Medizin

Was steckt eigentlich hinter … Parästhesien?

Als würden tausend Ameisen über einen herfallen: So beschrieb ein Patient das Kribbeln an seinen Füßen. Parästhesien können also nicht nur lästig, sondern sehr unangenehm sein. Sie sind nicht nur Zeichen akuter und chronischer Nervenschäden, sondern auch Warnhinweis einer bisher unbekannten oder ungenügend behandelten Erkrankung wie eines Diabetes mellitus.

Jedem ist wohl schon mal ein Arm oder Fuß "eingeschlafen". Wenn Arterien abgedrückt und den Nerven der Sauerstoff ausgeht, "schlafen die Nerven ein": Sie melden nichts mehr. Wenn sie wieder durchblutet werden, kommt es anfangs zu Fehlfunktionen und die Nerven melden das typische Prickeln.

Stehen Schmerzempfindungen im Vordergrund, spricht man von Dysästhesien, bei verminderter Sensibilität von Hypästhesie und bei erhöhter gegenüber Berührung oder Temperatur von Hyperästhesie.

Akute Parästhesien sind oft Vorboten schwerer Störungen im ZNS, z. B. eines Apoplex oder fokaler Anfälle. Die Diagnose erschließt sich dann im Rahmen des klinischen Gesamtbildes. Viel häufiger und zugleich diagnostisch schwerer einzuordnen sind chronische Parästhesien.

Finger, Hände und Arme

An den oberen Extremitäten sind Engpass-Syndrome als Ursache von chronischen Parästhesien dominierend, während innere Erkrankungen seltener eine Rolle spielen. Die Engstellen liegen im Handbereich, aber auch im Ellbogen, in der Halswirbelsäule oder in den Hals- und Brustmuskeln.

Karpaltunnel-Syndrom (KTS, CTS). Das Karpaltunnel-Syndrom ist das häufigste Engpass-Syndrom der oberen Extremität und Folge einer Kompression des N. medianus im Handgelenk. Paräasthesien treten vor allem nachts in Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger sowie an der radialen Seite des Ringfingers auf und strahlen mitunter bis in die Schulter aus. Die Symptome bessern sich meist beim Herabhängenlassen der Arme und durch Schütteln und Massieren der Hand. Später kann die Daumenballenmuskulatur atrophieren. Auslöser ist häufig eine Überlastung durch einseitige Tätigkeiten. Sekundär tritt es nach Knochenbrüchen, Sehnenscheidenentzündungen und bei rheumatischen Erkrankungen auf.

Ulnartunnel-Syndrom (Guyon-Tunnelsyndrom). Hier wird der N. ulnaris in der Guyon-Loge am Handgelenk komprimiert. Das Syndrom wird auch als "Radfahrerlähmung" bezeichnet, da es oft als Folge einer Fehlhaltung der Hände am Fahrradlenker auftritt. Entsprechend des Versorgungsgebiets des N. ulnaris finden sich Parästhesien besonders am Ring- und Kleinfinger. Mit der Zeit atrophiert der Kleinfingerballen, Ring- und Kleinfinger verkrümmen sich (Krallenhand).

Sulcus-ulnaris-Syndrom (Kubitaltunnel-Syndrom). Am Ellenbogen verläuft der N. ulnaris in einer Rinne (Sulcus nervi ulnaris), durch den sogenannten Kubitaltunnel (lat. cubitus = Ellenbogen). Kompressionen des N. ulnaris in diesem Bereich treten v. a. nach Verletzungen auf und führen zusätzlich zu Schmerzen in Unterarm und Hand.

HWS-Syndrom (Zervikobrachialsyndrom). Taubheitsgefühle in Fingern und Händen sind nicht selten Folge eines Schleudertraumas, Bandscheibenvorfalls oder einer Arthrose. Je nach geschädigtem Nerv sind unterschiedliche Bereiche der Hand betroffen.

Polyneuropathien. Neben den Nervenengpass-Syndromen führen auch innere Erkrankungen zu Sensibilitätsstörungen. Am häufigsten findet man Polyneuropathien bei Diabetes und chronischem Alkoholmissbrauch, seltener bei Infektionen, Vergiftungen oder Vitamin-B-Mangel, v. a. Vitamin-B12 -Mangel. Dann betreffen die Beschwerden auch die unteren Extremitäten und neben der Haut andere Organe, z. B. bei Diabetes den Magen.

Durchblutungsstörungen. Das Raynaud-Syndrom ist eine Gefäßerkrankung mit anfallsartigen Vasospasmen v. a. in den Fingern, fast nie in den Daumen oder Zehen. Ausgelöst durch Kälte oder emotionalen Stress werden die Finger, meist ausgehend von den Fingerspitzen, plötzlich weiß. Begleitet wird so ein Anfall meistens von Schmerzen, Taubheitsgefühl und Kribbeln. Fast immer dauern die Attacken nur wenige Minuten und klingen ohne weitere Schäden ab. Nur beim sekundären Raynaud-Syndrom, z. B. nach Traumata oder bei rheumatischen Erkrankungen, kann es zu Nekrosen der Fingerkuppen (Rattenbiss-Nekrosen) kommen.

Arterielle Durchblutungsstörungen spielen bei Parästhesien der Hände selten eine Rolle.

Beine und Füße

An den unteren Extremitäten dominieren die alkoholische und diabetische Polyneuropathie sowie Durchblutungsstörungen als Ursachen von Parästhesien. Engpass-Syndrome sind bis auf den Bandscheibenvorfall selten.

