Arzneimittel und Therapie

Früher Beginn einer antiretroviralen Therapie verhindert möglicherweise HIV-Infektion

Ist die "functional cure" einer HIV-Infektion möglich? Das war sicherlich DIE spannende Frage auf der 20th Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, die vom 3. bis 6. März in Atlanta stattgefunden hat. Aufhänger war der Fall eines infizierten frühgeborenen Mädchens.

Die Vorgeschichte

Im Juli 2010 kam die Tochter einer HIV-positiven Mutter in der 35. Schwangerschaftswoche zur Welt und wurde direkt an die University of Mississippi Medical School in Jackson überwiesen. Bereits am zweiten Lebenstag konnte anhand von DNA- und RNA-Tests gezeigt werden, dass das Kind mit dem HI-Virus infiziert war. Allerdings war die Viruslast mit ca. 20.000 RNA-Kopien pro Milliliter Plasma relativ gering. Ungefähr 30 Stunden nach der Geburt wurde eine antiretrovirale Therapie des Mädchens mit Zidovudin (AZT), Lamivudin und Nevirapin initiiert. Statt die Therapie – wie bei einer Postexpositionsprophylaxe üblich – nach vier Wochen wieder abzusetzen, wurde das Mädchen für 18 Monate weiter therapiert. Allerdings wurde am Tag 7 Nevirapin durch Lopinavir/Ritonavir ersetzt.

An den Tagen 7, 12 und 20 konnte die Viruslast im Blut bestätigt werden. Ab Tag 29 waren allerdings keine Viren mehr im Plasma des Neugeborenen nachweisbar. Nach 18 Monaten Therapie brachte die Mutter ihre Tochter nicht mehr zum Arzt, und der Infektionsverlauf konnte während fast sechs Monaten nicht beobachtet werden. Während dieser Zeit hatte das Kind wahrscheinlich keine antiretroviralen Medikamente mehr eingenommen.

Im Alter von 24 Monaten wurde das Kind wieder bei Ärzten vorstellig, und es konnten 1 Kopie/ml und zwei Monate später 2 Kopien/ml Virus-RNA im Plasma des Mädchens nachgewiesen werden. Gleichzeitig durchgeführte Tests auf Virus-DNA in peripheren mononukleären Zellen zeigten, dass 37 bzw. vier Kopien Virus-DNA in einer Million Zellen gefunden wurden. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass sich bereits ein Reservoir an latent infizierten Zellen im Kind etabliert hatte. Da allerdings keine sogenannten 2-LTR-Ringe, also Fragmente nicht-integrierter Virus-DNA, detektiert wurden, kann man davon ausgehen, dass das HI-Virus in den Zellen nicht aktiv repliziert wird. Die beteiligten Wissenschaftler sprechen deshalb von einer "funktionellen Heilung" des Mädchens. Ob das Kind vielleicht sogar tatsächlich geheilt ist, wird sich erst im weiteren Verlauf ihres Lebens und mithilfe immer wiederkehrender Tests zeigen.

Wie hoch ist die Gefahr einer Mutter-Kind-Übertragung?

Ist vor der Geburt eines Kindes bekannt, dass die Mutter HIV-positiv ist, erhält in Deutschland die Frau je nach Viruslast und Behandlungsindikation spätestens ab der 32. Schwangerschaftswoche eine antiretrovirale Therapie. Bei einer vor der Geburt nachweisbaren Viruslast der Mutter wird ein Kaiserschnitt durchgeführt. In jedem Fall erhält das Neugeborene als Postexpositionsprophylaxe 2 mg/kg Körpergewicht (KG) Zidovudin oral alle sechs Stunden für zwei bis vier (maximal sechs) Wochen oder alternativ für zehn Tage 1,5 mg/kg KG i.v. alle sechs Stunden. Trägt die Mutter auch Zidovudin-resistente HI-Viren, kann für sechs Wochen eine Zwei- oder Dreifachprophylaxe des Neugeborenen mit Zidovudin und Lamivudin durchgeführt werden. Außerdem sollte die Mutter auf das Stillen des Kindes verzichten.

Werden alle Vorsorgemaßnahmen korrekt angewendet, liegt die Übertragungsrate bei < 1%. Das Robert Koch-Institut geht für 2012 von weniger als zehn Mutter-Kind-Übertragungen aus, und insgesamt leben in Deutschland ungefähr 420 Kinder, die sich vor, während oder nach der Geburt bei ihrer Mutter mit HIV angesteckt haben. Zu beachten ist, dass ab der 32. Schwangerschaftswoche IgG-Antikörper transplazentar übertragen werden, so dass das Neugeborene einer HIV-positiven Mutter, selbst wenn es während der Geburt nicht infiziert wurde, im HIV-Antikörpertest zunächst positiv ist. Um wirklich verlässliche Ergebnisse zu haben, muss die Virus-RNA und/oder -DNA nachgewiesen werden.

Funktionelle Heilung/komplette Heilung


Nach einer Infektion vermehrt sich das HI-Virus nicht nur in den Immunzellen, sondern bildet zudem Reservoirs in Blutzellen und Lymphgewebe. Dort liegt es zunächst inaktiv vor und ist daher auch von antiretroviralen Wirkstoffen nicht erreichbar. Wird allerdings die antivirale Medikation abgesetzt, kann das HI-Virus in diesen Reservoirs reaktiviert werden, so dass die Infektion wieder aufflammt.

