. Die Antibiotika-Dosierung wird in der Folge an eine GFR von 30 ml/min pro 1,73 m2 angepasst. In den ähnlich gelagerten Fällen liegt die gemessene Kreatinin-Clearance ebenfalls knapp über den Werten, die auf der Basis von Cystatin C geschätzt wurden, aber deutlich unter den auf der Basis des Serumcreatinins nach der CKD-EPI-Formel errechneten Werten.

Zusätzlich wird der bei Frau M. gemessene Serumkreatinin-Wert von 0,7 mg/dl in zwei weitere Schätzformeln eingegeben. Es ergeben sich glomeruläre Filtrationsraten von 86 (MDRD-Formel, 4 Variable) bzw. 93 ml/min (Cockcroft-Gault-Formel, siehe Formeln).

Interpretation. Das Hauptproblem besteht hier im extremen Verlust von Muskelmasse während der sehr langen akuten Phase der Erkrankung. Diese führt zu sehr geringen Mengen des aus der Muskulatur freigesetzten Kreatinins, was eine völlig intakte Nierenfunktion vortäuschen kann. Die verwendete Schätzformel kann diesen Effekt verstärken oder abschwächen, ihr Einfluss ist jedoch im Regelfall geringer als der aus der geringen Muskelmasse resultierende Fehler. Mit dieser Problematik ist im stationären wie im ambulanten Bereich immer dann zu rechnen, wenn ein Patient einen längeren Aufenthalt auf einer Intensivstation hinter sich hat (Stress- oder Postaggressions-Stoffwechsel), sich im fortgeschrittenen Stadium einer Krebserkrankung befindet (Tumorkachexie), mangelernährt ist (vor allem geriatrische Patienten) oder Lähmungen hat (Muskelatrophie). Wenn in diesen Fällen renal eliminierte Arzneistoffe mit geringer therapeutischer Breite verordnet werden, empfiehlt es sich, die nach einer der Schätzformeln errechnete GFR gelegentlich mit einer Kreatininclearance oder einer Cystatin-C-Bestimmung abzugleichen, wobei man in der Regel davon ausgehen kann, dass die Kreatinin-Clearance die tatsächliche GFR leicht überschätzt, während die auf Cystatin C basierende Berechnung sie eher leicht unterschätzt.

Abb.1: Bland-Altman-Plot der geschätzten und gemessenen GFR nach Michels et al. [1]. Die gestrichelte Linie gibt den Mittelwert der Abweichungen an, die beiden durchgezogenen Linien das Konfidenzintervall.


Die Genauigkeit der Abschätzung der GFR ist überall dort von großer Bedeutung, wo potenziell toxische Arzneistoffe eingesetzt werden. Mit diesen werden sich die folgenden Beispiele befassen. Die Problematik besteht darin, dass wir alle Patienten vor Schäden durch Fehldosierungen schützen sollten, nicht nur jene große Mehrheit, die sich hinsichtlich der Abweichung ihrer geschätzten Werte von der tatsächlichen GFR innerhalb des 95%-Konfidenzintervalls befindet. Was damit gemeint ist, macht Abbildung 1 deutlich. Sie stammt aus einer Arbeit, in der die nach drei verschiedenen Formeln geschätzte GFR in Beziehung zu der tatsächlichen, mittels eines exogenen Markers gemessenen Clearance (Ausscheidungsgeschwindigkeit von injiziertem 125I-iothalamat), gesetzt wurde. In der Studie an 271 Personen wurde ein Querschnitt aus gesunden Probanden (potenzielle Nierenspender) und Patienten abgebildet. Patienten mit einer GFR unter 15 ml/min pro 1,73 m2 wurden ausgeschlossen.

