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Klinische Prüfung: Pädiatrische Arzneimittelforschung soll raus aus den Kind

FRANKFURT/M. (hb). Die Anwendung von Arzneimitteln in der Pädiatrie ist bei besonderen Indikationen, vielfach aber auch allgemein, bezüglich der kindgerechten Dosierung häufig nicht ausreichend abgesichert. In weiten Bereichen mangelt es an der notwendigen klinischen Forschung. Dabei stehen ethische, rechtliche, fachliche und finanzielle Gründe sowie Fragen der allgemeinen Akzeptanz einer breiten Arzneimittelprüfung an Kindern entgegen. In jüngster Zeit wurde allerdings sowohl auf europäischer Ebene wie auch national die Initiative ergriffen, um konkrete Maßnahmen zur Verbesserung dieser Situation einzuleiten. Hierbei spielen die neue europäische Richtlinie über die klinische Prüfung und die spezielle Leitlinie zur Arzneimittelprüfung an Kindern eine wichtige Rolle.

Arzneimittelanwendung bei Kindern häufig "off-label"

Untersuchungen haben gezeigt, dass viele Arzneimittel, die Kindern verordnet werden, entweder nicht zugelassen sind ("unlicensed use") oder dass zugelassene Arzneimittel außerhalb der durch wissenschaftliche Belege abgesicherten Indikationen verschrieben werden ("off-label-use"). Im Januar 2001 waren von 110 Arzneimitteln mit einer zentralen europäischen Zulassung 49 sowohl für Erwachsene als auch für Kinder geeignet, aber nur 15 enthielten Hinweise zur Anwendung an Kindern und Erwachsenen. So ist der so genannte "off-label use" von Arzneimitteln bei Kindern zum medizinischen Standard geworden. Er gehört zur alltäglichen medizinischen Versorgung. Nach dem "Aciclovir-Urteil" des Oberlandesgerichts Köln besteht trotz bestehender rechtlicher Bedenken sogar eine Anwendungspflicht außerhalb einer zugelassenen Indikation, wenn das insoweit zugelassene Arzneimittel nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand hinreichend wirksam und unbedenklich ist und eine bessere therapeutische Alternative nicht zur Verfügung steht. Dennoch kann die derzeitige Situation auf lange Sicht nicht befriedigend sein.

Warum liegt die Arzneimittelforschung an Kindern brach?

Die zulassungrechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sind für eine sichere Arzneimittelversorgung von Kindern nicht gerade förderlich. Den Arzneimittelherstellern fehlt es an Anreizen für pädiatrische Studien. Die geltenden Vorschriften honorieren eine zusätzliche pädiatrische Forschung bislang nicht. Hier könnte eine Verlängerung des Patentschutzes und des Verwertungsschutzes für die betreffenden Zulassungsunterlagen Abhilfe schaffen. Andererseits besitzen auch die Zulassungsbehörden derzeit keine Handhabe, der Pharmaindustrie die Durchführung von Studien an Kindern aufzuerlegen. Dies hat zur Folge, dass die Infrastruktur für die Arzneimittelforschung nicht ausreichend ausgebaut ist.

Studien an Kindern sind zulässig, wenn ...

Die allgemeinen Schutzvorschriften für die an klinischen Prüfungen teilnehmenden Personen finden sich in § 40 des Arzneimittelgesetzes. Hiernach gelten für Kinder und Jugendliche besondere Voraussetzungen. So dürfen gesunde Minderjährige (Probanden) nur in eine klinische Prüfung einbezogen werden, wenn das Arzneimittel zur Diagnose oder zur Vorbeugung von Krankheiten bei Minderjährigen (z. B. Impfstoffe) bestimmt ist und seine Prüfung an Erwachsenen keine ausreichenden Ergebnisse erwarten lässt. Es muss die schriftliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters (beide Elternteile) und sofern Einsichtsfähigkeit gegeben ist (i.d.R. mit Vollendung des 14. Lebensjahrs), auch des Minderjährigen vorliegen.

