Arzneimittel und Therapie

Arzneimittel für Kinder: Kinder am therapeutischen Fortschritt beteiligen

Obwohl die pharmazeutische Industrie auch Arzneimittel mit Dosierungen für Kinder und Jugendliche entwickelt, gibt es in diesem Bereich zahlreiche Lücken. Gegenwärtig werden international große Anstrengungen unternommen, die noch bestehenden rechtlichen, medizinischen, pharmazeutischen, ethischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Hindernisse zu beseitigen. Auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) e. V. hat in seinem Positionspapier "Verbesserung der Arzneimittelsituation bei Kindern" Lösungsvorschläge unterbreitet.

Die meisten der heute verfügbaren Medikamente wurden nur bei Erwachsenen auf Wirksamkeit und Verträglichkeit geprüft. Bei Arzneimittelanwendungen an Kindern rechnete man traditionell die Erwachsenendosen auf das kindliche Gewicht oder andere Messgrößen herunter. Es bestehen jedoch bei Kindern im Vergleich zum erwachsenen Körper massive Unterschiede in der Ausreifung der inneren Organsysteme, bei Früh- und Neugeborenen ist die Situation noch komplizierter.

Dr. Klaus Rose von der Novartis Pharma AG Basel betonte, dass eine verantwortungsvolle Dosierung ohne klinische Studien an Kindern in allen Altersgruppen nicht möglich sei. Solche klinischen Studien müssten grundsätzlich den gleichen Good Clinical Practice(GCP)-Regeln wie bei Erwachsenen folgen. Diese Regeln beinhalten unter anderem einen wissenschaftlichen Prüfplan, eine Genehmigung durch Behörden und eine Ethikkommission, die Freiwilligkeit der Teilnahme und den Einsatz qualifizierten Prüfpersonals.

Dazu kommen einige kindliche Besonderheiten. Ein Kind nimmt niemals allein an einer Studie teil, sondern immer die ganze Familie. Kinder haben zudem eine andere Sicht auf Krankheit, Krankenhaus und Wissenschaft. In Rücksicht darauf sollten diejenigen, die klinische Studien an Kindern planen und durchführen, besonders qualifiziert sein. Die pharmazeutische Industrie, betonte Rose, bezieht die mögliche Anwendung bei Kindern und Jugendlichen zunehmend in die Entwicklung neuer Medikamente ein.

Mehr klinische Studien gefordert

Prof. Dr. Joachim Boos von der Universität Münster führte aus, dass das infolge der Contergan®-Katastrophe geschaffene System der Zulassung von Arzneimitteln mit behördlicher Kontrolle von Unterlagen zu Nutzen und Risiken zwar prinzipiell zu einem besseren Verbraucherschutz beigetragen habe, aber gerade Kinder vom medizinischen Fortschritt ausgrenze. In den Packungsbeilagen vieler Medikamente sei die Anwendung bei Kindern als Kontraindikation angeführt. Dies beruhe jedoch meist nicht auf real erkannten Problemen und Risiken, sondern lediglich auf dem Fehlen von ausreichenden, in Studien dokumentierten Erfahrungen. Die Situation sei paradox: Kinder, die man vor den Risiken klinischer Prüfungen bewahren wollte, sind nunmehr den Risiken von Heilversuchen ausgesetzt.

Im Bereich der Kinderintensivmedizin, der Behandlung von Frühgeborenen, Kindern mit Herzrhythmusstörungen, krebskranken und anderen schwer kranken Kindern müsse ein wesentlicher Teil der Therapie off-label erfolgen. Auf onkologischen Stationen werden ca. 50 bis 70 Prozent, auf neonatologischen Intensivstationen sogar bis 90 Prozent der Medikamente ohne entsprechende Zulassung eingesetzt. Je schwerer die Erkrankung, desto komplexer seien die Probleme, umso mehr habe das Kind aber auch Anspruch auf eine Behandlung mit den vorhandenen Medikamenten.

Kindgerechte Arzneiformen entwickeln

Als weiteres Problemfeld kommt hinzu, dass für Kinder besondere Arzneiformen wünschenswert wären. Die Entwicklung kindgerechter Arzneiformen ist jedoch weitaus komplexer als gemeinhin angenommen. In der traditionellen pädiatrischen Medizin kamen vor allem süße, nach Frucht schmeckende Flüssigkeiten zum Einsatz. Zwar seien Tropfen, Sirupe oder Säfte prinzipiell für Kinder gut geeignet, der Trend sollte jedoch zu geschmacksneutralen Zubereitungen gehen, auch um den Kindern zu verdeutlichen, dass Medikamente keine Süßigkeiten sind. Aus diesem Grund seien "witzige" Darreichungsformen wie beispielsweise Gummibärchen ungeeignet. Zu bedenken sei auch, dass zum Beispiel bei der Verabreichung eines Löffels flüssiger Medizin an ein Baby normalerweise nur ein geringer Teil der Menge tatsächlich geschluckt wird. Wirksamer wäre hier eine schnell lösliche Tablette ("Schmelztablette"), die sich direkt im Kindermund auflöst.

Da viele Kinder die orale Einnahme von Medizin ablehnen, werden in Zukunft wahrscheinlich "nicht-infiltrierende" Darreichungsformen, wie zum Beispiel Wirkstoffpflaster, verstärkt zum Einsatz kommen. Pflaster würden von Kindern auch leichter akzeptiert, da sie durch die Wundbehandlung bereits bekannt sind. Für die Zukunft sei auch der verstärkte Einsatz von elektronischen Geräten zur Überprüfung einer korrekte Medikamenteneinnahme (z. B. bei der Anwendung von Asthma-Inhalatoren) denkbar.