Alle drei Grafiken in der Abbildung zeigen, dass sich die Mehrzahl der mittels der drei Formeln errechneten Werte in der Nähe der durch die externe Clearance ermittelten tatsächlichen GFR-Werte befindet. Sie zeigen jedoch auch, dass es bei allen drei Formeln insbesondere im Bereich unter 60 ml/min pro 1,73 m2 zu einigen Ausreißern kommt, bei denen die Nierenfunktion erheblich überschätzt wird [1]. Diese Ausreißer repräsentieren den Prozentsatz von Patienten, der durch Überdosierung von renal eliminierten Arzneimitteln mit geringer therapeutischer Breite gefährdet ist.

Beispiel 2: Cisplatin

Die Fachinformationen der im Handel befindlichen Cisplatin-Stammlösungen vermerken, dass das nephrotoxische Zytostatikum nur bei ausreichender Nierenfunktion angewendet werden darf und definieren dabei als Grenze ein Serumkreatinin von ≤1,5 mg/dl und einen Serumharnstoff von ≤25 mg/dl. Zum Teil wird hier zusätzlich eine GFR von 60 ml/min pro 1,73 m2 als Untergrenze angegeben (Fachinformation Cisplatin Teva), was in einem gewissen Widerspruch zu einem Serumkreatinin von 1,5 mg/dl steht. Bei den meisten Patienten resultiert aus diesem Wert eine deutlich schlechtere GFR. Einige Onkologen ziehen Cystatin C oder die Kreatinin-Clearance als weitere Parameter heran und setzen die Therapie frühzeitig auf ein Carboplatin-basiertes Schema um. Tabelle 1 zeigt an drei onkologischen Patienten, die sich zwischen dem zweiten und vierten Zyklus Cisplatin/Vinorelbin (40/25 mg/m2) befinden, wie die beiden Parameter und das parallel gemessene Cystatin C die Nierenfunktion abbilden.

Interpretation. Beide laut den Fachinformationen heranzuziehenden Parameter erscheinen in diesem Fall höchst unglücklich gewählt. Das unter Cisplatin besonders häufig auftretende Anorexie-Nausea-Emesis-Syndrom (ANE-Syndrom) führt nicht nur zu einem Verlust von Muskelmasse, sondern auch zu einer verringerten Eiweißzufuhr und dadurch zur verringerten Entstehung von Harnstoff. In beiden Fällen täuschen die resultierenden Serumkonzentrationen eine längst nicht mehr vorhandene Nierenleistung vor. Die CKD-EPI-Formel schätzt wie in Beispiel 1 die GFR im Vergleich zur Cystatin-C-basierten Berechnung zu hoch ein, was sich hier bei den unter- bis normalgewichtigen Patienten 1 und 3 stärker auswirkt als bei der übergewichtigen Patientin 2. Die MDRD-Formel schneidet mit etwas niedrigeren GFR-Werten nur unwesentlich besser ab. Im Fall von Patient 3 ist der erhöhte Harnstoff-Spiegel ein Warnsignal für die Fehleinschätzung aufgrund des vergleichsweise niedrigen Serumkreatinins. Man sollte sich jedoch die Abhängigkeit des Serum-Harnstoffs vom Proteingehalt der Ernährung bewusst machen, die unter anderem in Zusammenhang mit der auch interindividuell schwankenden Emetogenität der Chemotherapie sehr variabel sein kann. Nach der Analyse der drei Fälle wurde der Onkologie bei den Patienten 1 und 3 eine Umstellung auf ein Carboplatin-haltiges Schema empfohlen.

Beispiel 3: Metformin

Im März 2013 meldete die AKDÄ eine deutliche Zunahme der Spontanmeldungen von zum Teil tödlichen Laktatazidosen unter Metformin [2]. Metformin ist unter einer GFR von 60 ml/min (in den Fachinformationen wird dieser Wert ohne Bezug auf eine Formel angegeben) kontraindiziert, woraus sich vor dem Hintergrund der hier diskutierten Problematik die Frage ableitet, welchen Einfluss die Überschätzung der GFR auf das Auftreten dieser gefürchteten Nebenwirkung hat. Abbildung 1 legt nahe, dass es vereinzelt Patienten gibt, bei denen der Befundbericht des Labors aufgrund der verwendeten Formeln eine GFR von über 60 ml/min pro 1,73 m2 ausweist, während ihre tatsächliche GFR bereits unter 40 ml/min pro 1,73 m2 liegt.

