Arzneimittel und Therapie

Gefährlicher „Blutverdünner“ Dabigatran?

Direkter Thrombin-Inhibitor erhöht das Risiko schwerer Blutungen

Dabigatran zeigte sich in der zulassungsrelevanten RE-LY Studie als gleichermaßen sicher in der Prävention von Schlaganfällen oder Thromboembolien wie Warfarin. Eine neu veröffentlichte Studie verweist nun jedoch auf ein erhöhtes Blutungsrisiko unter dem oral verfügbaren direkten Antikoagulans hin.

Im Jahr 2008 erhielt der direkte Thrombin-Inhibitor Dabigatran (Pradaxa®) die EU-weite Zulassung zur Prophylaxe von venösen Thromboembolien nach Knie- und Hüftgelenkoperationen. 2011 konnte die Indikation auch auf Patienten mit Vorhofflimmern erweitert werden, da sich Dabigatran gegenüber Warfarin überlegen zeigte in der Prävention von Schlaganfällen, bei gleichbleibendem Risiko für schwere Blutungen. Auch die FDA bestätigte die Sicherheit von Dabigatran [1]. Entgegen dieser Resultate wiesen einige Fallstudien auf ein erhöhtes Blutungsrisiko durch Dabigatran hin, besonders bei Personen mit Nierenfunktionsstörungen. Anlässlich dieser Entwicklungen führten Forscher der Universität von Pittsburgh eine retrospektive Kohortenstudie durch und identifizierten aus Patientendaten von 5% zufällig ausgewählten Medicare-Versicherten diejenigen Personen mit neu diagnostiziertem Vorhofflimmern, welche im Zeitraum von Oktober 2010 bis Dezember 2011 entweder mit Dabigatran (n = 1302) oder Warfarin (n = 8102) behandelt wurden [2]. Etwa 9% der Patienten der Dabigatran-Gruppe erlitten im Beobachtungszeitraum eine schwere Blutung, wohingegen dies nur bei 5,9% der mit Warfarin behandelten Personen der Fall war.

Auf die Formel kommt es an: ein Fallbeispiel

Zur Berechnung der Nierenfunktion existieren mehrere Formeln. Die Fachinformationen der neuen oralen Antikoagulanzien verlangen explizit eine Abschätzung der GFR nach Cockcroft und Gault. Diese Formel liefert aber in einigen Fällen ein Bild der Nierenfunktion, das von MDRD- oder CKD-EPI-basierten Laborbefunden, die im Klinikalltag aber durchaus üblich sind, abweicht. Das kann entscheidenden Einfluss auf die Frage der Dosierung beziehungsweise der Kontraindikation haben, wie das folgende Beispiel zeigt:

Eine 91-jährige, 60 kg schwere Patientin soll auf Dabigatran (Pradaxa®) eingestellt werden. Ihr Serumkreatinin beträgt 1,2 mg/dl, das Labor weist MDRD-basiert eine GFR von 42 ml/min pro 1,73 m2 aus. Aufgrund ihres Alters und der Nierenfunktion wird eine Dosierung von 110 mg zweimal täglich gewählt. Auch hier besteht die Intervention der Apothekerin in der Neuberechnung der Nierenfunktion nach Cockcroft und Gault. Es ergibt sich eine Kreatinin-Clearance von 29 ml/min, bei der Dabigatran kontraindiziert ist.

Wertvolle Hilfe für die Praxis bietet www.nierenrechner.de. Beispielsweise kann die GFR mit verschiedenen Formeln berechnet werden.

Nierenkranke besonders gefährdet

Wurden auch die Raten an kleineren Blutungen mit einbezogen, so erweiterte sich das entsprechende Verhältnis auf 32,7% (Dabigatran) zu 26,6% (Warfarin). Subanalysen zeigten zudem, dass die Behandlung mit Dabigatran mit mehr Gastrointestinal-, jedoch weniger Hirnblutungen assoziiert war und das Blutungsrisiko vor allem für Afroamerikaner und Patienten mit Nierenschäden erhöht schien. Anders als bei der RE-LY Studie oder der durch die FDA initiierten Analyse registrierten die Autoren dieser retrospektiven Studie nun doch ein erhöhtes Risiko für schwere Blutungen, besonders bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen. Sie mahnen daher zur Vorsicht bei der Behandlung mit Dabigatran, solange keine weitere Evidenz zur Sicherheit dieser neuen Arzneimittelgruppe existiert [3]. Bezüglich der häufig auftretenden gastrointestinalen Blutungen empfehlen die Forscher zudem, dass die Patienten unbedingt über die entsprechenden Symptome aufgeklärt werden sollten, um weitere Komplikationen zu verhindern. 

