Arzneimittel und Therapie

Gefährdet perinatale Nevirapin-Gabe die Folgetherapie?

Rund die Hälfte der weltweit ca. 35 Millionen HIV-infizierten Menschen sind Frauen im gebärfähigen Alter, etwa 2,1 Millionen sind Kinder, von denen die meisten während Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit infiziert wurden. Dank einer verstärkten Prävention der Mutter-Kind-Übertragung durch Nevirapin (Viramune®) ging die Zahl neu infizierter Kinder seit 2002 kontinuierlich zurück. Jüngste Studien nähren jedoch den Verdacht, die peripartale Nevirapin-Gabe könne zu Resistenzen führen, die die Wirksamkeit antiretroviraler Folgetherapien mindern.

Die Gabe einer Einzeldosis von Nevirapin ist ein therapeutischer Eckpfeiler bei der Prävention der Mutter-zu-Kind-Übertragung des HI-Virus in Entwicklungsländern. Allerdings kommt es trotz dieser Nevirapin-Prophylaxe immer wieder dazu, dass Kinder perinatal mit dem HI-Virus infiziert werden. Diesen Kindern könnte die Nevirapin-Gabe unter Umständen sogar zum Nachteil gereichen, indem sie die Effektivität einer Nevirapin-basierten Folgetherapie reduziert. Internationale Forschergruppen begaben sich daher auf die Suche nach der optimalen Strategie zur antiretroviralen Behandlung dieser Kinder und ihrer Mütter.

Nevirapin-Resistenz prädiktiv für Therapieversagen

Eine Studie in sechs afrikanischen Ländern untersuchte 164 HIV-infizierte Kinder im Alter von sechs bis 36 Monaten, bei denen die WHO-Kriterien für eine retrovirale Behandlung zutrafen. Die jungen Probanden erhielten Zidovudin und Lamivudin als Basistherapie sowie zusätzlich entweder Nevirapin (Nevirapin-Gruppe) oder Ritonavir-verstärktes Lopinavir (Lopinavir-Gruppe). Die kürzlich veröffentlichten Studienergebnisse beziehen sich auf die Kinder, die zuvor eine Einzeldosis Nevirapin zur Prophylaxe der peripartalen HIV-Infektion erhalten hatten. Primärer Endpunkt war das virologische Versagen oder ein vorzeitiger Behandlungsabbruch nach 24 Wochen. In der Nevirapin-Gruppe erreichten deutlich mehr Kinder den primären Endpunkt als in der Lopinavir-Gruppe (40% vs. 22%; p = 0,02). Infolge des unterschiedlichen Therapieerfolgs wurde der Einschluss von Patienten in die Nevirapin-Gruppe auf Empfehlung des Data and Safety Monitoring Board vorzeitig beendet, den Kindern aus der Nevirapin-Gruppe bzw. ihren Eltern wurde angeboten auf die Lopinavir-Therapie umzusteigen. Bei 18 von 148 Kindern (12%) wurde durch retrospektive Virus-Genotypisierung eine Nevirapin-Resistenz festgestellt. Diese war prädiktiv für ein Therapieversagen. Eine antiretrovirale Therapie, die Ritonavir-verstärktes Lopinavir statt Nevirapin enthält, führt demnach bei Kindern, die zuvor eine Einzeldosis Nevirapin zur Prävention der perinatalen HIV-Übertragung erhalten hatten, zu deutlich besseren Behandlungsergebnissen.

Auch Mütter von Wirkverlust betroffen

Eine weitere Studie sollte klären, inwieweit die peripartale Übertragungsprophylaxe mit Nevirapin auch bei den Müttern die Effektivität einer antiretroviralen Folgetherapie beeinflusst. Hierzu wurden in sieben afrikanischen Ländern 241 HIV-infizierte Frauen untersucht, deren Anzahl von CD4+ T-Zellen bei Einschluss in die Studie unter 200/mm³ lag. Die anamnestische Nevirapin-Exposition lag zu Studienbeginn mindestens sechs Monate zurück. 121 Probandinnen erhielten randomisiert eine antiretrovirale Therapie bestehend aus Tenofovir, Emtricitabin und Nevirapin (Nevirapin-Gruppe), die übrigen 120 wurden mit Tenofovir, Emtricitabin sowie Ritonavir-verstärktem Lopinavir (Lopinavir-Gruppe) behandelt. Virologisches Versagen trat bei insgesamt 37 Frauen auf (28 in der Nevirapin-Gruppe und neun in der Lopinavir-Gruppe), fünf starben ohne vorheriges virologisches Versagen (vier in der Nevirapin-Gruppe und eine in der Lopinavir-Gruppe). Je länger die vorausgegangene Nevirapin-Exposition bei Beginn der antiretroviralen Therapie zurücklag, desto geringer waren die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Parallel wurde eine Studie an 500 Frauen durchgeführt, deren Anamnese keine Nevirapin-Exposition aufwies und die ebenfalls randomisiert eine der beiden genannten Therapien erhalten hatten. Hierbei kam es lediglich bei 34 von 249 (14%) in der Nevirapin-Gruppe und bei 36 von 251 (ebenfalls 14%) in der Lopinavir-Gruppe zu virologischem Versagen oder zum Tod. Es zeigte sich also, dass auch bei Müttern mit vorheriger, peripartaler Nevirapin-Gabe eine antiretrovirale Therapie mit Ritonavir-verstärktem Lopinavir gegenüber einer Nevirapin-haltigen Therapie überlegen ist, während dies bei Patientinnen ohne vorherige Nevirapin-Exposition nicht der Fall ist.