Für einen solchen Zusammenhang spricht die Zunahme der Metformin-Verordnungen insbesondere bei alten Patienten, die zu den Populationen mit einem höheren Risiko von Fehleinschätzungen der GFR durch Kreatinin-basierte Formeln zählen. Nach Angaben der AKDÄ hat sich die Zahl der Metformin-Verordnungen für über 80-jährige Patienten zwischen 2005 und 2010 mehr als verdoppelt.

Dagegen lässt eine skandinavische Studie den Einfluss der formelbedingten Abweichung auf das Risiko einer Laktatazidose eher gering erscheinen. Sterner und Mitarbeiter untersuchten eine Gruppe von 5408 Patienten, die Metformin erhielten und verglichen sie mit einer Gruppe von 2815 Kontrollpersonen. Bei den über 79-jährigen Patienten hatten 38 Prozent eine (nach CKD-EPI geschätzte) GFR von unter 60 ml/min pro 1,73 m2, 12 Prozent lagen sogar unter 45 ml/min pro 1,73 m2. In der Altersgruppe zwischen 70 und 79 Jahren waren dies 16 Prozent beziehungsweise 3 Prozent. Im Beobachtungszeitraum von zwei Jahren traten drei Fälle von Lactatazidosen auf, überraschenderweise keine davon in der höchsten Altersgruppe. In einem dieser Fälle lag die GFR vor dem Ereignis bei 41 ml/min pro 1,73 m2, im zweiten bei über 90 ml/min pro 1,73 m2. Im dritten Fall waren keine Laborwerte verfügbar. In einem der Fälle lag als Komorbidität ein Pankreaskarzinom mit Lebermetastasen vor, ein Bezug zur GFR in diesem Fall wird in der Publikation nicht hergestellt. In den beiden anderen Fällen, in denen keine schweren Komorbiditäten vorlagen, verbesserte sich die GFR nach dem Ereignis deutlich, woraus die Autoren folgern, dass eine akute Verschlechterung der Nierenleistung die Lactatazidose ausgelöst hatte. Interessant ist auch die in der Diskussion zitierte Tatsache, dass bei Patienten unter einer GFR von 30 ml/min pro 1,73 m2 die Serumspiegel von Metformin unter 20 µg/l lagen, was weniger als ein Zehntel der Konzentration ist, die während einer Lactatazidose gemessen wird [3].

Interpretation. Die Hauptursachen von Lactatazidosen unter Metformin scheinen plötzliche Verschlechterungen der Nierenfunktion zu sein, wie sie bei geriatrischen Patienten zum Beispiel durch Exsikkosen und nicht-steroidale Antirheumatika vorkommen. Ein weiterer Faktor könnte sein, dass die Laborparameter insbesondere bei geriatrischen Patienten nicht häufig genug bestimmt werden. Erfahrungen aus Projektarbeiten in der Weiterbildung Geriatrische Pharmazie deuten darauf hin. Die Ungenauigkeit der Kreatinin-basierten GFR-Abschätzung spielt demgegenüber wohl eine vergleichsweise minimale Rolle. Aus den vorliegenden Daten sollte jedoch – schon aus forensischen Gründen – nicht die Empfehlung abgeleitet werden, dass Metformin unter einer GFR von 60 ml/min pro 1,73 m2 bedenkenlos angewendet werden kann.