Apotheker André Said

Quellen

[1] Southworth, M. R., et al. (2013). „Dabigatran and Postmarketing Reports of Bleeding.“ New England Journal of Medicine 368(14): 1272-1274.

[2] Hernandez I, Biak SH, Piñera A, Zhang Y. Risk of bleeding with dabigatran in atrial fibrillation [published online November 3, 2014]. JAMA Intern Med. doi:10.1001/jamainternmed.2014.5398.

[3] Redberg, R. F. (2014). „The importance of postapproval data for dabigatran.“ JAMA Internal Medicine.

 

Die Dabigatran-Story - eine Chronologie der Ereignisse

Die Diskussion um die Sicherheit von Dabigatran ist nicht neu. So gab es während der letzten Jahre immer wieder diesbezügliche Meldungen.

Juli 2008: Dabigatran wird unter dem Handelsnamen Pradaxa in Deutschland eingeführt.

Oktober 2011: Ein Rote-Hand-Brief ruft dazu auf, vor Behandlungsbeginn die Nierenfunktion zu überprüfen und diese während der Behandlung mindestens einmal im Jahr zu kontrollieren. Hintergrund waren letal verlaufende Blutungskomplikationen vor allem in Japan. Zur Frage, wie viele Patienten in Deutschland und wie viele weltweit bislang an den Folgen solcher Komplikationen gestorben sind, kann Boehringer Ingelheim zu diesem Zeitpunkt keine genauen Angaben machen.

November 2011: Vom BfArM heißt es, dass ein ursächlicher Zusammenhang mit der Einnahme von Pradaxa zwar möglich, im Einzelfall aber nicht sicher belegt ist. Boehringer spricht mittlerweile von 260 Verdachtsfällen. Kurz darauf geht das BfArM aber davon aus, dass ein kausaler Zusammenhang von tödlichen Blutungereignissen bei vier Patienten in Deutschland mit der Einnahme von Dabigatran als sicher angenommen werden kann. Gleichzeitig erklärt man, dass die Verdachtsmeldungen nicht den Schluss zulassen, dass das Blutungsrisiko unter Dabigatran höher wäre als unter anderen Gerinnungshemmern. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis wird weiterhin positiv eingestuft. Die EMA hält die im Rote-Hand-Brief empfohlenen Sicherheitsmaßnahmen für ausreichend. Eine amerikanische Metaanalyse kommt derweil zu dem Schluss, dass sich das Herzinfarktrisiko unter Dabigatran im Vergleich zu anderen antikoagulativen Therapien erhöht.

Februar 2012: US-Anwälte kündigen Schadensersatzforderungen an, falls sich belegen lässt, dass Sicherheit und Effizienz von Dabigatran nicht ordnungsgemäß untersucht wurden und Patienten unter den Versäumnissen der Firma gelitten haben.

Juni 2012: Die EMA empfiehlt zur Verminderung des Blutungsrisikos eine Ausweitung der Kontraindikationen.

November 2012: Das BfArM veröffentlicht Empfehlungen für die Therapie von Blutungen und das perioperative Management.

Dezember 2012: Neue Kontraindikation wird hinzugefügt: Kein Dabigatran bei künstlichem Herzklappenersatz.

September 2013: Die Hersteller aller neuen oralen Antikoagulanzien weisen in einem Informationsbrief auf das erhöhte Blutungsrisiko hin.

Oktober 2013: Boehringer setzt sich gegen Klagen wegen Nebenwirkungen zur Wehr. Medienberichten zufolge wollen in Frankreich vier Familien von verstorbenen Pradaxa-Patienten das Pharmaunternehmen wegen fahrlässiger Tötung verklagen.

März 2014: Das arznei-telegramm wirft Boehringer vor, aus Vermarktungsgründen wichtige Hinweise ignoriert und eine Gefährdung der Patienten durch den Verzicht auf ein Gerinnungsmonitoring in Kauf genommen zu haben. Die Firma bezeichnet die Vorwürfe als haltlos.

Mai 2014: Boehringer schließt in den USA einen Vergleich über 650 Millionen US-Dollar. Damit werden circa 4000 Ansprüche beigelegt. 

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