Altersgerechte Information notwendig

Prof. Dr. Jörg Fegert vom Universitätsklinikum Ulm ging speziell auf die Problematik der "Einwilligungsunfähigkeit" von Kindern und Jugendlichen ein. Ein großes Dilemma der derzeit geltenden Schutzbestimmungen im deutschen Arzneimittelgesetz, die teilweise auch mit europäischer Gesetzgebung kollidieren, sei die globale Betrachtung von Kindern und Jugendlichen als "Einwilligungsunfähige" sowie das generelle Verbot von fremdnütziger Forschung an solchen Patienten.

Wie Fegert betonte, befinden sich damit Kinder und Jugendliche in einem "Sammeltopf" mit geistig Behinderten und Menschen mit Alzheimer-Demenz. Kinder hätten jedoch mit zunehmenden Alter ein wachsendes Urteilsvermögen und könnten deshalb sehr wohl mit entsprechender Information in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. In Untersuchungen am Universitätsklinikum Ulm habe sich gezeigt, dass es die Motivation für eine Behandlung hochsignifikant beeinflusste, wenn Kinder und Jugendliche an Behandlungsentscheidungen teilnehmen konnten.

Die Information von Kindern und Jugendlichen sei daher kein Formalismus, sondern eine medizinische Notwendigkeit, welche auch den Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention entspricht. International sei es in den letzten Jahren üblich geworden, neben der rechtskräftigen Einwilligung der Eltern ("informed consent") auch die Zustimmung ("assent") der kindlichen oder jugendlichen Studienteilnehmer nach altersentsprechender Information zu dokumentieren. Die europäische Bioethikkonvention, die von der Bundesrepublik leider immer noch nicht ratifiziert wurde, sichere den Kindern ein altersentsprechendes Informationsrecht und eine entwicklungsangemessene Beteiligung bei entsprechenden Entscheidungen zu.

Breite Akzeptanz fördern

Wie Dr. Siegfried Throm und Dr. Hans-J. Weber vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller darstellten, hat der Verband im Januar 2000 in seinem Positionspapier "Verbesserung der Arzneimittelsituation bei Kindern" die derzeitige Situation analysiert und Lösungsvorschläge unterbreitet. Einige der vom VFA vorgeschlagenen Maßnahmen seien inzwischen umgesetzt.

Beispielsweise konnten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), an den Koordinierungszentren für Klinische Studien (KKS) in Freiburg, Heidelberg, Köln Leipzig und Mainz "pädiatrische Module" eingerichtet und damit die Infrastruktur für klinische Prüfungen mit Kindern verbessert werden. Für die nahe Zukunft stelle sich die Aufgabe, die bestehenden Zentren zum Zwecke einer ausreichenden Patientenrekrutierung (ein großes Problem bei Kinderstudien) zu Netzwerken zu verknüpfen. Auch im Arzneimittelgesetz müssten Änderungen erfolgen. So gelte es beispielsweise die EG-GCP-Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen, nach der Kinderstudien auch dann zulässig sind, wenn nicht der einzelne Teilnehmer, aber die behandelte Gruppe einen Vorteil hat.

Nicht zuletzt gelte es, die Akzeptanz von Kinderstudien zu verbessern. Die Angehörigen schwer kranker Kinder hätten in der Regel keine Probleme, einer Studienteilnahme zuzustimmen, da dies oft die letzte Chance für eine Heilung oder Linderung sei. Skepsis bestehe jedoch in der breiten Öffentlichkeit ("Versuchskaninchen-Image"). Der VFA möchte mit dazu beitragen, dass die Bevölkerung klinische Studien an Kindern als Möglichkeit zur Beteiligung am therapeutischen Fortschritt begreift.

Obwohl die pharmazeutische Industrie auch Arzneimittel mit Dosierungen für Kinder und Jugendliche entwickelt, gibt es in diesem Bereich zahlreiche Lücken. Gegenwärtig werden international große Anstrengungen unternommen, die noch bestehenden rechtlichen, medizinischen, pharmazeutischen, ethischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Hindernisse zu beseitigen.

Aktivitäten zur Verbesserung der Arzneimittelsituation bei Kindern

In der EU:

  • Dezember 2000: Entschließung des EG-Gesundheitsministerrats. Die Europäische Kommission wird aufgefordert, schnellstmöglich Vorschläge zur Unterstützung von pädiatrischer Forschung und Entwicklung vorzulegen.
  • April 2001: Einrichtung der EMEA "Ad hoc Expert Group on Pediatrics" (Beratungsgremium für alle Fragen bei Entwicklung und Anwendung von Kinderarzneimitteln).
  • Januar 2001: CPMP/ICH-Leitlinie "Clinical investigation in the pediatric population".
  • Januar 2002: Positionspapier des Europäischen Pharmaverbandes EFPIA.
  • Februar 2002: Konsultationspapier "Better medicines for children" der Europäischen Kommission.

    in Deutschland:

  • 23. Januar 2001: Antrag der CDU-Fraktion ("Medizinische Versorgung von Kindern sichern").
  • 26. Januar 2001: Antrag von SPD/Bündnis 90/Die Grünen ("Arzneimitteltherapie bei Kindern und Jugendliche sicherer machen").
  • Juni 2001: Entschließungen der Gesundheitsministerkonferenzen in Düsseldorf und Bremen.
  • Oktober 2001: Expertengremium "Arzneimittel für Kinder und Jugendliche" beim BfArM.
  • 2002: BMBF fördert die Einrichtung von fünf pädiatrischen Modulen bei den Koordinierungszentren für Klinische Studien (KKS) in Heidelberg, Freiburg, Leipzig, Köln und Mainz.
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