Polyneuropathie. Alkoholabusus und Diabetes sind häufige Ursachen, andere sind selten. Typisch ist die strumpfförmige, symmetrische Ausdehnung. Häufig sind auch Dysästhesien ("Burning feet") und Verlust der Tiefensensibilität. Besonders kritisch ist die Hypästhesie im Fußbereich mit der Gefahr von Verletzungen und Infektionen.

Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK). Betroffen sind vor allem Raucher und Diabetiker. Charakteristisch sind Beschwerden beim Gehen, die beim Stehenbleiben nachlassen (Schaufensterkrankheit, Claudicatio intermittens). Eine frühe Therapie ist wichtig, damit es nicht zu Ulzera und Gangränen kommt.

Tarsaltunnel-Syndrom. Der N. tibialis versorgt die Beugemuskulatur des Unterschenkels und die Muskeln der Fußsohle. Er verläuft durch den Tarsaltunnel hinter dem Fußinnenknöchel. Ursache können Fehlstellungen, Überlastung oder Verletzungen sein. Parästhesien treten v. a. nachts und bei Belastung am inneren Fußrand auf. Eventuell strahlen Schmerzen in die Fußsohle und Wade aus.

Inguinaltunnel-Syndrom (Meralgia paraesthetica). Übergewicht, Schwangerschaft oder enge Jeans komprimieren in der Leiste den N. cutaneus femoris lateralis und rufen so Missempfinden an der vorderen Außenseite des Oberschenkels hervor.

Therapie

Die Therapie der Ursache, z. B. Schlaganfall oder Bandscheibenvorfall steht bei akuten Parästhesien im Vordergrund. Bei Kompressionssyndromen wird der betroffene Nerv durch Ruhigstellung oder eine Operation entlastet. Krankengymnastik hilft in manchen Fällen.

Bei Durchblutungsstörungen und alkoholischen oder diabetischen Polyneuropathien ist die Minimierung der Risikofaktoren wichtig. Bei Diabetikern ist die effektivste Maßnahme eine gute Blutzuckereinstellung.

Neben präventiven werden rheologische und schmerzlindernde Maßnahmen ergriffen:

  • Gefäßtraining
  • Thrombozytenaggregationshemmer, z. B. Acetylsalicylsäure, Clopidogrel
  • ohne gesicherte Wirkung: Alpha-Liponsäure
  • bei neuropathischen Schmerzen: Gabapentin, Pregabalin
  • Antidepressiva, z. B. Amitriptylin, Paroxetin
  • Revaskularisierung (Stent, Bypass).

Bei rechtzeitger Therapie sind die meisten Parästhesien, v. a. bei Kompressionssyndromen, reversibel. Beim Diabetes und der pAVK bestimmen die konsequente Therapie und Änderungen im Lebensstil, z. B. Verzicht auf Alkohol und Rauchen, letztlich die Prognose.

Beschwerdebild
Was steckt dahinter?
Parästhesien an Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, v. a. nachts
  • evtl. Atrophie des Daumenballens
  • evtl. Ausstrahlung in Arm bis Schulter
Karpaltunnel-Syndrom
Parästhesien an Ring- und Kleinfinger

  • evtl. Atrophie des Kleinfingerballens
Ulnartunnel-Syndrom
Schmerzen in Unterarm und Hand

  • Parästhesien an Ring- und Kleinfinger
  • evtl. Atrophie des Kleinfingerballens
Sulcus-ulnaris-Syndrom
Parästhesien an Hand oder Arm mit Nackenbeschwerden
HWS-Syndrom
Anfallsweise weiße Finger mit Schmerzen, Taubheitsgefühl, Kribbeln
  • oft ausgelöst durch Stress oder Kälte
Raynaud-Syndrom
Taubheitsgefühl in Armen oder Beinen mit Rückenschmerzen

  • evtl. mit Lähmungen
  • Bandscheibenvorfall
  • Spinalstenose, Wirbelkörperfraktur
  • Knochentumor der Wirbelsäule
Strumpfförmige, symmetrische Parästhesien, v. a. an unteren Extremitäten
  • Verlust der Tiefensensibilität
  • alkoholische Polyneuropathie
  • diabetische Polyneuropathie
  • selten: Hypothyreose, Infektionen, Vergiftung, Vitamin-B-Mangel.
Parästhesien und Schmerzen bei
Belastung

  • kühle Haut, fehlende Pulse
pAVK
Parästhesien am inneren Fußrand, v.a. bei Belastung und nachts
  • evtl. Ausstrahlung in Fußsohle, Wade
Tarsaltunnel-Syndrom
Parästhesien vorne an der Oberschenkelaußenseite
Inguinaltunnel-Syndrom
Zunehmendes Taubheitsgefühl über Wochen bis Monate

  • evtl. mit Lähmungen oder Schmerzen
  • Gehirn- oder Rückenmarktumor
  • Kollagenose, z. B. Lupus erythematodes
Anfallsartiges Ameisenlaufen, evtl. wandernd
Epilepsie mit einfach-fokalen Anfällen
Parästhesien, oft diffus

  • bei Medikamenteneinnahme
Medikamentennebenwirkung, z. B. von Antibiotika, Basisantirheumatika, Chloroquin, Zytostatika
Wechselndes Taubheitsgefühl und/oder Missempfinden bei negativen neurologischen Befunden
dissoziative oder somatoforme Störung

Quelle

Mumenthaler, M.; Mattle, H.: Neurologie, 20. Aufl., 2008 Thieme Verlag

Schäffler, A. (Hrsg.): Gesundheit heute, 2. Aufl. 2009, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart


Autor: Dr. med. Arne Schäffler & Kollegen, Augsburg, www.schaeffler.cc

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