Eine Prüfung an Kranken (Patienten) ist nach § 41 AMG nur dann zulässig, wenn die Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels angezeigt ist, um das Leben des Kranken zu retten, seine Gesundheit wiederherzustellen oder sein Leiden zu erleichtern. Diese Voraussetzungen gelten in gleicher Weise für minderjährige Patienten.

Vorgaben der europäischen Richtlinie über die klinische Prüfung

Wie in Deutschland gibt es auch in Europa derzeit keine rechtliche Verpflichtung zur Entwicklung von Arzneimitteln bei Kindern. Die neue europäische Richtlinie über die klinische Prüfung (2001/20/EG vom 4.4.2001), die bis zum 1. Mai 2003 in deutsches Recht umgesetzt werden muss, nimmt jedoch ausdrücklich Bezug auf die Notwendigkeit entsprechender Daten. In Artikel 4 definiert sie die Bedingungen, unter denen klinische Prüfungen an Minderjährigen durchgeführt werden dürfen:

  • Die Eltern müssen nach Aufklärung ihre Einwilligung gegeben haben (informed consent), die sich am Willen des Kindes ausrichten muss.
  • Das Kind muss ebenfalls eine seiner Einsichtsfähigkeit entsprechende Aufklärung erhalten haben.
  • Der Wunsch eines Minderjährigen mit einer entsprechenden Urteilsfähigkeit, nicht an einer Prüfung teilzunehmen, muss berücksichtigt werden.
  • Es dürfen keine finanziellen Anreize für die Teilnahme an einer Studie gewährt werden.
  • Es muss ein direkter Nutzen für die Gruppe der Patienten, der das Kind angehört, zu erwarten sein. Die Versuche müssen notwendig sein, um Ergebnisse an Erwachsenen oder andere wissenschaftliche Befunde zu bestätigen. Die Ergebnisse dürfen sich nur durch klinische Versuche an Kindern gewinnen lassen.
  • Die Prüfung muss so geplant sein, dass sie mit möglichst wenig Schmerzen, Beschwerden, Angst und anderen vorhersehbaren Risiken verbunden ist.
  • Die Ethikkommission muss über pädiatrische Expertise verfügen.
  • Die Interessen der Patienten müssen stets über denen der Wissenschaft und der Gesellschaft stehen.

Die ICH-Leitlinie zu Studien an Kindern

Spezielle Grundsätze für die Arzneimittelforschung an Kindern sind auf internationaler Ebene in der Leitlinie "Clinical investigation of medicinal products in the pediatric population" (CPMP/ICH/2711/99) festgelegt (siehe Kasten) Abweichend von anderen Empfehlungen der International Conference on Harmonisation (ICH), die sich lediglich als technische Dokumente verstehen, soll diese ausdrücklich die klinische Prüfung an Kindern erleichtern und ihre Häufigkeit erhöhen. Je nachdem, bei welchen Krankheiten die Arzneimittel hauptsächlich eingesetzt werden, wird zwischen drei Gruppen von Studienplanungen unterschieden (siehe Tabelle).

Methodische Probleme in der pädiatrischen Forschung

Neben den ethischen und rechtlichen Problemen im Hinblick auf die elterliche und die kindliche Einwilligung bzw. Zustimmung zu der Teilnahme an einer klinischen Untersuchung sind Arzneimittelprüfungen an Kindern auch mit zahlreichen methodischen Problemen behaftet. Diese betreffen zum einen die Extrapolation von an Erwachsenen gesammelten Wirksamkeitsdaten auf Kinder wie auch deren Übertragbarkeit von älteren Kindern auf jüngere. Es müssen altersabhängige Endpunkte gefunden werden. Bei Langzeitstudien kann die Entwicklung die Aussagekraft der Endpunkte verändern, aber auch Dosisanpassungen erforderlich machen.