Beispiele 4 und 5: Neue orale Antikoagulanzien

Ein 92-jähriger, 62,8 kg schwerer Patient mit Vorhofflimmern soll nach einer Blutungskomplikation von Phenprocoumon auf Rivaroxaban (Xarelto®) umgestellt werden. Bei einem Serumkreatinin von 1,0 mg/dl weist das Labor auf der Basis der MDRD-Formel eine GFR von 52 ml/min pro 1,73 m2 aus. Bei dieser GFR wäre die maximale Dosierung von 20 mg einmal täglich anzuwenden. Die Intervention der Apothekerin besteht in der Neuberechnung der Nierenfunktion nach Cockcroft und Gault, die ein Resultat von 42 ml/min ergibt. Die Dosierung wird daraufhin auf 15 mg einmal täglich reduziert.

Eine 91-jährige, 60 kg schwere Patientin soll auf Dabigatran (Pradaxa®) eingestellt werden. Ihr Serumkreatinin beträgt 1,2 mg/dl, das Labor weist MDRD-basiert eine GFR von 42 ml/min pro 1,73 m2 aus. Aufgrund ihres Alters und der Nierenfunktion wird eine Dosierung von 110 mg zweimal täglich gewählt. Auch hier besteht die Intervention der Apothekerin in der Neuberechnung der Nierenfunktion nach Cockcroft und Gault. Es ergibt sich eine Kreatinin-Clearance von 29 ml/min, bei der Dabigatran kontraindiziert ist.

Interpretation. Die Fachinformationen der neuen oralen Antikoagulanzien verlangen explizit eine Abschätzung der GFR nach Cockcroft und Gault. Die Beispiele zeigen, dass diese Formel in einigen Fällen ein Bild der Nierenfunktion liefert, das von MDRD- oder CKD-EPI-basierten Laborbefunden abweicht, was entscheidenden Einfluss auf die Frage der Dosierung beziehungsweise der Kontraindikation haben kann. In der Praxis sollte der Forderung der Fachinformationen daher Folge geleistet werden. Aufgrund der pharmakokinetischen Eigenschaften lässt sich das theoretische Blutungsrisiko der derzeit zugelassenen neuen oralen Antikoagulanzien durch formelbedingte Fehleinschätzungen der GFR folgendermaßen einschätzen: Dabigatran > Rivaroxaban > Apixaban. Wie sich dies in der Praxis darstellt, bleibt abzuwarten.

Literatur

[1] Michels WM et al.: Performance oft he Cockcroft-Gault, MDRD and new CKD-EPI formulas in relation to GFR, age and body size. Clinical Journal of the American Society of Nephrology 2010 (5): 1003–1009

[2] AKDÄ: Zunahme von Spontanberichten über Metformin-assoziierte Laktatazidosen. Deutsches Ärzteblatt 110(10); 08.03.2013

[3] Sterner G et al.: Renal function in a large cohort of Metformin treated patients with type 2 diabetes mellitus. British Journal of Diabetes ans Vascular Disease 2012; 12(5):227–231

 

Autoren

Monika Alter, Studium der Pharmazie von 2005 bis 2010 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, Praktisches Jahr am Shands Hospital at the University of Florida, Gainesville, Florida, USA von November 2010 bis Mai 2011, Approbation zur Apothekerin im Juli 2011, seit September 2011 Apothekerin am Städtischen Klinikum München GmbH, Krankenhausapotheke Schwabing, seit Januar 2012 Klinik-Promotion am Städtischen Klinikum München.

Städtisches Klinikum München GmbH, Krankenhausapotheke Schwabing, Kölner Platz 1, 80804 München


Dr. Markus Zieglmeier, Apotheker, studierte Pharmazie an der LMU in München und ist seit 1989 in der Apotheke des Klinikums München-Bogenhausen tätig. Promotion zum Dr. rer. biol. hum., Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Zusatzbezeichnungen Ernährungsberatung und Geriatrische Pharmazie. Seit 2002 ist er verstärkt als Referent und Autor tätig.

Städt. Klinikum München, Apotheke Klinikum Bogenhausen Englschalkinger Str. 77, 81925 München mzieglmeier@googlemail.com

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