Übliche Praxis ist dringend zu überdenken

Die gerade in Entwicklungsländern geübte Praxis Nevirapin sowohl zur Prävention perinataler HIV-Infektionen als auch zur Behandlung von infizierten Personen einzusetzen ist vor dem Hintergrund der aktuellen Studienergebnisse unbedingt zu überdenken und die Suche nach alternativen Therapiemöglichkeiten dringend erforderlich. Die aus obigen Studien abgeleitete Empfehlung HIV-positive Säuglinge, die im Vorfeld bereits Nevirapin zur Prävention der Mutter-Kind-Übertragung erhalten hatten, mit Protease-Inhibitoren wie Lopinavir zu behandeln unterliegt allerdings gewissen Einschränkungen und kann nicht auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden. Daher wurde in einer vierjährigen Studie zwischen April 2005 und Mai 2009 erforscht, ob Nevirapin-präexponierte Kinder, bei denen mithilfe von Protease-Inhibitoren eine virale Suppression erreicht wurde, später nicht wieder auf eine Nevirapin-basierte Therapie umgestellt werden können.

Autoren plädieren für Therapieumstellung

Untersucht wurden 195 Kinder, die perinatal Nevirapin erhalten und vor Erreichen des 24. Lebensmonats mit einer Protease-Inhibitor-Therapie begonnen hatten, mit deren Hilfe die Viruslast über mindestens drei Monate auf weniger als 400 Kopien/ml supprimiert werden konnte. Die Kinder in der Kontrollgruppe erhielten weiterhin Ritonavir-verstärktes Lopinavir, Stavudin und Lamivudin (n = 99). In der Testgruppe wurde die Gabe von Ritonavir-verstärktem Lopinavir durch Nevirapin substituiert (n = 96). Der Beobachtungszeitraum nach der Randomisierung betrug 52 Wochen. Eine Viruslast von mehr als 50 HIV-1 RNA-Kopien/ml Plasma wurde als primärer Endpunkt definiert. Eine bestätigte Virämie mit mehr als 1000 Kopien/ml galt in beiden Kohorten als Sicherheitsendpunkt und führte zu einer Therapieumstellung. In der Testgruppe traten Plasmavirämien mit mehr als 50 Kopien/ml seltener auf als in der Kontrollgruppe (42% vs. 56%). Bestätigte Virämien mit mehr als 1000 Kopien/ml waren in der Testgruppe hingegen häufiger, als in der Kontrollgruppe (20% vs. 2%). Die CD4-Zell-Antwort war in der Testgruppe (mittlerer CD4-Anteil nach 52 Wochen, 35%) besser als in der Kontrollgruppe (31%; p = 0,004). Auf Grundlage dieser Ergebnisse kommen die Autoren der Studie zu dem Schluss, dass die Umstellung auf eine Nevirapin-basierte Therapie nach Erreichen einer viralen Suppression mithilfe von Ritonavir-verstärktem Lopinavir bei HIV-infizierten Kindern, die perinatal Nevirapin ausgesetzt waren, zu weniger Virämien führt, als die Beibehaltung des Ritonavir-verstärkten Lopinavir-Regimes.

Zeitlicher Rückgang der Nevirapin-Resistenz?

Obwohl die vorläufigen Ergebnisse der beiden erstgenannten Studien darauf hindeuten, dass die virologische Replikation mit Nevirapin nicht so gut kontrolliert werden kann wie mit Ritonavir-verstärktem Lopinavir, kommt die letztgenannte Untersuchung zu dem Schluss, dass ein Therapiewechsel nach einer längeren einleitenden Therapie mit Ritonavir-verstärktem Lopinavir durchaus in Betracht gezogen werden kann. Denn während der einleitenden Therapie geht die Zahl der Resistenz-Mutationen möglicherweise zurück, was dazu führt, dass Nevirapin seine alte Wirksamkeit wieder zurückgewinnt. Gleiches gilt möglicherweise für ältere Kinder, bei denen seit der perinatalen Nevirapin-Exposition bereits ein längerer Zeitraum vergangen ist. Unter dem Strich stellt sich – nicht zuletzt aufgrund der gegenüber Nevirapin deutlich höheren Kosten einer Ritonavir-verstärkten Lopinavir-Therapie – die Frage, ob es nicht lohne, die auf eine Ritonavir/Lopinavir-Therapie angewiesenen Patienten mithilfe eines Resistenz-Screenings zu identifizieren und die übrigen Betroffenen weiterhin mit dem kostengünstigeren Nevirapin zu behandeln. Bis diese Frage abschließend beantwortet werden kann sind aus Expertensicht jedoch weitere klinische Erhebungen unbedingt erforderlich.

Quelle Palumbo, P.; et al.: Antiretroviral Treatment for Children with Peripartum Nevirapine Exposure. N Engl J Med (2010) 363: 1510 – 1520. Lallemant, M.; Jourdain, G.: Preventing Mother-to-Child Transmission of HIV - Protecting This Generation and the Next. N. Engl. J. Med. (2010) 363363;16 1570 – 1572. Lockman, S.; et al.: Antiretroviral Therapies in Women after Single-Dose Nevirapine Exposure. N. Engl. J. Med. (2010) 363:1499 – 509. Coovadia, A.; et al. Reuse of Nevirapine in Exposed HIV-Infected, Children After Protease Inhibitor– Based Viral Suppression, A Randomized Controlled Trial. J. Am. Med. Assoc. (2010) 304: 1082-1090, doi:10.1001/jama.2010.1278.

 


Apotheker Dr. Andreas Ziegler

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