Probleme im Bereich der Sicherheit liegen darin, dass es keine altersspezifischen Normwerte gibt, dass die Leber- und Nierenreife die Verstoffwechselung und die Ausscheidung beeinflussen, dass die Funktionsfähigkeit der Blut-Hirn-Schranke noch nicht voll ausgeprägt ist und dass Organe und Nervensystem in den kindlichen Entwicklungsstadien unterschiedliche Empfindlichkeiten aufweisen. So sind unerwünschte Auswirkungen eines Arzneimittels auf das Wachstum und die Entwicklung nicht auszuschließen. Dem Studiendesign kommt vor diesem Hintergrund die besondere Aufgabe zu, mögliche Risiken zu antizipieren und Strukturen zu schaffen, mit denen unvorhersehbare Risiken möglichst rasch erkannt werden können.

Besondere Fragestellungen ergeben sich darüber hinaus im Hinblick auf die in klinischen Versuchen erforderlichen Vergleichsgruppen. Die Akzeptanz für Plazebo-Versuche ist niedrig, und die Standard-Therapie häufig außerhalb der zugelassenen Indikation. Es gibt keine allgemeine Dosisempfehlung und - wenn überhaupt - unterschiedliche Standards für die verschiedenen Altersgruppen.

Last, not least sollte die psychische Belastung für die Kinder so gering wie möglich gehalten werden. So sollte das Studienpersonal erfahren im Umgang mit Kindern sein, und die Umgebung sollte kindliche Bedürfnisse wie eine altersgerechte Ernährung, Elternbegleitung und Spielmöglichkeiten berücksichtigen.

Was tut die Bundesregierung?

Dank einer Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sollen nun im Rahmen einer Anschubfinanzierung bessere Voraussetzungen für Arzneimittelprüfungen an Kindern geschaffen werden. Ein Vorschlag der Pädiater geht dahin, eine eigene Stiftung zur Förderung der pädiatrischen Forschung mittels eines "Kinderpfennigs" pro verkaufte Arzneimittelpackung zu finanzieren. Eine weitere, ebenfalls von den Kinderärzten vorgebrachte Idee sieht die Einrichtung einer Stiftung zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei Kindern vor, deren Kapital in Höhe von 60 Millionen Mark zu gleichen Teilen von der Industrie, der öffentlichen Hand und den Krankenkassen aufgebracht werden soll. Darüber hinaus soll eine Expertenkommission die Arzneimittel und die Modalitäten erarbeiten, die nach dem Stand des Wissens für eine Anwendung bei Kindern in Betracht kommen. Die Industrie verspricht sich von der Arbeit der Kommission auch eine Verbesserung der Planungssicherheit für Zulassungsanträge in diesem Bereich.

Was tut der europäische "Gesetzgeber"?

Außerdem hat der Rat der EU-Gesundheitsminister am 14. Dezember 2000 eine Entschließung über Kinderarzneimittel angenommen (DOK 14275/00 Anhang I). Sie fordert die Kommission dazu auf, Vorschläge zu unterbreiten, damit Arzneimittel zur Verfügung stehen, die auf die Erfordernisse bei Kindern zugeschnitten sind, wobei den ethischen Aspekten klinischer Versuche an Kindern besonders Rechnung getragen werden soll. Die Europäische Kommission prüft derzeit, ob ein europäisches Rahmenwerk komplementär zu der amerikanischen Lösung (siehe Kasten) geschaffen werden sollte oder ob die Spezial-Regelung für Arzneimittel gegen seltene Krankheiten (Orphan-drugs-regulation) diesbezüglich größere Möglichkeiten bietet.