Bleibt ein Patient nach einem Absetzen der antiretroviralen Therapie nach klinischen Standards HIV-negativ, das heißt ohne Virusnachweis im Plasma mit gängigen Methoden, so spricht man von einer "funktionellen Heilung". Diese Einschränkung muss man machen, da mit empfindlicher Methodik tatsächlich noch HIV-Genome nachweisbar sind.

Im Gegensatz zur "funktionellen Heilung" spricht man von einer "kompletten Heilung" (sterilizing cure), wenn auch mit empfindlichsten Methoden weder virale Nukleinsäuren noch Anti-HIV-Antikörper nachweisbar sind. Das bisher einzige Beispiel für eine "komplette Heilung" ist der sogenannte Berliner Patient.

Was können wir aus dem Mississippi-Fall lernen?

In den Industrieländern ist die Gefahr einer Mutter-Kind-Übertragung des Virus dank guter Prophylaxe inzwischen minimal. Der Fall des frühgeborenen Mädchens in Mississippi zeigt den sehr guten Erfolg einer früh begonnenen antiretroviralen Therapie (ART). Diese Beobachtung wird unterstützt durch einen zweiten Bericht auf der Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections. In diesem Bericht wurde eine kleine Studie mit neun Jugendlichen vorgestellt, die sich während der Geburt mit HIV infiziert hatten. Während fünf der Jugendlichen bereits im Alter von zwei Monaten eine ART erhielten, begannen die anderen vier erst später in der Kindheit mit der Therapie gegen HIV. Bei der Gruppe der früh behandelten Jugendlichen können nur extrem geringe virale DNA-Mengen und keine HIV-spezifischen Antikörper nachgewiesen werden, während die später begonnene antiretrovirale Therapie weder die Bildung von Antikörpern noch die Entstehung ruhender Virus-infizierter Zellen verhindern konnte.

Ein kürzlich publizierter Review der Cochrane Collaboration fasst die Ergebnisse verschiedener Therapie-Studien an HIV-infizierten Kindern unter zwei Jahren zusammen. Demnach sollte möglichst früh nach der Geburt mit einer antiretroviralen Therapie bestehend aus einem Wirkstoff-Cocktail mit Lopinavir/Ritonavir begonnen werden. Nevirapin ist in der First-line-Therapie möglichst zu vermeiden, kann aber später als Ersatz für Lopinavir/Ritonavir angewendet werden.

Mit dieser Therapie könnten mit großer Wahrscheinlichkeit alle die Kinder gerettet werden, die sich während der Geburt mit HIV infizieren. In Deutschland waren es dank guter Prophylaxe 2012 weniger als zehn. Die WHO geht jedoch davon aus, dass weltweit täglich mehr als 1000 neu-infizierte Säuglinge geboren werden. Insgesamt waren es 2010 auf der ganzen Welt ca. 3,4 Millionen Kleinkinder, von denen 50% ohne antiretrovirale Therapie bis zum 2. Lebensjahr sterben.

Somit besteht weltweit ein großer Bedarf an Medikamenten für die Behandlung Schwangerer und für die Postexpositionsprophylaxe der Neugeborenen. Sollten sich die Ergebnisse des frühgeborenen Mädchens in Mississippi bestätigen und wiederholen lassen, wäre die antiretrovirale Therapie bei den Neugeborenen eventuell nur für ein bis zwei Jahre und nicht lebenslang nötig. Und das HI-Virus wäre für die Kinder vielleicht nur noch ein Stück DNA, das sich in ein paar Zellen irgendwo ins Genom integriert hat, ohne wieder reaktiviert zu werden. Dann wären diese Kinder zwar nicht komplett geheilt wie der Berliner Patient (siehe DAZ 2012, Nr. 48, S. 60). Sie wären jedoch wenigstens "funktionell geheilt", was klinisch einer Heilung äquivalent zu sein scheint.


Quelle

HIV: "Funktionelle Heilung" eines Frühgeborenen in den USA. www.ärzteblatt.de; 4. März 2013.

Alcorn, K. CROI 2013: Case Report of a "Functional" HIV Cure in a Child - Search for a Cure, www.hivandhepatitis.com

Researchers Describe First "Functional HIV Cure” in an Infant, Benefits of Early Therapy. Pressemitteilung des Children’s Hospital at Johns Hopkins, Baltimore, Maryland, vom 4. März 2013.

HIV/AIDS in Deutschland – Eckdaten der Schätzung; Epidemiologische Kurzinformation des Robert Koch-Instituts, Stand: Ende 2012.

Deutsch-Österreichische Leitlinie zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft und bei HIV-exponierten Neugeborenen, Stand: September 2011.

Penazzato, M., Prendergast, A., Tierney, J., Cotton, M., Gibb, D. Effectiveness of antiretroviral therapy in HIV-infected children under 2 years of age (Review). The Cochrane Library 7 (2012).


Dr. Ilse Zündorf, Prof. Dr. Theo Dingermann, Institut für Pharmazeutische Biologie, Frankfurt/Main



DAZ 2013, Nr. 11, S. 44

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