Kastentext: Leitlinie Clinical investigation of medicinal products in the pediatric population (CPMP/ICH/2711/99)

Die Leitlinie wurde im Rahmen der International Conference on Harmonisation (ICH) zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, den USA und Japan abgestimmt. Sie wird innerhalb der Europäischen Union seit dem Jahresbeginn 2001 angewendet. Ziel der Leitlinie ist es, die pädiatrische Arzneimittelforschung zu fördern und die Rahmenbedingungen hierfür zu umreißen. Sie befasst sich mit den Überlegungen vor Initiierung einer Studie an Kindern, mit der Zeitplanung, mit den Studientypen (Pharmakokinetik, Pharmakokinetik/Pharmakodynamik (PK/PD), Wirksamkeit, Unbedenklichkeit), mit den Alterskategorien sowie mit ethischen Aspekten. Die Leitlinie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wird ergänzt durch andere europäische und internationale Leitlinien sowie durch nationale Vorschriften und Vorgaben von Fachgesellschaften für Pädiatrie.

Kastentext: Wie fördern die USA Studien an Kindern?

In den USA kommen die pharmazeutischen Unternehmer in den Genuss einer verlängerten Marktexklusivität, wenn Arzneimittel auch an Kindern getestet werden. Verlangt die Zulassungsbehörde FDA bei Vorliegen eines Antrags für einen neuen oder auch für einen bekannten Stoff, dass der Antragsteller innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens Studien an Kindern durchführt, weil das Arzneimittel auch in der Behandlung von Kindern von Nutzen sein könnte, so wird die Marktexklusivität um ein halbes Jahr verlängert.

Daneben ist die FDA befugt, nach Hinzuziehung pädiatrischer Experten eine Liste bereits zugelassener Arzneimittel zu erstellen und zu veröffentlichen, um zusätzliche Studien und Informationen für die Anwendung bei Kindern zu provozieren. Die Liste ist keine ausdrückliche Aufforderung an die Hersteller, sondern basiert auf Freiwilligkeit und vermittelt auch keine Marktexklusivität. Pediatric rule 1998

Kastentext: Fakten zur Arzneimittelanwendung und -prüfung bei Kindern

  • In Europa leben 75 Millionen Menschen unter 16 Jahren.
  • 70% der Arzneimittel, die auf einer Neugeborenen-Intensivstation eingesetzt werden, sind dafür nicht untersucht.
  • Arzneimittelrisiken bei Kindern treten vorwiegend in den Bereichen ZNS und Kardiovaskuläres System auf.
  • Die häufig gehörte Aussage, an Kindern dürften keine klinischen Prüfungen durchgeführt werden, ist falsch.
  • Die meisten Schutzvorschriften im AMG wurden nach Arzneimittelzwischenfällen bei Kindern erlassen, direkt profitiert haben Kinder davon aber nicht.
  • Kinder können zwar keine rechtsgültige Einwilligung in die Teilnahme an einer klinischen Prüfung geben, Beispiele aus der Praxis zeigen aber, dass selbst Kinder im Grundschulalter durchaus in der Lage sein können, in solchen Fällen kompetente Entscheidungen zu treffen.
  • Kinder empfinden Stress, Schmerz und Angst in Situationen, die für Erwachsene nicht belastend sind.

Quelle: Nach Vorträgen von Dr. Susanne Becker, Langen; Prof. Dr. Alfred Hildebrandt, Bonn; Dr. Axel Sander, Frankfurt, und Dr. Dagmar Walluf-Blume, Frankfurt; bei einer Veranstaltung von Colloquium Pharmaceuticum "Klinische Prüfung an Kindern und Entwicklung eines 'Orphan Drug' Arzneimittels" am 5. Juli 2001 in Frankfurt/Main.

Die Anwendung von Arzneimitteln in der Pädiatrie ist bezüglich der kindgerechten Dosierung häufig nicht ausreichend abgesichert. In weiten Bereichen mangelt es an der notwendigen klinischen Forschung. In jüngster Zeit wurde allerdings sowohl auf europäischer Ebene wie auch national die Initiative ergriffen, um konkrete Maßnahmen zur Verbesserung dieser Situation einzuleiten. Hierbei spielen die neue europäische Richtlinie über die klinische Prüfung und die spezielle Leitlinie zur Arzneimittelprüfung an Kindern eine wichtige Rolle.

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